Baum: Wir müssen den Parlamentarismus bewahren
Der frühere FDP-Bundestagsabgeordnete und Bundesinnenminister Dr. h. c. Gerhart Rudolf Baum hat dazu aufgerufen, den Parlamentarismus zu bewahren. Er kenne „keinen Ersatz für die repräsentative Demokratie“, sagte Baum als Festredner in der Feierstunde des Deutschen Bundestages zum 75. Jahrestag der ersten Bundestagssitzung am 7. September 1949. Zugleich sei es erforderlich, dass „wir die Gefahren frühzeitig erkennen, um sie bekämpfen zu können“. Er äußerte die „berechtigte Hoffnung, dass unsere Gesellschaft die Kraft hat, den Aufbruch in eine neue Zukunft zu schaffen“.
„Beeindruckende Erinnerungskultur“
Baum, 1932 in Dresden geboren, war 16 Jahre alt, als das Grundgesetz in Kraft trat. Seine Freunde und er hätten sich angesichts der von Deutschen begangenen Menschheitsverbrechen geschworen, dass „so etwas nie wieder geschehen sollte“. Zu wissen, was geschehen ist und wer im Einzelnen Verantwortung trug, sei bis heute mit einer „beeindruckenden Erinnerungskultur“ geschafft worden: „Lassen wir nicht zu, dass sie wieder infrage gestellt wird. Sie hat unserer Demokratie gut getan.“
Baum sprach auch Bedrohungen an und spürte den Ursachen für den Vertrauensverlust der Parteien und der Sehnsucht nach „einfachen Lösungen“ nach. Eine Ursache sieht er in den Ängsten der Menschen, oft einer „diffusen Angst vor dem Unbekannten“. Auch das Internet sei ein Faktor. „Raus aus den Internetblasen“, lautete seine Aufforderung. Parteien könne man auch verändern, man könne sie bewegen. Brandbeschleuniger ist für Baum seit Jahrzehnten das Thema Migration. Ein Zurück gebe es jedoch nicht mehr, mit dem „Wahn einer ethnisch reinen Nation“ müsse Schluss sein.
Strategie zum Umgang mit Unsicherheiten
Baums Schlussfolgerung: „Wir brauchen eine Strategie, die mit den genannten Unsicherheiten umzugehen weiß.“ Er vermisst nach eigener Aussage den „Wärmestrom zwischen den Regierenden und den Regierten“. Politik sollte das Bedürfnis der Menschen ernster nehmen, sich der Verzweiflung, der Einsamkeit in der Gesellschaft mehr widmen und „mehr Mitgefühl zeigen“.
Darüber hinaus rief er dazu auf, die Menschenrechtsverteidiger weltweit zu unterstützen. Er sehe den Druck autoritärer Kräfte weltweit, sagte Baum. Es seien keine regionalen Auseinandersetzungen, sondern der Kampf um eine neue Weltordnung, „die sich nicht mehr an den Menschenrechten orientiert“.
Ein weiteres Augenmerk richtete Baum auf die Rolle von Kunst und Kultur in der Krise. Es sei ein „wunderbarer Fortschritt“, dass sich der Bundestag mit Kulturförderung auf Bundesebene befasse.
„Simulierte Demokratie ist keine Demokratie“
Die 1976 in der DDR geborene Historikerin Prof. Dr. Christina Morina machte in ihrer Festrede die Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit der deutschen Parlamentarismusgeschichte an zwei Erinnerungen fest: der DDR-Volkskammer als Scheinparlament mit verlogener Inszenierung und der Debatte über die Verbrechen der Wehrmacht und die Verantwortung der deutschen Soldaten im Zweiten Weltkrieg am 13. März 1997 im Bundestag – aus ihrer Sicht eine „Sternstunde der deutschen Parlamentsgeschichte“.
Dass selbst autoritäre Regime mit großem Aufwand „Volksvertretungen“ simulieren, zeige, wie fragil diese Regime sind und dass Gewalt allein auf Dauer keinen Staat mache, sagte Morina. Die Idee der Demokratie lasse sich nicht korrumpieren, simulierte Demokratie sei keine Demokratie. Auch würden in einem demokratisch legitimierten Parlament stets auch die moralischen Grundlagen einer Gesellschaft verhandelt, in Deutschland die Auseinandersetzung mit den Ursachen und Konsequenzen historischen Unrechts.
„Unverhohlener Antiparlamentarismus“
Morina diagnostizierte die „relativ schwache Zustimmung“ zu traditionellen Parteien und den steigenden Einfluss rechts- wie linkspopulistischer und völkisch-nationalistischer Bewegungen als derzeit prägendsten Aspekt in der Parlamentarismusgeschichte. Diese Bewegungen verbinde ein „unverhohlener Antiparlamentarismus“. Populistische und nationalistische Parteien träten an, um „im Namen des sogenannten ,Volkes‘ alle anderen Parteien nicht in die Opposition, sondern gänzlich aus der politischen Landschaft zu verdrängen“ und die demokratische Ordnung und ihre Parlamente zu entmachten.
