Begrüßungsansprache von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas zur Feierstunde „75 Jahre Bundestag“
[Stenografischer Dienst]
Bärbel Bas, Präsidentin des Deutschen Bundestages:
Mit diesen Worten eröffnete Paul Löbe, der langjährige Präsident des Weimarer Reichstags, am 7. September 1949 den ersten Deutschen Bundestag.
Sehr geehrter Herr Bundespräsident,
sehr geehrter Herr Bundeskanzler,
sehr geehrte Frau Präsidentin des Bundesrats,
sehr geehrter Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichts,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
sehr geehrte Damen und Herren!
Wir feiern heute 75 Jahre Deutscher Bundestag.
Auf der Ehrentribüne begrüße ich auch unseren ehemaligen Bundespräsidenten Christian Wulff sowie meine Amtsvorgängerin und Amtsvorgänger Rita Süssmuth, Wolfgang Thierse und Norbert Lammert.
(Beifall)
Ich freue mich, dass Sie heute hier sind.
Während Paul Löbe den ersten Deutschen Bundestag eröffnete, standen Tausende auf der Bonner Rheinpromenade. Die Eröffnungssitzung wurde per Lautsprecher nach draußen übertragen. Die Bonner Betriebe hatten geschlossen, die Kinder schulfrei. Sogar die nächtliche Ausgangssperre wurde aufgehoben. Es herrschte Feierstimmung - in einem Land, das ansonsten vor allem Not kannte.
Deutschland war geteilt, der Alltag der Menschen von Mangel und Kriegszerstörung bestimmt. Eine neue deutsche Demokratie schien ein gewagtes Experiment - nach zwölf Jahren Diktatur, dem Zweiten Weltkrieg und dem Menschheitsverbrechen des Holocaust.
Viele der Bundestagsabgeordneten hatten unter den Nationalsozialisten gelitten. Gleichzeitig saßen im ersten Bundestag die Gegner der Demokratie - von ganz rechts und ganz links. Und selbst unter den überzeugten Demokratinnen und Demokraten war der Ton nicht selten unversöhnlich.
Dennoch war die Bilanz der ersten Wahlperiode beeindruckend: 545 verabschiedete Gesetze, 282 Plenarsitzungen und mehr als 5 000 Ausschusssitzungen! Es war vielleicht die größte Leistung dieser ersten Bundestagsabgeordneten: Sie haben die Handlungsfähigkeit der parlamentarischen Demokratie unter Beweis gestellt.
Bald wurde die Auseinandersetzung im Plenum ziviler, nicht zuletzt, weil die Verfassungsfeinde aus dem Parlament gedrängt wurden - auch mit Mitteln der wehrhaften Demokratie.
Der Bundestag ist schnell zu einem erfolgreichen Arbeitsparlament geworden: ein Parlament mit stabilen Mehrheiten, das die Arbeit der Regierung konstruktiv unterstützt, sie aber auch selbstbewusst kontrolliert. Das Experiment einer zweiten deutschen Demokratie war gelungen.
Sehr geehrte Damen und Herren, der Erfolg unserer Demokratie hat sich nicht allein im Parlament entschieden. Wir feiern heute auch den langen Prozess der Demokratisierung unserer Gesellschaft. Im Laufe der Generationen stellten sich die Deutschen der nationalsozialistischen Vergangenheit, wenn auch zunächst nur widerstrebend. Sie entdeckten und nutzten ihre Freiheiten und Rechte. Sie engagierten sich in Parteien - und immer stärker auch in der Zivilgesellschaft.
Minderheiten stritten erfolgreich für Sichtbarkeit und Anerkennung. Und nicht nur Minderheiten: Auch Frauen mussten für Gleichberechtigung kämpfen.
Deutschland ist ein liberales und weltoffenes Land geworden. Und es ist vielfältiger geworden - nicht nur, aber auch dank der Zuwanderung seit den 50er-Jahren.
Sehr geehrter Herr Baum, Sie haben die Demokratisierung unseres Landes über Jahrzehnte in unterschiedlichen Funktionen mit vorangetrieben. In einem Ihrer Bücher schreiben Sie - und ich zitiere -: „Unser Ziel war es, dass das Grundgesetz mit Leben erfüllt wird.“
Sehr geehrter Herr Baum, ich danke Ihnen sehr, dass Sie heute zu uns sprechen.
(Beifall)
Sehr geehrte Damen und Herren, in diesem Jahr feiern wir nicht nur 75 Jahre Bundestag. Wir erinnern auch an die Friedliche Revolution vor 35 Jahren. Sie machte es möglich, dass Paul Löbes Wunsch in Erfüllung gegangen ist: Deutschland ist wiedervereinigt. - Und der Bundestag tagt seit 25 Jahren wieder hier: im Reichstagsgebäude. Die Ostdeutschen haben mit der Friedlichen Revolution der Demokratie in ganz Deutschland einen großen Dienst erwiesen.
