Geschichte

Vor 75 Jahren: Erste Sitzung des ersten Deutschen Bundestages

Blick in den gefüllten Plenarsaal in Bonn bei der ersten Sitzung des ersten Deutschen Bundestages am 7. September 1949

Blick in den Plenarsaal des Bundeshauses in Bonn während der ersten Sitzung des ersten Deutschen Bundestages am Mittwoch, 7. September 1949 (© picture alliance / AP | Sorsche/Jaeger)

Vor 75 Jahren, am Mittwoch, dem 7. September 1949, kommt im großen Plenarsaal des Bonner Bundeshauses der erste Deutsche Bundestag zu seiner konstituierenden Sitzung zusammen. Das junge Parlament besteht aus 402 in den westlichen Besatzungszonen gewählten Abgeordneten und acht Berliner Abgeordneten ohne Stimmrecht. 

Vor dem Tagungsort von Bundestag und Bundesrat wehen die Flaggen der elf westdeutschen Bundesländer und Berlins sowie die schwarz-rot-goldene Flagge, drinnen trägt eine weiße Wandbespannung die in Gold gestickten Wappen der Bundesländer und Berlins. Baden-Württemberg gab es noch nicht, das Land entstand erst 1952 durch den Zusammenschluss der drei Länder Baden, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern. Das Saarland schloss sich erst 1957 der Bundesrepublik an.

Festgottesdienste und Beethoven-Ouvertüre 

Tausende Menschen sind zum Bonner Bundeshaus geströmt, um Zeugen dieses historischen Moments zu sein. Auf Außentribünen und entlang der Rheinpromenade verfolgen sie die Ereignisse im Plenarsaal. Der Tag hatte mit Festgottesdiensten im Bonner Münster und in der Lutherkirche begonnen. Die konstituierende Sitzung wird um 16.05 Uhr mit der Ouvertüre „Weihe des Hauses“, Opus 124 von Ludwig van Beethoven, gespielt vom Orchester der Stadt Bonn, eingeleitet. 

Unter den Gästen im großen Plenarsaal des Bonner Bundeshauses befinden sich die Hohen Kommissare der Alliierten John Jay McCloy (1895 bis 1989), Brian Hubert Robertson (1896 bis 1974) und André François-Poncet (1887 bis 1978), der apostolische Visitator Bischof Aloysius Muench (1889 bis 1962), Vertreter des Frankfurter Verwaltungsrats sowie die Ministerpräsidenten der elf westdeutschen Bundesländer und der Regierende Bürgermeister Berlins.

Erste Bundestagswahl

Vier Jahre nach Kriegsende war mit der Unterzeichnung und Verkündung des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 die Bundesrepublik gegründet worden. Am 14. August waren mehr als 31 Millionen Wahlberechtigte aufgerufen, die erste Volksvertretung der jungen Bundesrepublik zu wählen. Die Wahlbeteiligung an der ersten freien demokratischen Wahl seit der Reichstagswahl im Jahr 1932 lag bei 78,5 Prozent. 

Die CDU/CSU wurde mit 31 Prozent der Stimmen stärkste Kraft, dicht gefolgt von der SPD mit 29,2 Prozent. Die FDP erhielt 11,9 Prozent der Stimmen. Kleinere Parteien wie die KPD, die Bayernpartei (BP), die Deutsche Partei (DP) oder das Zentrum (Z) gewannen ebenfalls Sitze. Insgesamt verteilten sich die Mandate auf zwölf parteipolitische Gruppierungen. Nur 28 Frauen gehörten dem ersten Bundestag an. Der Frauenanteil unter den Parlamentariern lag damit zu Beginn der Wahlperiode bei knapp sieben Prozent, am Ende der Wahlperiode bei neun Prozent. 

