01.09.2023 | Parlament

Begrüßungsansprache von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas bei der Feierstunde zum 75. Jahrestag der Eröffnung des Parlamentarischen Rates im Museum Koenig Bonn

[Es gilt das gesprochene Wort.]


Sehr geehrter, lieber Herr Gauck,
Herr Bundeskanzler,
Herr Bundesratspräsident,
Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichts,

Herr Ministerpräsident Wüst,
liebe Kolleginnen und Kollegen der Landtage und des Deutschen Bundestages,
sehr geehrte Frau Oberbürgermeisterin,
sehr geehrte Verantwortliche des Leibniz-Instituts und des Museum Koenig Bonn,
sehr geehrte Damen und Herren!
Ich freue mich über die einzige Zeitzeugin, die heute hier ist.

Sie hat sich kein Stück verändert

– im Gegensatz zum Grundgesetz.  

Sie schaut uns von ihrer hohen Warte über die Schulter.

Wie damals, als sie (obschon verhüllt) Zeugin der Eröffnung des Parlamentarischen Rates war.

Und als „Bundes-Giraffe“ bekannt wurde.

Der heutige Festakt ist der Auftakt zu einem Jubiläumsjahr, das 75 Jahre Grundgesetz und lebendige Demokratie in Deutschland feiert.

Eine Erfolgsgeschichte, die nicht absehbar war. Nur wenige Bürgerinnen und Bürger interessierten sich damals für die Beratungen des Parlamentarischen Rates.

Die meisten Menschen trieben im Nachkriegsdeutschland andere Sorgen um.

Vielen war die künftige Verfassung gleichgültig.

So richtig feierlich war hier im Museum Koenig am 1. September 1948 wohl niemandem zumute.

Es war der späteste Termin, den die westlichen Alliierten den elf Ministerpräsidenten für den Zusammentritt einer verfassunggebenden Versammlung gesetzt hatten.

Ein sinnfälliges Datum:

Genau neun Jahre zuvor, am 1. September 1939, hatte das nationalsozialistische Deutschland Polen überfallen.

Der deutsche Angriffs- und Vernichtungskrieg verwüstete Europa, forderte mehr als 60 Millionen Opfer und führte zum Menschheitsverbrechen Holocaust.

Der Krieg endete mit dem militärischen Sieg der Alliierten und dem kompletten Zusammenbruch des sogenannten „Dritten Reichs“.

Deutschland war besiegt, besetzt und geteilt.

Der Parlamentarische Rat war das erste gesamtdeutsche Nachkriegsparlament – in den Westzonen.

Die 65 Abgeordneten und fünf nicht-stimmberechtigten Berliner Mitglieder waren nicht vom Volk gewählt.

Sondern von den Landesparlamenten.

Sie hatten den Auftrag, eine Verfassung für einen westdeutschen Teilstaat auszuarbeiten – gemäß den Vorgaben und unter Vorbehalt der Alliierten.

Von einer „historischen Stunde und einer historischen Aufgabe“ sprach Konrad Adenauer nach seiner Wahl zum Präsidenten des Parlamentarischen Rates am 1. September 1948.

Wir haben uns angewöhnt, von den Vätern und den – vier! – Müttern des Grundgesetzes zu sprechen.

Das klingt nach Weisheit und Harmonie.

Im Parlamentarischen Rat trafen aber Abgeordnete mit teils gegensätzlichen Positionen aufeinander.

Nicht alle stimmten dem Grundgesetz am Ende zu.

Es gab Konflikte, an denen das Vorhaben fast gescheitert wäre.

Man stritt um die Ausgestaltung des Föderalismus, um die Stellung der Kirchen und nicht zuletzt um das Wahlrecht.

Beim Thema Gleichberechtigung stand nach einigen Abwehrkämpfen am Ende der Satz „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“.

Als Anspruch und Aufforderung.

Vor allem dank des unermüdlichen Einsatzes der Abgeordneten Elisabeth Selbert.

Die sozialdemokratische Frauenrechtlerin hatte erfolgreich die erste westdeutsche Bürgerinnenbewegung mobilisiert.

Eines einte die allermeisten Abgeordneten über ihre politischen Gegensätze hinweg:

die Erfahrung des Scheiterns der Weimarer Republik und das staatliche Unrecht, das viele während der NS-Diktatur erfahren mussten.

Die neue Verfassung sollte daraus die Lehren ziehen. Dazu zählten:

  • eine stabile Regierung,
  • eine wehrhafte Demokratie, die den „Mut zur Intoleranz“ gegenüber ihren Feinden hat,
  • ein Staat, der sich auf den Frieden verpflichtet und auf die europäische Einigung zielt.

