Grundgesetz-Feier im Naturkundemuseum: Ein Provisorium wird zur Erfolgsgeschichte
Es mutet ein wenig kurios an, wie sie so dasitzen, die höchsten Repräsentantinnen und Repräsentanten der Bundesrepublik. Mit feinen Anzügen und schicken Kostümen, andächtig einem Streichquartett von Beethoven lauschend. Während um sie herum ausgestopfte Giraffen ihre Hälse recken und ein präpariertes Zebra aus einer künstlichen Wasserstelle schlürft. Ein Festakt mit den Spitzen von Staat und Politik – inmitten einer nachgebauten Savanne.
Die Kulisse mag auf den ersten Blick verwundern, und doch könnte sie nicht passender sein. Denn der Ort, an dem sich die etwas mehr als 60 Feiergäste an diesem Freitag, 1. September 2023, versammelt haben, atmet Parlamentsgeschichte. Man könnte sogar sagen: Der Lichthof im Museum Koenig in Bonn gehört zu den Geburtsorten der Bundesrepublik. Hier kam vor 75 Jahren der Parlamentarische Rat zu seiner Eröffnungsfeier zusammen. Also jenes Gremium, das die Grundlage unserer demokratischen Ordnung erarbeitete: das Grundgesetz.
Erfolgsgeschichte eines Provisoriums
Seinen Müttern und Vätern, wie die vier Frauen und 61 Männer des Parlamentarischen Rates auch genannt werden, ihrem Wirken für die Demokratie soll an diesem Tag gedacht werden. Schließlich bilde das Grundgesetz bis heute „das verfassungsrechtliche Fundament für die politische Stabilität der Bundesrepublik“, sagt Bundestagspräsidentin Bärbel Bas. Und das, obgleich es ursprünglich nur als Übergangslösung bis zur Wiedervereinigung dienen sollte. „Aus dem Provisorium Grundgesetz ist eine Erfolgsgeschichte geworden.“
Ein Werdegang, der hier, in Bonn, seinen Anfang nahm. Keine Viertelstunde zu Fuß vom Museum Koenig entfernt, in der Pädagogischen Akademie, begann gleich nach der Eröffnungsfeier die eigentliche Arbeit des Parlamentarischen Rates: Im Auftrag der Westmächte sollten die Delegierten der Landesparlamente der drei westlichen Besatzungszonen auf Grundlage des Verfassungskonvents von Herrenchiemsee eine Verfassung für den westdeutschen Staat ausarbeiten. Neun Monate lang rangen sie um die Ausgestaltung, stritten über die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern oder die Gleichberechtigung von Mann und Frau.
Sie zogen „die Lehren aus dem dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte“, so Bas und schufen „eine moderne sowie für künftige Entwicklungen offene Verfassung“. Eine, die sich bewährt habe. Trotzdem warnt die Bundestagspräsidentin davor, die freiheitliche Demokratie als Selbstverständlichkeit zu betrachten. Das Grundgesetz allein könne sie nicht gegen die Erosion ihrer Werte schützen. „Das können nur wir selbst.“
Ein demokratischer Neuanfang
Die Stühle im Lichthof des Museums sind an diesem Freitag prominent besetzt. Bundeskanzler Olaf Scholz ist angereist ebenso wie Bundesratspräsident Dr. Peter Tschentscher, der Präsident des Bundesverfassungsgerichts Dr. Stephan Harbarth und die Bonner Oberbürgermeisterin Katja Dörner, Abgeordnete aller Bundestagsfraktionen, Ehrengäste – und sogar eine Zeitzeugin, wie Bas zu Beginn ihrer Rede bemerkt. Sie deutet auf die Giraffe schräg hinter ihr.
Damals wie heute präsentierte das Museum im Lichthof den Nachbau einer afrikanischen Savanne. Zwar schob man die Tiere für den Festakt beiseite. Die Giraffe aber, zu groß, um aus der Halle geschafft zu werden, blieb stehen, wenn auch verhüllt. Und so ist sie, die später als Bundesgiraffe berühmt wurde, dabei, als mit der Eröffnungsfeier des Parlamentarischen Rates im September 1948 die Weichen gestellt werden für den demokratischen Neuanfang in Westdeutschland.
„Alles steht und fällt mit uns“
Es ist ein Aufbruch, dem einige zunächst jedoch nur zuschauen können, wie der frühere Bundespräsident Joachim Gauck in seiner Festrede schildert: „Während die westlichen Alliierten schnell einen Raum demokratischer Möglichkeiten schufen, unterwarf der totalitäre Herrscher aus Moskau die Ostdeutschen einem System nach kommunistischem Vorbild.“
Der Parlamentarische Rat aber habe nicht nur den Westen im Blick gehabt: Seine Mitglieder „hielten explizit fest am Ziel der deutschen Einheit und wollten vorbereitet sein für den Tag einer Wiedervereinigung“. Entstanden sei schließlich ein Dokument, das die normativen Grundlagen nicht nur für die westdeutsche Bundesrepublik geschaffen habe, sondern selbst für das wiedervereinigte Deutschland nach 1990. Ein Dokument, das sich als „eine stabile Grundlage für das Zusammenleben unseres Volkes“ erwiesen und das Individuum, seine Würde und seine Rechte an die erste Stelle gerückt habe.