Zusammensetzung des Bundestages

Das Durchschnittsalter aller Abgeordneten betrug 50 Jahre. Viele Mitglieder des ersten Deutschen Bundestages verfügten über parlamentarische Erfahrungen: So hatten die drei Bundestagsabgeordneten, Paul Löbe (1875  bis 1967, SPD), Louise Schroeder (1887 bis 1957, SPD) und Helene Weber (1881 bis 1962, CDU) bereits der Weimarer Nationalversammlung 1919/20 angehört. 

29 Abgeordnete waren Mitglied des Reichstages bis 1933 gewesen, sechs gehörten dem Länderrat der amerikanischen, 40 dem Zonenbeirat der britischen Besatzungszone an. 56 Abgeordnete waren Mitglied im Wirtschaftsrat für das Vereinigte Wirtschaftsgebiet, 34 hatten dem Parlamentarischen Rat angehört. 

Eröffnung durch den Alterspräsidenten Paul Löbe

Paul Löbe eröffnet als ältester Abgeordneter die Sitzung in dem von Architekt Hans Schwippert (1899 bis 1973) in wenigen Monaten neu errichteten Plenarsaal statt – einem Anbau zu der zum Bundeshaus ausgebauten ehemaligen Pädagogischen Akademie. Es ist nicht nur sein Alter, das den 73-Jährigen für die feierliche Eröffnung des Parlaments qualifiziert, sondern auch seine parlamentarische Erfahrung. Bereits 1919 war er Vizepräsident der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung und von 1920 bis 1933 Abgeordneter im Reichstag der Weimarer Republik, fast zwölf Jahre als dessen Präsident.

1948/49 wirkte er als einer der acht Berliner Abgeordneten im Parlamentarischen Rat an einigen der konstitutiven Artikel des Grundgesetzes mit. In den ersten Deutschen Bundestag wurde der aus dem schlesischen Liegnitz stammende Abgeordnete wegen der alliierten Vorbehalte nicht vom Volk gewählt, sondern vom Abgeordnetenhaus von Berlin als nicht stimmberechtigter Abgeordneter delegiert.

„Der Opfer des Krieges gedenken“

Als einer der Vertreter der alten deutschen Hauptstadt Berlin erinnert Löbe in seiner Rede an die Landsleute, denen eine fremde Verwaltung es verwehre, „mit in diesem Saale zu sitzen und mit uns zu beraten“. Die Wiedergewinnung der deutschen Einheit nennt der aufrichtige Patriot als wichtigste Aufgabe. Als überzeugter Europäer versichert er aber auch, „dass dieses Deutschland ein aufrichtiges, von gutem Willen erfülltes Glied eines geeinten Europas sein will“.

Eindringlich erinnert der letzte demokratische Reichstagspräsident in seiner Eröffnungsrede direkt an jene fatale Entwicklung und an das Ermächtigungsgesetz der Nationalsozialisten von 1933, mit dem endgültig die staatsbürgerlichen Freiheiten für lange Jahre begraben worden waren. Er gedenkt der menschlichen Not – von den Vertriebenen bis zur ausstehenden Rückkehr der Kriegsgefangenen – sowie der Zerstörung der Städte und bedankt sich für die Hilfsleistungen aus dem Ausland. Die Abgeordneten des Hauses fordert er auf, der Menschen aller Völker zu gedenken, die Opfer dieses letzten Krieges geworden sind.

„In den Mutlosen neue Hoffnung wecken“

Die Erinnerungen an das Nazi-Regime und die Kriegslasten liegen noch schwer auf der jungen, werdenden Demokratie. Zur Bewältigung der Folgen des Krieges und der Naziherrschaft und der Überwindung der Notlagen stehen Parlament und künftige Regierung vor einer Fülle von Aufgaben und Problemen. Es sei deshalb die schwere Aufgabe „der Alten und Jüngeren vereint“, an die Stelle der Trümmer wieder „ein wohnliches Haus zu setzen und in den Mutlosen eine neue Hoffnung zu wecken“.

