Roman Schwarzman: Müssen erneut die Barbarei in die Schranken weisen
Sieben Jahre war Roman Schwarzman alt, als er aus dem deutsch-rumänisch kontrollierten Ghetto Berschad in der Ukraine befreit wurde. 87 Jahre war er, als seine Wohnung in Odessa von einem Flugkörper zerstört wurde. Im Zeichen dieser beiden durch Jahrzehnte getrennten Kriegserfahrungen stand am Mittwoch, 29. Januar 2025, die Gedenkstunde des Bundestages für die Opfer des Nationalsozialismus.
Schwarzman, der in diesem Jahr eine von zwei Gedenkreden vor dem Parlament hielt, berichtete eindrücklich vom Terror seiner Kindheit, von einer Flucht unter Bombenbeschuss, vom mörderischen Rassenwahn der Nazis, der auch Familienangehörige das Leben kostete. Und er wandte sich vor diesem Hintergrund mit dem eindringlichen Appell an die Abgeordneten, sein Heimatland, die Ukraine, in ihrem heutigen Abwehrkampf gegen die russische Aggression weiter zu unterstützen. „Die Ukraine“, versprach er dem vollen Bundestagsplenum im Gegenzug, „wird alles tun, damit der Krieg nicht zu Euch kommt.“
Die Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus findet jährlich Ende Januar im Bundestag statt. Anlass ist die Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau durch die Rote Armee am 27. Januar 1945. Neben Schwarzman hielt auch Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier eine Gedenkrede. Darin versicherte er dem ukrainischen Gast, dass Deutschland weiterhin an der Seite der Ukraine stehe und das angegriffene Land unterstütze. Bundestagspräsidentin Bärbel Bas wandte sich zu Beginn der Gedenkstunde an das Parlament.
„Ich habe die endlosen Gräben voller Leichen gesehen“
„Ich erinnere mich immer noch an den Geschmack des Wassers, das die Besatzer nach dem Waschen des Fleisches weggeschüttet haben“, berichtete Schwarzman über seine frühe Kindheit im Ghetto. Unter Einsatz seines Lebens habe er sich als Fünfjähriger mehrmals dieses nach Fett schmeckende Abwasser von den Nazis erbettelt. Und vielleicht sei gerade dies das Elixier gewesen, das ihn, anders als anderthalb Millionen ukrainische Juden, überleben ließ, mutmaßte er.
Sichtlich bewegt berichtete der 88-Jährige von den „endlosen Gräben voller Leichen“, die er mit eigenen Augen gesehen habe. Und er dankte dem Bundestag dafür, gemeinsam „derjenigen gedenken zu können, die wir verloren haben“. Die Erinnerung an die Opfer des Holocausts zu bewahren, sei zu seiner Lebensaufgabe geworden, betonte Schwarzman, der auch Vorsitzender des regionalen Verbandes Odessa der ehemaligen Ghetto- und Konzentrationslagerhäftlinge ist. Seit Jahren setzt sich Schwarzmann in dieser Rolle für die Errichtung eines Denkmals in Odessa ein, das an die 25.000 Juden erinnert, die dort im Oktober 1941 von rumänischen Soldaten und deutschen Sondereinheiten in leerstehende Lagerhallen gepfercht und bei lebendigem Leib verbrannt wurden.
„Die Welt muss aufhören Angst zu haben“
Schwarzman zeigte sich in seiner Rede zuversichtlich, dass das Denkmal eines Tages fertig errichtet werde. Der russische Angriff auf die Stadt habe den Bau jedoch einstweilen unterbrochen. Odessa leide derzeit stark unter dem russischen Terror, berichtete er. Damals hätte Hitler versucht, ihn zu töten, weil er Jude ist. Heute versuche es Putin, weil er Ukrainer ist, so Schwarzman.
