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Rede von Gerhart Rudolf Baum zum 75. Jahrestag der ersten konstituierenden Sitzung des Deutschen Bundestages

Frau Präsidentin! 

Meine Damen und Herren! 

Werte Kolleginnen und Kollegen! 

Ich empfinde es als eine Ehre, hier heute stehen zu dürfen - und ich bin dankbar, dass ich das noch kann. 

(Beifall)

Ich denke an die vielen Kollegen in all den Jahrzehnten, die an dem Aufbau der Demokratie mitgewirkt haben. Alle Demokraten, wir alle miteinander, haben diese Demokratie aufgebaut. Auch wenn wir uns oft gestritten haben, das Ziel war klar, und das Ziel haben wir erreicht. Das feiern wir heute - ohne darauf zu verzichten, auch die Bedrohungen in den Blick zu nehmen.

Es ist das erste Parlament in der deutschen Geschichte, das sich frei entfalten konnte. Wenn man in der Geschichte zurückblickt, dann sieht man, dass zum Beispiel die Briten schon im 17. Jahrhundert mit ihrem König gestritten haben ‑ und einen haben sie sogar geköpft. Bei uns hat das ziemlich lange gedauert.

(Heiterkeit)

- Wir haben natürlich keinen König geköpft.

1848 war ein ermutigender parlamentarischer Beginn - er scheiterte. Die einzige Revolution, die den Deutschen je gelungen ist, ist die Revolution in der DDR. Die Beobachter aus dem Ausland haben damals Skepsis geäußert: Können denn die Deutschen Demokratie? - Ja. Sie haben bewiesen: Sie können Demokratie. Und jetzt müssen die Deutschen beweisen, dass sie die Demokratie auch tatkräftig verteidigen. 

(Beifall)

Ich erinnere mich an die Worte von Carlo Schmid, der am Ende der Beratungen zum Grundgesetz gesagt hat: Wir haben euch ein ganz freies Grundgesetz gegeben mit vielen Möglichkeiten. Aber eines müsst ihr im Kopf haben: Wenn diese Freiheit benutzt wird, um sie abzuschaffen, müsst ihr reagieren. - Und das müssen wir jetzt tun. 

(Beifall)

75 Jahre Bundestag! Das ist ungefähr die Zeit meines aktiven politischen Lebens. Ich sehe nun die Bedrohung unserer liberalen Demokratie, ich sehe den Druck autoritärer Kräfte weltweit. Ich habe eine solche Situation - jemand hat gesagt, dies sei ein entscheidender Moment in der Menschheitsgeschichte - noch nicht erlebt. Ja, der Kalte Krieg war eine starke Bedrohung, hält aber dem Vergleich mit dem, was wir heute an Brandherden und möglichen Brandherden weltweit erleben und möglicherweise noch erleben werden, nicht stand. 

Ich möchte darauf hinweisen, dass es nicht nur eine regionale Auseinandersetzung ist, die zwischen Russland und der Ukraine stattfindet; es ist der Kampf um eine neue Weltordnung, der Kampf der autoritären Kräfte, denen es um eine autoritäre Weltordnung geht, die sich nicht mehr an dem Prinzip der Menschenwürde orientiert, gegen die freiheitlichen Kräfte. 

(Beifall)

Wir streiten um Waffenlieferungen an die Ukraine. Einer meiner Großväter wurde in Charkiw geboren. Ich habe erlebt, wie in den ukrainischen Familien um Söhne getrauert wurde, die für die Befreiung unseres Landes von Hitler ihr Leben geopfert haben. Das sollten wir bedenken, wenn wir heute vor der Frage stehen, ob wir der Ukraine helfen oder nicht. 

(Beifall)

Ich bin ein Kriegskind, ein Flüchtlingskind. Ich habe den Krieg noch erlebt und in Dresden die Bombennacht überlebt. Die Nazidiktatur habe ich als Kind gespürt. Die jüdischen Mitbürger verschwanden. Mein Vater zog in den Krieg, aus dem er nicht zurückkam. Wir wurden Flüchtlinge, herausgerissen aus einem geordneten Leben - wie viele damals.