In seiner Rede verweist er auf die Hoffnungen und Erwartungen der Menschen an das neue Parlament: „Was erhofft sich das deutsche Volk von der Arbeit des Bundestages? Dass wir eine stabile Regierung, eine gesunde Wirtschaft, eine neue soziale Ordnung in einem gesicherten Privatleben aufrichten, unser Vaterland einer neuen Blüte und neuem Wohlstand entgegenführen“.

Wahl des ersten Bundestagspräsidenten und der Vizepräsidenten

Im Anschluss an die Rede des Alterspräsidenten tritt das Parlament in die geschäftliche Tagesordnung ein. In geheimer Abstimmung wählen die Abgeordneten mit großer Mehrheit auf Vorschlag der CDU/CSU-Fraktion durch ihren Fraktionsvorsitzenden, Dr. h. c. Konrad Adenauer (1876 bis 1967), den hessischen CDU-Bundestagsabgeordneten Dr. Erich Köhler (1892 bis1958) zum ersten Bundestagspräsidenten. Köhler, der bereits als Präsident des Frankfurter Wirtschaftsrates Anerkennung gefunden hatte, erhält 346 der abgegebenen 402 Stimmen (81,1 Prozent). 

Nach der Amtsübernahme des neuen Bundestagspräsidenten werden sein erster und zweiter Stellvertreterder SPD-Abgeordnete Prof. Dr. Carlo Schmid (1896 bis 1979) und FDP-Abgeordnete Dr. Hermann Schäfer (1892 bis 1966) per Akklamation, durch Erheben von den Plätzen, gewählt. Beide waren maßgeblich an der Ausarbeitung des Grundgesetzes beteiligt und genießen parteiübergreifend hohe Anerkennung. 

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung benennen die Fraktionen, die nicht im Präsidium vertreten sind, jeweils einen Schriftführer: Gustav Gundelach (1888 bis 1962, KPD), Heinz Matthes (1897 bis 1976, DP), Anton Freiherr von Aretin (1918 bis 1981, BP), Dr. Herwart Miessner (1911 bis 2002, DKP/DRP), Otto Pannenbecker (1879 bis 1956, Z) und Alfred Loritz (1902 bis 1979, WAV).

Antrittsrede des Bundestagspräsidenten 

In den Mittelpunkt seiner Antrittsrede stellt der Bundestagspräsident die Aufgaben des Parlaments: „Eine der edelsten Zielsetzungen, die uns wohl hier in diesem Hause über die Verschiedenheit der politischen Anschauungen hinweg verbinden, ist doch die, dass die Menschenwürde sich wieder in jedem Deutschen uneingeschränkt und nach jeder Richtung hin entfalten kann.“ 

Nicht ohne Pathos fordert er die Abgeordneten auf, stets die Verwirklichung von Recht und Gerechtigkeit im Blick zu behalten und sich für die geistige und politische Freiheit des Einzelnen einzusetzen. „Die Verwirklichung von Recht und Gerechtigkeit soll und muss das oberste Gesetz unseres gesetzgeberischen Handelns in Zukunft sein. Geistige und politische Freiheit des Menschen, Freiheit des Glaubens, des Gewissens und der Überzeugung sind die edelsten Güter einer wahrhaften Demokratie. Sie zu sichern und ihre Verwirklichung auf allen staatlichen Gebieten und auf allen privaten Gebieten des Lebens herbeizuführen, wird eine unserer wichtigsten Aufgaben sein.“ 

„Den Schwachen vor dem Starken schützen“

Und weiter betont er: „Wir wollen dienen den Armen und Bedürftigen, wir wollen die Selbstsucht in Schranken halten, und wir wollen den Schwachen vor dem Starken schützen. Indem wir so handeln, werden wir auch im tiefsten Sinne eine der grundlegenden Bestimmungen des Grundgesetzes erfüllen, nämlich dem Frieden der Welt zu dienen.“ 

Den Ausführungen des Bundestagspräsidenten folgt der letzte Satz der fünften Symphonie von Ludwig van Beethoven.

