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Rede von Roman Schwarzmann bei der Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus

[Es gilt das gesprochene Wort]

Frau Präsidentin des Bundestages, 
Herr Bundespräsident, 
Herr Bundeskanzler, 
sehr geehrte Parlamentsmitglieder, liebe Gäste.
 

Lassen Sie mich zu Beginn meinen aufrichtigen Dank dafür aussprechen, dass ich heute die Gelegenheit habe, hier vor Ihnen das Wort zu ergreifen.
Ich stehe heute vor Ihnen als Person, die eine der grausamsten Seiten der Menschheitsgeschichte durchlebt hat. 
Meine persönliche Geschichte ist eine Geschichte des Überlebens, des Kampfes und der Hoffnung. 

Meine Geschichte ist die Geschichte von Millionen von Menschen, die ihre eigene Geschichte nicht mehr erzählen können.
Ich wurde am 10. September 1936 im ukrainischen Dorf Bershad‘ geboren.
Wir waren neun Kinder zu Hause.

Wir lebten in großer Armut und Enge - eine große Familie in zwei Räumen einer winzigen Behausung mit Boden und Wänden aus Lehm. Dort befanden sich nur zwei Betten, auf denen jeweils vier Personen schliefen. Aber wir lebten.
Zu Hause sprachen wir nur Jiddisch. Ich beherrsche diese Sprache auch heute noch sehr gut. 
In der Schule sprachen wir nur Ukrainisch.
In unserem Dorf war das Judentum vertreten, ungefähr die Hälfte der Einwohner waren Juden.
Wir wussten davon, aber wir haben nicht viel darüber gesprochen.
Nach dem Krieg, als wir älter wurden, gaben die sowjetischen Behörden uns zu verstehen, dass wir Juden vieles nicht durften. So durften wir zum Beispiel keine Universität besuchen.
Die Juden haben immer versucht, ihrer Religion treu zu bleiben.
Selbst wenn sie sich in anderen Gesellschaften assimilierten, bewahrten sie die jüdischen Werte.
Mein Vater wurde 1936 Kommunist.
Mein Bruder Lazar‘ und ich wurden nicht beschnitten, im Gegensatz zu meinen vier Brüdern, die vor 1936 geboren wurden. 
In unserem Dorf gab es keinen Rabbiner. Religion war verboten.
Die sowjetischen Behörden unterdrückten nicht nur die jüdische, sondern auch die orthodoxe Religion, vernichteten Synagogen und Kirchen.
Meine Mutter pflegte die jüdische Tradition auf ihre eigene Weise.
Sie prahlte nicht damit.
Sie tat es für sich.
In unserem Dorf gab es viele ältere Juden, die im Ersten Weltkrieg gekämpft hatten.
Sie sagten: Wir brauchen nirgendwo hinzugehen, die Deutschen sind anständige und kultivierte Menschen.
Sie konnten sich nicht vorstellen, was uns erwartete.

Als mein Vater und mein älterer Bruder in die Rote Armee eingezogen wurden - das war am 23. Juni 1941 -, wies er meine Mutter an, uns an einen sicheren Ort zu bringen, da Hitlers Feindseligkeit gegenüber den Juden bereits bekannt war.
Unsere Flucht dauerte nicht lange.
Es waren schreckliche zwei Wochen, in denen wir mit einem von Pferden gezogenen Wagen ins Nirgendwo fuhren, während wir bombardiert wurden.

Ich erinnere mich an die Maisfelder, durch die wir vor Soldaten mit Maschinengewehren flohen, und an Hunderte, Tausende Leichen von Zivilisten, die auf dem Boden liegenblieben, als wir weitergingen, um zu überleben.

Dann kamen die Panzer der Nazis. 
Für uns gab es keinen anderen Ausweg, als in unser Dorf zurückzukehren.
Anschließend verbrachten wir zweieinhalb Jahre im Ghetto hinter einem Stacheldraht.
Zweieinhalb Jahre voller Erniedrigung, Schmerzen, Läuse und... mit ständigem Hunger.