Vor allem zählten dazu die Grundrechte.

Sie sollten unmittelbar gelten, den Staat binden und einklagbar sein.

Vor einer neuen Verfassungsinstitution: dem Bundesverfassungsgericht.

Der Parlamentarische Rat zog die Lehren aus dem dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte.

Er schuf eine moderne sowie – für künftige Entwicklungen – offene Verfassung.

„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“

So lautet Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes.

Ein Satz, der einen absoluten Anspruch formuliert.

Aus der Erfahrung der totalen Verneinung der Menschenwürde heraus.

Navid Kermani hat zum 65. Jahrestag des Grundgesetzes im Deutschen Bundestag gesagt, das Grundgesetz erkläre mit Artikel 1 Absatz 1 den Staat – ich zitiere:

„zum Diener der Menschen, und zwar grundsätzlich aller Menschen, der Menschlichkeit im empathischen Sinn“. Zitatende

Auch um Artikel 1 Absatz 1 ist im Parlamentarischen Rat gerungen worden.

So hieß es im ursprünglichen Entwurf:

„Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen.“

Das stimmt auch.

Doch gerade die Klarheit und Prägnanz macht  „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ zum wohl vielzitiertesten Satz unserer Verfassung.  

Er steht wie kein zweiter für die große Akzeptanz, die das Grundgesetz bei sehr weiten Teilen unserer Bevölkerung genießt.

Das Grundgesetz bildet das verfassungsrechtliche Fundament für die politische Stabilität der Bundesrepublik.

Für Wohlstand und sozialen Ausgleich.

Für die Integration breiter gesellschaftlicher Schichten in die neue Demokratie.

Sein Erfolg begann vor 75 Jahren hier in Bonn mit den klugen Verfassungsgeberinnen und -gebern.

Ihnen verdanken wir auch die „Bonner Republik“.

Verabschiedet wurde das Grundgesetz am 8. Mai 1949 – fünf Minuten vor Mitternacht.

Für das symbolträchtige Datum wurde extra die Reihe der persönlichen Erklärungen der Abgeordneten unterbrochen:

Dieser Neubeginn sollte noch auf den vierten Jahrestag der deutschen Kapitulation fallen.  

Auf den Tag, an dem Deutschland von der nationalsozialistischen Diktatur befreit wurde.

Doch frei waren nicht alle.

Die Deutschen im Westen hatten das Glück der Chance zum demokratischen Neubeginn – und sie haben sie genutzt!

Eine Chance, die den Deutschen unter sowjetischer Besatzung und SED-Machthabern verwehrt blieb.

Die Menschen in der DDR spürten spätestens im Juni 1953, was die Grundrechte in ihrer Verfassung wirklich wert waren.

Freiheit und demokratische Selbstbestimmung wurden ihnen vorenthalten.

Bis sie sich beides 1989 selbst erkämpften.

Sie machten damit den Weg frei, um der Präambel des Grundgesetzes folgend, die Einheit in Freiheit zu vollenden.

Wir können heute dankbar und stolz zurückblicken.

Aus dem Provisorium Grundgesetz ist eine Erfolgsgeschichte geworden: die weithin geschätzte Verfassung unseres Landes.

Das Grundgesetz stand Pate für die Verfassungen vieler junger Demokratien weltweit.

Sein erster Satz eröffnet die Europäische Charta der Grundrechte.

Wir leben in einer stabilen Demokratie, um die uns so manche beneiden.

In Freiheit und Sicherheit.

Wir haben allen Grund, den Erfolg zu feiern.

Aber keinen Anlass, selbstgerecht zu sein.

Die große Mehrheit in diesem Land ist von der Demokratie als Staatsform überzeugt.

Dennoch sind nicht wenige unzufrieden damit, wie sie heute funktioniert.

Weil sie sich andere Ergebnisse erwarten.

Weil sie vom politischen Personal enttäuscht sind.

Oder unsere Debatten im Parlament und in der medialen Öffentlichkeit als abgehoben erleben.

Weil sie stärker mitreden wollen.

Bei einigen ist die Unzufriedenheit in Entfremdung und Verachtung umgeschlagen.

Vielleicht waren wir, die Mehrheit der Demokratinnen und Demokraten in diesem Land, lange Zeit zu selbstgewiss.

Wir haben uns nicht vorstellen können, dass politischer Extremismus wieder salonfähig wird.

