Rede von Frau Prof. Morina zum 75. Jahrestag der ersten konstituierenden Sitzung des Deutschen Bundestages
[Stenografischer Dienst]
Prof. Dr. Christina Morina:
Sehr geehrte Frau Bundestagspräsidentin,
sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,
sehr geehrte Gäste!
Es ist ganz und gar nicht selbstverständlich, dass ich heute an dieser Stelle zu Ihnen sprechen darf. Normalerweise sprechen an diesem Podium Menschen, denen Tausende von Bürgerinnen und Bürgern in einer Wahl ihre Stimme gegeben haben und die damit über ein beeindruckendes Mandat verfügen. Die Tatsache, dass gelegentlich auch Menschen ohne politisches Mandat im Deutschen Bundestag sprechen dürfen, sagt viel aus über den Charakter dieses Hauses.
Parlamente sind Spiegel einer Gesellschaft - im Bund ebenso wie in den Ländern und Kommunen. Sie reflektieren die politische Ordnung und die gesellschaftliche Wirklichkeit eines Landes. Sie haben einen klaren Rahmen und eine feste Struktur. Und doch sind sie beweglich und offen für stets neue Perspektiven. Auch wenn sie - wie Spiegel - nie die ganze Wirklichkeit abbilden, reflektieren sie mehr als nur die Oberfläche. Es sind lebendige und zugleich auch zerbrechliche Orte.
Ich bin gebeten worden, aus Anlass des heutigen Festaktes über die gegenwärtige Lage der Demokratie und die Perspektiven des Parlamentarismus in Deutschland zu sprechen. Erlauben Sie mir als Historikerin dennoch zunächst eine kurze Rückschau, verbunden mit einigen persönlichen Bemerkungen.
Ich habe mich in der Vorbereitung auf diese Rede gefragt, wann ich in meinem Leben das erste Mal bewusst mit der Arbeit eines Parlaments konfrontiert worden bin. Die Erinnerung daran reicht bis in meine Kindheit zurück. Allerdings hieß das Parlament damals „Volkskammer“; denn ich wurde 1976 in der DDR geboren. Die frühesten Bilder eines Parlaments, die ich erinnere, stammen aus der „Aktuellen Kamera“, der Hauptnachrichtensendung im DDR-Fernsehen.
Die Volkskammer war als Scheinparlament ein dermaßen statisches, lebloses Gebilde, dass sich Aufnahmen von den seltenen Plenarsitzungen kaum von den Standbildern unterschieden, die zur Illustration solcher Meldungen neben dem Nachrichtensprecher eingeblendet waren.
(Beifall)
Mir war klar, dass diese Kammer irgendwie bedeutsam war; aber zugleich erschien das, was dort passierte, völlig belanglos.
Meine zweite, einschneidende Erinnerung an ein Parlament bezieht sich auf eine Debatte im Bundestag acht Jahre nach dem Mauerfall: die Debatte über die Verbrechen der Wehrmacht und die Verantwortung der deutschen Soldaten im Zweiten Weltkrieg am 13. März 1997. Ich habe sie seinerzeit nicht live verfolgen können - der Bundestag tagte damals noch in Bonn, und der heute nicht mehr wegzudenkende Parlamentssender Phoenix ging erst einen Monat später auf Sendung -, aber ich habe die Debatte über die Nachrichten wahrgenommen und mich seither in Lehre und Forschung immer wieder intensiv damit befasst.
Diese Debatte gilt zu Recht als Sternstunde der deutschen Parlamentsgeschichte. Denn trotz der verhärteten Positionen rund um die Frage der Schuld der Vätergeneration entstand in ihrem Verlauf ein nachdenkliches, für viele Abgeordnete zutiefst aufwühlendes Gespräch: ein öffentliches Gespräch, das nicht irgendwo stattfand, sondern im Bundestag. Gerade deshalb war es ein treffendes Abbild der damals so heftig geführten gesellschaftlichen Diskussion um den langlebigsten Mythos der deutschen Nachkriegsgeschichte, den Mythos der „sauberen Wehrmacht“.