Ursachen für die wachsende Zustimmung zu Forderungen solcher Parteien in Ostdeutschland sieht Morina im Nachwirken des vermeintlich „volksdemokratischen“ Erbes der SED-Diktatur und in basis- und direktdemokratischen Vorstellungen, die 1989 zum Sturz dieser Diktatur geführt hätten. Plebiszitäre Demokratieideen seien bis heute in Ostdeutschland stärker verankert als anderswo. Die repräsentative Demokratie habe es dort deutlich schwerer. Dennoch wähle die Mehrheit keine populistischen oder extremistischen Parteien.
Parlamente als Rückgrat der liberalen Demokratie
Morina forderte, sich aus der „Logik des Populismus und Antiparlamentarismus“ zu befreien. Dieser Logik verfalle, wer die Migration zur „Mutter aller Probleme“ erkläre und „Bürgernähe“ zum Maß aller Politik stilisiere. Dieser Logik und Sprache gelte es, die Stärken des Parlamentarismus und der Parteiendemokratie selbstbewusster entgegenzuhalten. Dafür brauche es intellektuelle Energie, demokratiepolitische Fantasie und pragmatischen Einsatz, nicht nur in den Parteien.
Es lohne sich, so die Historikerin, nicht nur aus bundes- oder westdeutscher Demokratietradition zu schöpfen, sondern auch aus der ostdeutschen Demokratiegeschichte mit ihren positiven Aufbrüchen Richtung Freiheit und „echter demokratischer Teilhabe“. Für die liberale Demokratie, deren Rückgrat die Parlamente seien, müsse immer wieder neu geworben werden, „mit Zuversicht und aus voller Überzeugung“.
Langer Prozess gesellschaftlicher Demokratisierung
Bundestagspräsidentin Bärbel Bas hatte eingangs zur Feierstunde neben Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundeskanzler Olaf Scholz, Bundesratspräsidentin Manuela Schwesig und Bundesverfassungsgerichtspräsident Prof. Dr. Stephan Harbarth auch den früheren Bundespräsidenten Christian Wulff und ihre Amtsvorgängerinnen und Amtsvorgänger Prof. Dr. Rita Süssmuth, Dr. h. c. Wolfgang Thierse und Prof. Dr. Norbert Lammert.
Bas richtete den Blick zurück auf jenen 7. September 1949 in Bonn: „Es herrschte Feierstunde in einem Land, das ansonsten vor allem Not kannte.“ Die vielleicht größte Leistung der ersten Bundestagsabgeordneten sei gewesen, die Handlungsfähigkeit der parlamentarischen Demokratie unter Beweis zu stellen. „Wir feiern heute auch den langen Prozess der Demokratisierung unserer Gesellschaft“, fügte sie hinzu. Deutschland sei ein liberales, weltoffenes und vielfältigeres Land geworden, auch dank der Zuwanderung seit den fünfziger Jahren.
35 Jahre Friedliche Revolution
Die Bundestagspräsidentin erinnerte auch an die Friedliche Revolution vor 35 Jahren und würdigte die Leistung der einzigen frei gewählten Volkskammer im Jahr 1990. Mit ihr hätten die Ostdeutschen der Demokratie in ganz Deutschland einen großen Dienst erwiesen. Die Offenheit der Demokratie mache sie auch verwundbar. Der Bundestag habe in 75 Jahren aber immer wieder bewiesen, dass er trotz harter Kontroversen Krisen bewältigen kann. Die Demokratie sei stark und wehrhaft gegenüber allen, „die ihr schaden wollen“.
Die Politik sei gefordert, den Zweifeln an der Demokratie zu begegnen, indem die „konkreten Alltagsprobleme der Menschen“ angegangen werden. Bas empfahl, das Engagement der Menschen als „wichtige Kraftquelle für unsere Demokratie“ zu nutzen. Abschließend rief sie dazu auf, sich die Notwendigkeit des Kompromisses für „gute und tragfähige Lösungen“ im Interesse der Menschen wieder öfter bewusst zu machen.
Erinnerung an Paul Löbes Eröffnungsrede
Zum Auftakt der Feierstunde wurde das Film-/Tondokument der Eröffnung der ersten Bundestagssitzung durch den Alterspräsidenten, den Berliner SPD-Abgeordneten und früheren Reichstagspräsidenten Paul Löbe (1875 bis 1967), eingespielt. Eine weitere Filmeinspielung dokumentierte markante Ereignisse aus 75 Jahren Parlamentsgeschichte.
Den musikalischen Rahmen setzte das Streichquartett der Musikhochschule Hanns Eisler Berlin mit dem ersten Satz Allegro aus dem Streichquartett Nr. 2 in G-Dur opus 18,2 von Ludwig van Beethoven (1770 bis 1827. Den Abschluss bildete die Nationalhymne, vorgetragen vom Blechbläserquartett der Universität der Künste Berlin. (vom/10.09.2024)