Unsere freiheitliche Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit.

Sehr geehrte Damen und Herren,

unser Grundgesetz ist eine kluge Verfassung, die sich bewährt hat.

Das Grundgesetz kann unsere freiheitliche Demokratie aber nicht gegen die Erosion ihrer Werte schützen.

Das können nur wir selbst!

Wenn wir einstehen für die Freiheit

– auch die Freiheit derer, die anders denken.

Wenn wir zur Entscheidung der Mehrheit immer das Recht der Minderheit mitdenken.

Wenn wir die Institutionen unserer Demokratie achten und verteidigen.

Parteien und Parlamente sollten neue Wege ausprobieren, um mehr Menschen einzubeziehen.

Wie den Bürgerrat, den der Deutsche Bundestag jetzt einberufen hat.

Abgeordnete und Parteien müssen das Gespräch mit den Bürgerinnen und Bürgern suchen.

Mit einer Sprache, die verstanden wird und die nicht ausgrenzt.

Ich habe das bereits in meiner Antrittsrede betont.  

Zugleich braucht es unverrückbare Grenzen:

Wir müssen zusammenstehen gegen jene, die mit Hass, Lügen und Verachtung die Werte unseres Zusammenlebens untergraben wollen.

Die ein Land wollen, in dem die Würde des Menschen eben nicht unantastbar ist.

Das werden wir nicht zulassen!

„Die Freiheit, ich zu sein“ – das ist der großartige Vorzug der freiheitlichen Demokratie. Den wir viel zu oft für gegeben nehmen.

Der Deutsche Bundestag hat zusammen mit dem Bundesrat und dem Haus der Geschichte Schülerinnen und Schüler eingeladen, unter diesem Motto einen neuen Blick auf das Grundgesetz zu werfen.

Die Ergebnisse der Workshops sind heute hier im Museum Koenig ausgestellt.

Sie sind eine Einladung zum Gespräch über Erwartungen, Hoffnungen und Herausforderungen.

Ich danke allen Beteiligten.

Vor allem Ihnen, den Jugendlichen aus Potsdam und Euskirchen, für Ihre engagierten und kreativen Beiträge!

Das Grundgesetz garantiert eine Freiheit, die nicht beliebig ist.  

Sie ist mehr als die Freiheit, sich selbst zu verwirklichen.

Sie schließt die Freiheit der anderen und die Verantwortung für andere mit ein.

Es ist die Freiheit eines „gemeinschaftsbezogenen und gemeinschaftsgebundenen Individuums“, wie es das Bundesverfassungsgericht ausgedrückt hat.

Unsere Gesellschaft wird vielfältiger und bunter, aber auch unverbindlicher und brüchiger.

Das macht das Grundgesetz umso bedeutender: Als Fundament von Werten und Regeln,

auf die wir uns alle einigen können und müssen – jenseits aller Unterschiede.

Immer wichtiger wird es, Gemeinschaft und Zusammenhalt in unserer Gesellschaft zu stärken.

Dazu sind wir alle aufgerufen.

Sehr geehrter, lieber Herr Gauck,

die Freiheit ist Ihr Lebensthema.

Sie haben sich lange danach gesehnt, in der DDR aber zunächst – ich zitiere – „mehr um Freiheiten als um Freiheit“ gerungen.

Die Jahre 1989/90 waren für Sie – wie Sie vor kurzem bekannten – „die wichtigste und schönste Zeit“ Ihres Lebens.

Es war die Zeit, als die Menschen den Mut fanden, sich die Freiheit zu nehmen.

Als sie aufbrachen, um Bürgerinnen und Bürger zu werden.

Die freiheitliche Demokratie gibt es nicht umsonst.

Das wissen die am besten, die darum kämpfen mussten – und heute kämpfen!

Die freiheitliche Demokratie muss sich gegen ihre Feinde verteidigen.

Notfalls auch mit Waffen und unter Opfern wie in der Ukraine.

Deswegen erinnern Sie uns, verehrter Herr Gauck, nachdrücklich an unsere Verantwortung: „Wir sind nicht nur für uns selbst Demokraten, sondern auch für die, die daran gehindert sind, als Demokraten zu handeln.“  Zitatende.

Vor allem müssen Freiheit und Demokratie gelebt werden, um lebendig zu bleiben.

Das Fundament unserer freiheitlichen, demokratischen Gesellschaft zu sichern, liegt in unserer Hand.

Damit dieses Land auch zum 100. Geburtstag des Grundgesetzes in guter Verfassung ist.