(Beifall)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte in dieser Feierstunde auch die Abgeordneten der einzigen frei gewählten Volkskammer würdigen. In nur 180 Tagen verabschiedeten sie 164 Gesetze und 93 Beschlüsse. Das war eine enorme parlamentarische Leistung, die die Volkskammer 1990 auf dem Weg zur deutschen Einheit vollbracht hat.
Sehr geehrte Frau Professorin Morina, die Entwicklung der Demokratie in Ostdeutschland ist auch Ihnen besonders wichtig. Als Historikerin weisen Sie darauf hin, dass die breite gesellschaftliche Demokratisierung kein rein westdeutscher Prozess war. Auch Ostdeutsche machten die Demokratie zu ihrem Anliegen - gerade unter den Bedingungen der SED-Diktatur.
Sehr geehrte Frau Morina, ich danke Ihnen sehr herzlich für Ihre Bereitschaft, an dieser Feierstunde mitzuwirken.
(Beifall)
Sehr geehrte Damen und Herren, die vergangenen 75 Jahre haben immer wieder gezeigt: Unsere parlamentarische Demokratie ist offen für neue Themen, neue Anliegen und neue gesellschaftliche Kräfte.
Diese Offenheit macht die Demokratie aber auch verwundbar. Nicht erst die jüngsten Wahlergebnisse zeigen uns: Viele Menschen trauen der Politik keine Lösungen mehr für ihre Probleme zu. Das gibt denen Auftrieb, die auf Wut und Angst setzen, unser Land schlechtreden und einfache Lösungen versprechen. Und die auch nicht davor zurückschrecken, die politischen Mitbewerber verächtlich zu machen.
(Beifall)
Gleichzeitig wird es anspruchsvoller, Mehrheiten zu organisieren und belastbare wie verlässliche Bündnisse zu schließen.
Bei allen Problemen sollten wir nicht vergessen, was wir in 75 Jahren Bundestag immer wieder bewiesen haben: Wir können Krisen bewältigen - trotz harter Kontroversen.
Ich bin überzeugt: Unsere Demokratie ist stark und wehrhaft - gegenüber allen, die ihr schaden wollen. Eine große Mehrheit aller Deutschen hält die Demokratie für die beste Staatsform. Das haben uns auch die mutmachenden Demonstrationen zu Beginn des Jahres gezeigt.
(Beifall)
Allerdings sind viele Menschen unzufrieden damit, wie Demokratie funktioniert. Wir als Politik sind gefordert, den Zweifeln an der Demokratie zu begegnen. Indem wir die konkreten Alltagsprobleme der Menschen angehen.
(Vereinzelt Beifall)
Ohne Erwartungen zu wecken, die wir nicht erfüllen können. Ohne schnelle Scheinlösungen. Ohne den Irrglauben, dass wir unsere Maßnahmen nur einfach besser erklären müssen.
(Beifall)
Wir müssen die Menschen und ihre Alltagsprobleme ernst nehmen. Das bedeutet auch, den Menschen die schwierigen Abwägungen demokratischer Politik zuzumuten. Denn gute Lösungen brauchen Geduld. Ich bin sicher: So können wir Vertrauen zurückgewinnen.
Um die Kluft zwischen den Menschen und ihren Abgeordneten zu schließen, müssen wir auch politisches Engagement wieder attraktiver machen und neue Formen der Mitwirkung finden.
(Beifall)
Immer mehr Menschen empfinden Parteien als nicht mehr zeitgemäß, wünschen sich aber mehr politische Beteiligung. Dieses Engagement der Menschen sollten wir als eine wichtige Kraftquelle für unsere Demokratie nutzen.
(Beifall)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Demokratie ist einmal als die „Staatsform der Unzufriedenheit“ bezeichnet worden. Ich finde: Unzufriedenheit muss für uns Ansporn sein. Es gilt, Kritik ernst zu nehmen und sie als Motor für Veränderung und Fortschritt zu begreifen.
In einer Demokratie geht es stets um den fairen Ausgleich von unterschiedlichen Interessen. Deshalb lassen sich auch nie alle Erwartungen und Ansprüche erfüllen. Umso wichtiger ist es, dass Kompromisse nachvollziehbar und inhaltlich gut begründet sind.
Wir leben in einer Zeit, in der sich Positionen häufig unversöhnlich gegenüberstehen. Deshalb sind wir alle dazu aufgerufen, uns die Notwendigkeit des Kompromisses wieder öfter bewusst zu machen.
(Vereinzelt Beifall)
Ein Kompromiss kann niemals alle Beteiligten gleichermaßen zufriedenstellen. Das kann aber kein Grund dafür sein, sich hierüber in die Unversöhnlichkeit treiben zu lassen! Lassen Sie uns im Interesse der Menschen die Kraft des Kompromisses für gute und tragfähige Lösungen nutzen!
Das ist meine Bitte zum 75. Geburtstag unseres Parlaments - an die Kolleginnen und Kollegen hier im Bundestag, aber auch an die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes.
Vielen Dank.
(Beifall)