Meine Freunde und ich waren einfach fassungslos angesichts der von Deutschen begangenen Menschheitsverbrechen, des entsetzlichen Holocausts und der Entfesselung eines Weltenbrandes. 55 Millionen Tote! Wie sollten wir damit als Deutsche umgehen? Wir haben uns jedenfalls geschworen, dass so etwas nie wieder geschehen sollte. Aufbau der Demokratie, aber kein Schlussstrich - keine Verjährung für Mord zum Beispiel!

Im Bundestag hat damals eine beeindruckende Debatte über das Thema Verjährung stattgefunden. Wir wollten genau wissen, was geschehen ist und wer Verantwortung trug. Das ist bis heute mit einer intensiven Erinnerungskultur geschafft worden. Lassen wir nicht zu, dass sie wieder infrage gestellt wird!

(Beifall)

Sie hat unserer Demokratie gutgetan.

Wir waren anfangs nicht sicher, ob es gelingen würde, das „andere“ Deutschland zu aktivieren. Man befürchtete damals eine alles lähmende Wirtschaftskrise. Wir waren also auf einem unsicheren Terrain.

Es hat ja lange gedauert, bis all das umgesetzt worden ist, was im Grundgesetz steht. Das war auch die Arbeit dieses Parlaments.

Ich habe damals als 20-Jähriger in meinem Zweifel einen Brief an Thomas Mann geschrieben, der sehr viel über die Deutschen und die deutsche Frage nachgedacht hat, und habe ihn gefragt: Sind wir auf dem richtigen Wege? - Und er hat mich ermutigt und hat diesem Zweifel die Spitze genommen.

Wir sind dann in eine Partei eingetreten - übrigens eine Option, die auch heute empfehlenswert ist, eine Option, von der wir erfahren haben, dass man in einer Partei eine Menge machen kann: Man kann Parteien nämlich auch verändern; man kann sie bewegen.

(Beifall)

Wir waren also in einer Partei, und dann ging das alles seinen Weg. Ich sage: Manchmal - und nicht zu selten - hat die Arbeit in einer Partei auch bereichert; ich will nicht sagen: Spaß gemacht - das auch ab und zu.

(Heiterkeit)

Sie hat mein Leben jedenfalls bereichert, und ich möchte das nicht missen.

Was noch eine ganz große Rolle damals gespielt hat: Wir waren begeisterte Europäer. „Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.“ Ist das nicht ein motivierender, faszinierender Aufruf?

(Beifall)

Übrigens: ein Verfassungsauftrag.

1945 war in verschiedener Hinsicht eine fundamentale Zeitenwende. Sie betraf das Zusammenleben der Völker. Die Menschenwürde wurde zum ersten Mal zum bestimmenden Element der Menschheitsgeschichte. Zum ersten Mal wurde Friedensbewahrung mit dem Schutz der Menschenwürde untrennbar verknüpft - in der Charta der Vereinten Nationen und schon in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Das ist auch Artikel 1 des Grundgesetzes. Der Parlamentarische Rat hat wunderbare Debatten darüber geführt. Einige wollten einen Gottesbezug; andere bezogen sich auf Kant. Am Ende haben beide Seiten festgestellt: In Artikel 1 steckt beides, Gott und Kant.

(Heiterkeit und Beifall)

Die Menschheit kam wirklich zur Besinnung. In der Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte steht der Satz, dass die Barbarei „das Gewissen der Menschheit“ zutiefst verletzt hat. Ich habe damals gelernt: Die Menschheit hat ein Gewissen. Eine Besonnenheit aller, aller Kulturen war plötzlich da. Man fragt sich heute: Wäre das noch möglich, diese Besonnenheit? Dringend notwendig wäre sie angesichts der weltweiten Krisen.

(Beifall)

Heute - Sie haben es schon angesprochen, Frau Präsidentin - ist das Vertrauen in die Kompetenz der parlamentarischen Demokratie gesunken. Das macht uns tief besorgt. Woher kommt dieser Vertrauensverlust in die Parteien, in die Institutionen? Woher kommt die Sehnsucht nach einfachen Lösungen? Diese haben doch nur diejenigen im Angebot, denen jegliche Problemlösungskompetenz fehlt.