Die Ukraine dürfe von der russischen Übermacht auf keinen Fall in die Knie gezwungen werden. Dafür müsse sie mit Flugzeugen, Langstreckenflugkörpern und Flugabwehrsystemen ausgestattet werden, mahnte er. „Heute müssen wir erneut alles daransetzen, die Barbarei in die Schranken zu weisen. Dies ist der einzige Weg zum Frieden und gegenseitigem Verständnis.“ Dazu aber, so Schwarzman bestimmt, müsse die Welt aufhören, Angst zu haben. Seine Rede schloss er auf Jiddisch mit den Worten: „Die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus muss für uns ein Leitgedanke sein und uns dazu verpflichten, eine Zukunft aufzubauen, in der Menschlichkeit und Gerechtigkeit keine leeren Worte sind.“
Steinmeier: Nehmt die Feinde der Demokratie ernst
Wie Schwarzman mahnte auch Bundespräsident Steinmeier in seiner Gedenkrede zu Geschlossenheit, wenn es darum gehe, gegen das Vergessen zu arbeiten. Dies sei eine Aufgabe, „an der wir nicht scheitern dürfen“, so das Staatsoberhaupt. Mit Blick auf den 80. Jahrestag der Auschwitz-Befreiung zeigte sich Steinmeier jedoch hörbar alarmiert: „Wir werden immer weniger die Gelegenheit haben, den Zeitzeugen zuzuhören. Wir werden besonders für die jungen Menschen neue Formen des Erinnerns finden müssen.“
Dass Gedenkstätten heute aus politischen Gründen angegriffen und geschändet würden, bezeichnete Steinmeier als Schande. Solche Angriffe zielten auf Einschüchterung, auf Zerstörung und am Ende auf eine Diskreditierung der Erinnerung ab, sagte er. „Das dürfen wir nicht hinnehmen“, fügte er betont hinzu. Die Shoah sei ein Teil der deutschen Geschichte, bekräftigte er, „sie ist, ob wir wollen oder nicht, Teil unserer Identität“. Wer den Holocaust verharmlose oder vergesse, der erschüttere damit das Fundament, „auf dem unsere Demokratie gewachsen ist“, sagte er und zitierte den Holocaust-Überlebenden Leon Weintraub, der sich vor zwei Tagen an die Gäste der zentralen Gedenkfeier in Auschwitz mit den Worten wand: „Nehmt die Feinde der Demokratie ernst.“ Steinmeier unterstrich die Bedeutung, die dieses Zitat für ihn hat, indem er es langsam und Wort für Wort vor dem Plenum ein zweites Mal wiederholte.
Bas: Hinsehen, Zuhören, Nachfühlen
Auch Bundestagspräsidentin Bas hob in ihrer Begrüßungsansprache auf die historische Verantwortung ab, die aus den Gräueltaten der Nazis erwachse. Einige Menschen in Deutschland wollten vom Holocaust nichts mehr wissen, sagte sie. „Deshalb dürfen wir nicht aufhören, hinzusehen, zuzuhören, nachzufühlen“, fügte sie hinzu. Das Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023 zeige, dass der Antisemitismus weltweit um sich greife. Und auch hierzulande würden Jüdinnen und Juden offen bedroht werden. „Wir müssen ehrlich mit uns sein. Viele Jüdinnen und Juden fühlen sich nicht sicher in Deutschland“, so die Bundestagspräsidentin selbstkritisch. „Im Kampf gegen Antisemitismus erleben wir enttäuschende Rückschritte. Und das schmerzt.“
Bas erinnerte an eine im vergangenen Jahr im Bundestag mit breiter Mehrheit verabschiedete Resolution zum Schutz jüdischen Lebens in Deutschland. Diese gelte es nun mit Leben zu füllen, mahnte sie. Der fraktionsübergreifende Antrag, der im November 2024 verabschiedet wurde, beschreibt die Bekämpfung von Antisemitismus als gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Mitmenschlichkeit zu leben, so Bas entsprechend, sei deshalb keine Aufgabe, die man einfach delegieren könne, etwa an die Politik. Vielmehr solle sich jede und jeder immer wieder fragen: „Was bin ich bereit, für das ‚Nie wieder‘ zu tun?“
Umrahmt wurde die Gedenkstunde mit Musik von Gideon Klein (1919-1945), Felicitas Kukuck (1914-2001) und Hans Gál (1890-1987). Alle drei Komponisten wurden im Dritten Reich selbst aufgrund ihrer jüdischen Abstammung verfolgt. Klein hat den Holocaust nicht überlebt und starb am 27. Januar 1945 – nur Stunden vor der Befreiung von Auschwitz-Birkenau. Intoniert wurden die Stücke von Studentinnen und Studenten der Universität der Künste Berlin. (ste/29.01.2025)