Über 80 Jahre sind vergangen, aber ich erinnere mich immer noch an den Geschmack des Wassers, das die Besatzer nach dem Waschen des Fleisches weggeschüttet haben. 

Für sie war es Abwasser, und wir, fünf- bis sechsjährige Kinder, schlüpften durch den Stacheldraht und riskierten unser Leben, um uns dieses köstlich schmeckende Wasser mit dem Fett darin zu erbetteln. Vielleicht war es gerade dieses Wasser, dank dem wir überlebt haben.

Von uns Kindern hatten sieben überlebt - vier Brüder und drei Schwestern.

Als wir nur noch auf dem Boden lagen und aufgrund einer schweren Form der Dystrophie nicht mehr aufstehen konnten, wurden wir im Frühjahr 1944 gerettet.

In der Ukraine gab es ungefähr 2000 Orte, an denen über anderthalb Millionen Juden von der SS und der Wehrmacht erschossen, zu Tode geprügelt oder eigenhändig verbrannt wurden, bevor Auschwitz und andere Todesfabriken ihre Vernichtungsarbeit aufnahmen.

Historikern zufolge wurden allein in meiner Heimatstadt Bershad‘ über 25 000 Kinder, Frauen und ältere Menschen aus der Region Vinnytsya, aus Bessarabien und der Bukowina bestattet.

Ich habe diese endlosen Gräben voller Leichen mit meinen eigenen Augen gesehen.
Ich habe dort meinen 14-jährigen Bruder Yosyp begraben, der im Winter ausrutschte und in den Fluss fiel, während er Zwangsarbeit verrichtete.
Doch für die Deutschen war es ein Fluchtversuch und sie erschossen ihn direkt im eisigen Wasser.
Und dann gaben sie unserer vor Kummer leidenden Mutter, die an der Front bereits ihren älteren Sohn verloren hatte, mehrere Tage nicht die Möglichkeit, meinen Bruder zu beerdigen.

Liebe Freunde!
Ich war viele Male mit dem Tod konfrontiert, aber ich habe auch Momente der Güte und Solidarität im Ghetto erlebt.
Diese Momente haben uns geholfen, standzuhalten und den Glauben nicht zu verlieren. Und zu überleben! 
Zu überleben, um der Welt vom Holocaust, vom Faschismus, von Folter und von anderen Schrecken des Krieges zu berichten.
Leider haben die meisten von ihnen die Stunde der Rettung nicht mehr erlebt.
Die Erinnerung an die Opfer des Holocaust zu bewahren, wurde zu meiner Lebensaufgabe.
Ich danke dem Deutschen Bundestag, dass wir hier zusammenkommen und derjenigen gedenken können, die wir verloren haben.
Für mich ist es auch wichtig, ein würdiges Denkmal in meiner Heimatstadt Odessa zu errichten.
An jenem Ort, an dem 25 000 Einwohner von Odessa lebendig verbrannt wurden, nur weil sie Juden waren.