(Beifall)

Ja, es gibt viele Probleme, darunter natürlich auch Probleme, die wir selber als Parteien verursachen. Es gibt auch eine gewisse Überforderung der Politik. Ich treffe immer wieder Menschen, die alle Probleme auf einmal gelöst sehen wollen. Das geht nicht; das ist alles viel schwieriger. Und das müssen wir erklären. Wir müssen erklären, aber wir müssen auch den Wunsch der Menschen respektieren, mitzuwirken. Wir müssen Wege finden, dass die Menschen mitgestalten können, neue Wege der Begegnung. Wir müssen raus aus der Begrenztheit der Information und des Meinungsaustausches in Internetblasen. Wir müssen wieder eine Verständigungsgemeinschaft aufbauen, die wir ja sind. 

(Beifall)

Es ist natürlich immer wieder die Angst; es sind die sozialen Ängste - das alles kennen Sie; damit beschäftigen Sie sich oft -, einfach nur die diffuse Angst vor dem Unbekannten. Angst ist ein ganz hinterhältiger Dämon der freien Gesellschaften.

(Beifall)

Ich frage mich auch oft, warum technokratisches Denken so stark die Szene beherrscht. Wir brauchen eine Strategie, die mit den genannten Unsicherheiten umzugehen weiß. Es fehlt, wie ein bekannter Journalist mal gesagt hat, der Wärmestrom zwischen den Regierenden und den Regierten. Politik sollte das Bedürfnis der Menschen ernster nehmen, sich mehr der Verzweiflung, der Einsamkeit in unserer Gesellschaft widmen und mehr Mitgefühl zeigen.

(Beifall)

Wir sind in einer Situation, in der es um den Wandel der persönlichen Lebensverhältnisse, eine Reform der Politik, des Denkens, der Gesellschaft geht. Was ist übrigens in Zukunft Fortschritt? Das hat sich doch auch geändert. Was erwarten wir von der Zukunft? Was muss jeder Einzelne leisten, um die Zukunft auch persönlich zu bestehen? Wir sollten nicht davon reden, dass sich nichts ändern wird und dass alles so bleibt, wie es ist. Nein, wir müssen die Zukunft neu denken.

(Beifall)

Brandbeschleuniger ist seit Jahrzehnten das Thema Migration. Wenn ich Presseerklärungen von damals aus meinem Ministerium lese, sind die gleichen Argumente festzustellen. Wir schleppen ein Problem mit uns herum. Es wird ja jetzt versucht, die Situation in den Griff zu bekommen. Aber es ist ganz wichtig, dass wir den Menschen deutlich machen: Es gibt kein Zurück mehr; es muss Schluss sein mit dem Wahn einer ethnisch reinen Nation.

(Beifall)

Sie haben es auch schon erwähnt, Frau Präsidentin: Viele Leute sind aufgebrochen, sind aufgewacht. Das gibt Hoffnung. Und diese Energien, die darin stecken, müssen wir jetzt nutzen. Wir müssen den Parlamentarismus bewahren, wie wir ihn praktiziert haben. Bei dieser Gelegenheit möchte ich sagen: Ich kenne, jedenfalls auf dieser staatlichen Ebene, keinen Ersatz für die repräsentative Demokratie.

(Beifall)

Ich bin versucht, noch andere Aktivitäten des Deutschen Bundestages zu nennen; immerhin zwei möchte ich nennen. Das Erste ist die zunehmende Beschäftigung mit den Menschenrechten. Wir müssen die Menschenrechtsverteidiger weltweit stützen. Wir haben das Glück, in einer freien Gesellschaft zu leben, in Frieden und Wohlstand. Wer kann das auf der Welt?

(Beifall)

Deshalb müssen wir uns denen widmen, die das nicht können.