Allerdings sei der Verfassungstext das eine, mahnt Gauck. Das andere sei seine Umsetzung. Die Demokratie brauche Menschen, die den Staat nicht nur als „Fürsorgeinstitution“ begriffen, sondern „sich selbst zum Mitgestalter des Gemeinwesens“ erklärten. „Alles steht und fällt mit uns.“
„Die Freiheit, ich zu sein!“
Und so mischen sich an diesem Tag unter die zahlreichen Glückwünsche an das Geburtstagskind, unter die Danksagungen an seine Mütter und Väter immer wieder auch kritisch-anspornende Töne. Wie jene von Bundeskanzler Olaf Scholz, der am Rande der Veranstaltung zur Verteidigung „dieser besten Demokratie, die wir je hatten“ aufrief. Ein Thema, das auch den 18-jährigen Gregor Bigalke umtreibt. Der Schüler war Teil des Jugendworkshops „Die Freiheit, ich zu sein! Was das Grundgesetz mit mir zu tun hat“, zu dem der Bundestag zusammen mit dem Bundesrat und dem Haus der Geschichte eingeladen hatte.
Den gesamten Vortag über hatten sich Schülerinnen und Schüler aus Potsdam und Euskirchen künstlerisch mit der Verfassung auseinandergesetzt. Sie hatten gezeichnet, getextet, gefilmt. Hatten Briefe geschrieben und Collagen aus Bildern der Fotografin Erna Werner-Jenke gebastelt, deren etwa 4.000 Aufnahmen die Arbeit des Parlamentarischen Rates dokumentieren.
„Liebes Grundgesetz…“
Donnerstagmittag, Haus der Geschichte. „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“, klebt in ausgeschnittenen Zeitungsbuchstaben quer über einem der Plakate, die neben Bastelkleber, Fotoschnipseln und Süßigkeiten auf den Arbeitstischen liegen. „So viele Jahre wurden Frauen unterdrückt“, sagt Lara Khalil (15). Dass die Gleichberechtigung der Geschlechter dann dank Ratsmitglied Dr. Elisabeth Selbert in der Verfassung verankert wurde, sei „eine starke Leistung“ gewesen.
Und auch in der zweiten Workshop-Gruppe geht es um die ganz großen Themen, um Werte wie Menschenwürde und individuelle Freiheit. Statt mit Fotografien und Farbe wird hier allerdings mit Worten hantiert. Die Aufgabe: ein Brief an das Grundgesetz. 19 Sätze stellvertretend für die 19 Grundrechte. „Liebes Grundgesetz…“, beginnen die Texte. „Schön, dass du so lange durchgehalten hast“, steht auf Gregors Blatt weiter. Trotzdem sieht der Schüler Optimierungsbedarf: Das Grundgesetz müsse sich an veränderte gesellschaftliche Normen und Werte anpassen.
Donnerstagabend, Pädagogische Akademie. Der 18-Jährige steht am Mikrofon und schaut auf den Text in seiner Hand. An der Wand hinter ihm prangt der Bundesadler über den 16 Länderwappen. Im historischen Bonner Plenarsaal präsentieren die Jugendlichen, woran sie den Tag über gearbeitet haben. Sie diskutieren mit Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau (Die Linke) und dem Historiker Prof. Dr. Harald Biermann über Politikverdrossenheit und die Bedeutung von politischer Bildung. Und tauschen sich mit Bundesratspräsident Tschentscher über die Zukunft des Grundgesetzes aus. Immer mit dabei ein kleines Schülerinnen-Filmteam, das den Workshop mit der Kamera begleitet.
Die Jugendlichen kommen den Spitzen der Bundesrepublik in diesen zwei Tagen so nah wie wohl nie zuvor. „Solche Bürgerdialoge sind extrem wichtig“, sagt Bigalke am Freitagnachmittag. Eben noch hatte er sich mit Bärbel Bas und Joachim Gauck über den Schutz der Demokratie ausgetauscht. Jetzt stehen er und die anderen Schülerinnen und Schüler beim Abschlussempfang zwischen den Gästen, essen Häppchen und machen Selfies mit dem Kanzler.
Es ist der letzte Programmpunkt an diesem Tag. Und doch erst der Auftakt für ein besonderes Jubiläum: die Bundesrepublik wird im kommenden Jahr 75 – und das Parlament feiert mit. (irs/02.09.2023)