Denn in der Nacht vom 22. auf den 23. Oktober 1941 wurden Juden (alte Menschen, Frauen, Kinder und Jugendliche) in neun leerstehende Lagerhallen getrieben, in denen vor dem Krieg Munition gelagert wurde. Die Gebäude wurden mit einem leicht brennbaren Gemisch übergossen und in Brand gesetzt.
Wie mir die Zeugen dieses schrecklichen Ereignisses berichteten, waren überall in der Umgebung Schmerzensschreie zu hören.
Die Mütter versuchten, ihre Kinder zu retten, indem sie sie aus kleinen Fenstern unter dem Dach herunterwarfen.
Und die Handlanger der Nazis töteten währenddessen um die Wette...
Es fällt mir schwer, darüber zu sprechen.
Seitdem an diesem Ort des Schreckens mit Unterstützung unserer deutschen Freunde der Bau eines Denkmals geplant ist, bin ich davon überzeugt, dass die Menschen, die in der Hölle des Krieges umgekommen sind, für immer in den Herzen der zukünftigen Generationen bleiben werden.
Der Bau des Denkmals wurde durch den aggressiven russischen Krieg unterbrochen. Aber ich bin mir sicher, dass dieses Projekt zu Ende geführt wird.
Seitdem am 24. Februar 2022 Russland unsere Zivilbevölkerung, unsere Städte und unser Energiesystem angegriffen hat, ist unser Leben und unsere Freiheit wieder in Gefahr.
Putin versucht, uns als Nation zu vernichten.So wie Hitler versucht hat, das jüdische Volk im Zweiten Weltkrieg zu vernichten.
Damals wollte mich Hitler töten, weil ich Jude bin.
Jetzt versucht Putin, mich zu töten, weil ich Ukrainer bin. 
Am 29. Dezember 2023 wurde unser Haus von einem Flugkörper getroffen.
Auf wundersame Weise konnte ich mich und meine Frau retten. Wir waren in den Keller geflüchtet.
Als wir in den zehnten Stock, in unsere Wohnung zurückkehrten, erkannten wir sie nicht wieder. Alles war zerstört.

Odessa, meine Heimatstadt, leidet derzeit stark unter dem russischen Terror. Ich sehe erneut Zerstörung und Leid, ich sehe die Gesichter der ukrainischen Verteidiger, die aus russischer Kriegsgefangenschaft zurückkehren. 

Ihre Geschichten über die Folter durch russische Besatzer verursachen bei mir Phantomschmerzen.
Ich war im Ghetto.
Ich habe den Teufel gesehen.
Und ich sage: Wir überschätzen ihn sehr! Seine Kraft ist nicht größer als die, die wir ihm geben.

Sehr geehrte Damen und Herren,
Ich möchte Deutschland für seine Unterstützung, wozu auch die Lieferung militärischer Ausrüstung zählt, danken. Die Ukraine darf von der russischen Übermacht auf keinen Fall in die Knie gezwungen werden.
Es kann keinen Frieden geben ohne Freiheit und Gerechtigkeit.
Wer glaubt, dass Putin sich mit der Ukraine zufriedengeben wird, täuscht sich.
Die Ukraine braucht Flugabwehr. Odessa braucht Flugabwehr, um Menschen und Häfen zu schützen.
Wir brauchen Flugzeuge, um die Überlegenheit in der Luft zu erlangen.
Wir brauchen mehr Langstreckenflugkörper, um die russischen Flugplätze und Flugkörperdepots, von denen aus wir täglich angegriffen werden, zu zerstören.
Wir brauchen Ihre Unterstützung, um die Menschen in den besetzten Gebieten zu befreien.
Die Welt muss aufhören, Angst zu haben!
Die Ukraine wird alles tun, damit der Krieg nicht zu Euch kommt!

Liebe Freunde!
Unsere historische und moralische Pflicht besteht darin, dafür zu sorgen, dass niemand leiden muss oder gefoltert wird.
Heute möchte ich Sie an diesem historischen Ort bitten, weiter für die Ukraine und meine Heimatstadt Odessa zu kämpfen.
Heute müssen wir erneut alles daransetzen, die Barbarei in die Schranken zu weisen.
Dies ist der einzige Weg zu Frieden und gegenseitigem Verständnis.
Ich flehe Sie an, uns zu bewaffnen, damit Putin diesen Vernichtungskrieg beendet. Einmal bin ich der Vernichtung entgangen. Jetzt bin ich schon alt, aber ich muss mit der Angst leben, dass meine Kinder und die Kinder meiner Kinder Opfer eines Vernichtungskriegs werden.
Die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus muss für uns ein Leitgedanke sein und uns dazu verpflichten, eine Zukunft aufzubauen, in der Menschlichkeit und Gerechtigkeit keine leeren Worte sind.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!