Hannah Arendt hat mal das schöne Wort geprägt: Wir sind frei geboren, um frei zu sein. - Und viele Menschen werden sofort unfrei, wenn sie von der Freiheit Gebrauch machen, und landen in irgendeinem Straflager. Wir sind frei geboren, um frei zu sein. Und dieses Selbstbewusstsein sollten wir auch den Menschenrechtsverteidigern vermitteln und sie stützen bei ihrer Verteidigung der Freiheit. 

(Beifall)

Und ein Zweites. Ich sehe auch die wichtige Rolle von Kunst und Kultur in der Krise; das haben wir ja schon bei Covid gemerkt. Sie gibt den Menschen Orientierung, sie gibt ihnen Halt. Sie weist in die Zukunft, denkt in die Zukunft. Dass der Bundestag - ich war ja auch mal Kulturminister - sich so intensiv mit der Kultur und der Kulturförderung auf Bundesebene befasst, finde ich einen Fortschritt, den es zu bewahren gilt.

(Beifall)

Ja, wir haben im Bundestag beinahe bühnenreife Rededuelle erlebt in der früheren Zeit; ich erinnere mich. Na ja, gut: Wehner und Strauß, das war ja immer eine Aufführung besonderer Art. 

(Heiterkeit)

Aber es gab eigentlich selten Feindschaften, habe ich festgestellt. Und die Rededuelle hier vom Podium aus waren eigentlich nicht unbedingt das, was man hinterher miteinander besprach. Man sollte sich also vielleicht ein bisschen abmildern in der Auseinandersetzung und die Dramatik etwas herunterfahren. 

Viele Probleme, meine Damen und Herren, wurden gelöst im Laufe der Geschichte der Bundesrepublik. Viele Probleme, über die wir heftig gestritten haben, wurden gelöst, und es kam zu einer gewissen Befriedung. Das ist auch ein Fortschritt: dass man sich wieder zusammenfand, zum Beispiel mit der Ostpolitik von Brandt und Scheel, die dann mit Kohl und Genscher weiterging, obwohl sie vorher heftigst umstritten war. Also, das sind Veränderungen, die dann auch dazu geführt haben, dass wir alle dazugelernt haben.

Ja, ich bin ein alter Mann, dem mitunter vorgeworfen wird, die Lage zu dramatisieren. Meine Damen und Herren, ich will einfach nur erreichen, dass man die Gefährdungen sieht. 

(Beifall)

Man muss sie erkennen, um sie bekämpfen zu können. Ich bin nicht ohne Hoffnung, nicht ohne berechtigte Hoffnung, dass unsere Gesellschaft die Kraft hat, den Aufbruch in eine neue Zukunft zu schaffen. Halten wir - das ist ein Appell - noch besser zusammen bei der Lösung existenzieller Probleme unserer Demokratie. Wir können streiten über den besseren Weg. Aber es gibt eine Grundlage, die wir gemeinsam verteidigen müssen. 

(Beifall)

Am Ende noch ein Zitat von Stéphane Hessel, dessen Familie unter den Nazis bitter gelitten hat. Er war ein wunderbarer Mensch und ein Mitstreiter von mir in den Menschenrechtsgremien der Vereinten Nationen. Er war bei der Weltmenschenrechtskonferenz 1993 Delegationsleiter für Frankreich und ich für Deutschland, und wir haben einen intensiven Kontakt gehabt. Er hat ein Buch geschrieben - „Empört Euch!“ -, kurz vor seinem Tode. 

(Vereinzelt Beifall)

Es ist heute aktueller als damals noch, und zwar nicht als Anklage, sondern als Aufforderung zum Handeln. Ich zitiere: „Wenn man sich über etwas empört, wie mich der Naziwahn empört hat, wird man aktiv, stark und engagiert. Man verbindet sich mit dem Strom der Geschichte, und der große Strom der Geschichte nimmt seinen Lauf dank dem Engagement der Vielen …“

Ich wünsche mir, meine Damen und Herren, dass wir, die freien Bürger dieser Demokratie, aktiv entscheiden, in welche Richtung der Strom der Geschichte seinen Weg nimmt.

Danke.

(Beifall)

Musikalische Darbietung

Ludwig van Beethoven (1770 - 1827)

Streichquartett Nr. 2 G-Dur, Op. 18, 2 I. Allegro