Die ersten Anträge

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung beschließen die Abgeordneten im Anschluss die Bildung eines vorläufigen Geschäftsordnungsausschusses und des Ältestenrates. Daran schließt sich eine kurze Antragsberatung: Die KPD-Fraktion beantragt, dass der Bundestag in seiner konstituierenden Sitzung eine Stellungnahme zum Demontageproblem beschließen möge. Die SPD-Fraktion schlägt vor, in der nächsten Arbeitssitzung drei Entschließungsanträge zu behandeln, in denen insbesondere die Einstellung der Demontagen, die Einbeziehung Berlins in die Bundesrepublik und die Verlegung der Bundesorgane von Bonn nach Frankfurt gefordert wird.

Die Anträge werden zur Kenntnis genommen und an den Ältestenrat überwiesen, der den Termin für ihre weitere Beratung festlegen soll. Um 18.18 Uhr schließt Bundestagspräsident Dr. Erich Köhler die erste Sitzung des ersten Deutschen Bundestages der Bundesrepublik Deutschland.

Die ersten Herausforderungen

Die Abgeordneten des ersten Bundestages stehen vor gewaltigen Herausforderungen. Der Wiederaufbau der zerstörten Städte und die Schaffung einer stabilen wirtschaftlichen und sozialen Ordnung sind nur einige der drängenden Aufgaben. Heimkehrende Kriegsgefangene und zehn Millionen Flüchtlinge und Vertriebene müssen eingegliedert, Opfer versorgt und die Wohnungsnot muss beseitigt werden. 

Bereits im darauffolgenden Jahr beschließen die Abgeordneten das Wohnungsbaugesetz, um den Bau neuer Wohnungen staatlich zu fördern. Das Lastenausgleichsgesetz von 1952 soll Vertriebenen und Flüchtlingen eine gewisse Entschädigung durch Umverteilung verschaffen. Insgesamt beschließt das erste Parlament 545 Gesetze.

Montanunion und Wiederbewaffnung

Auch auf internationaler Ebene will Deutschland wieder Ansehen gewinnen. Der Vertrag über die Montanunion (Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl), den das Parlament am 11. Januar 1952 ratifiziert und der am 23. Juli 1952 in Kraft tritt, ist ein wichtiger Schritt in Richtung wirtschaftliche Integration Deutschlands in Europa. 

Besonders kontrovers diskutieren die Abgeordneten die Frage einer deutschen Wiederbewaffnung. Während die CDU/CSU unter Bundeskanzler Konrad Adenauer eine Einbindung Deutschlands in die Verteidigung Westeuropas befürwortet, stößt eine „Remilitarisierung“ Westdeutschlands bei der Opposition und in weiten Teilen der Bevölkerung auf Ablehnung. 

Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft

Dennoch unterzeichnen am 27. Mai 1952 die Regierungen von Belgien, Frankreich, Luxemburg, Niederlande, Italien und der Bundesrepublik Deutschland den Vertrag zur Gründung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft. Mit dem Beitritt zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) sollte auch das Besatzungsstatut beendet und die innere und äußere Souveränität Deutschlands hergestellt werden. Den entsprechenden Deutschlandvertrag (auch Generalvertrag) unterzeichneten die Bundesrepublik und die drei Westmächte Frankreich, Großbritannien und die USA bereits einen Tag zuvor am 26. Mai 1952. Doch Frankreichs Nationalversammlung lehnte die Ratifizierung des EVG-Abkommens im August 1954 ab. Damit scheiterte nicht nur die Europäische Verteidigungsgemeinschaft, auch der Deutschlandvertrag konnte nicht in Kraft treten. 

Die erste Legislaturperiode des ersten Deutschen Bundestages endet am 6. Oktober 1953 mit der Konstituierung des zweiten Deutschen Bundestages. (klz/29.08.2024)