Diese beiden Erinnerungen - die verlogene Volkskammer-Inszenierung der sogenannten Deutschen Demokratischen Republik und die aufreibende, anstrengende, plurale Wirklichkeit des Bundestages - stehen sinnbildlich für die Vielschichtigkeit und auch Widersprüchlichkeit der deutschen Parlamentarismusgeschichte.
Ich möchte in diesem Zusammenhang zwei Aspekte besonders hervorheben.
Zum einen: Eine Demokratie ist ohne Parlament schwer vorstellbar, aber ein Parlament macht noch keine Demokratie. Die Tatsache, dass selbst autoritäre Regime mit großem Aufwand vermeintliche Volksvertretungen simulieren, unterstreicht nicht nur, wie fragil diese Regime letztlich sind. Es zeigt auch, dass Gewalt allein auf Dauer keinen Staat macht. Denn die Idee der Demokratie, eine der ältesten politischen Sehnsüchte der Menschheit, lässt sich nicht korrumpieren. Simulierte Demokratie ist keine Demokratie.
(Beifall)
Zum anderen: In einem demokratisch legitimierten Parlament werden nicht nur wirtschafts-, sozial- oder sicherheitspolitische Entscheidungen verhandelt, sondern stets auch die moralischen Grundlagen einer Gesellschaft - das, was als gut und richtig gilt bzw. gelten sollte. Dazu gehört nicht zuletzt und gerade in Deutschland die Auseinandersetzung mit den Ursachen und Konsequenzen historischen Unrechts - zum Beispiel in Bezug auf die Verantwortung für die im Zweiten Weltkrieg verübten Massenverbrechen in Osteuropa.
Nun gehen in einer Gesellschaft die Anschauungen darüber, was gut und richtig ist, für gewöhnlich weit auseinander. Es sind neben anderen Organisationen vor allem die im Parlament vertretenen Parteien, die diese vielfältigen, oft auch widersprüchlichen Anschauungen bündeln, in Programme übersetzen und ihnen über die Gesetzgebung zur Wirkmacht verhelfen. Deshalb steht und fällt die parlamentarische Demokratie mit der Stärke, dem Ansehen und den Ansinnen der sie prägenden Parteien.
(Beifall)
Parteien haben dabei von jeher keinen leichten Stand. Was sie sollen - die Interessen unterschiedlicher Gruppen in einer Gesellschaft effektiv vertreten -, wird ihnen nicht selten als Makel vorgeworfen. Ein gewisses Maß an Skepsis ihnen gegenüber liegt also gleichsam in der Natur der Sache. Doch auch darüber hinaus ist Kritik eine der Grundbedingungen demokratischer Politik. Ob in Bezug auf die Arbeit von Parteien oder die Verhältnisse im Land: Ohne Kritik am Status quo wäre eine demokratische Gesellschaft schlicht reformunfähig.
(Beifall)
Doch mindestens genauso lähmend, wenn nicht gar zerstörerisch wirkt Kritik, die kein Maß und kein Fundament hat und bewusst irreführend betrieben wird.
(Beifall)
Damit komme ich zu dem Aspekt, der diesen gegenwärtigen Moment in der Geschichte des Parlamentarismus am stärksten prägt: die relativ schwache Zustimmung zu traditionellen Parteien und der steigende Einfluss rechts- wie linkspopulistischer und völkisch-nationalistischer Bewegungen. Auch wenn über diese Entwicklung seit Jahren intensiv diskutiert wird, ist bislang zu wenig berücksichtigt worden, was diese Bewegungen im Kern verbindet. Entsprechend hilflos steht man ihnen gegenüber. Was diese Bewegungen im Kern verbindet, ist ein mehr oder weniger unverhohlener Antiparlamentarismus, der - zumal in Deutschland - eine noch viel längere und folgenreichere Geschichte hat als der Parlamentarismus.
(Beifall)
Parteien, die heute auf Populismus und Nationalismus setzen, als hätte es das 20. Jahrhundert nicht gegeben, treten nicht an, um für die Gesellschaft in ihrer ganzen Vielfalt zu wirken oder eine sachgerechtere Politik zu machen. Dafür müssten sie akzeptieren, dass es das eine wahre Volk nicht gibt und nie gegeben hat,
(Beifall)
dass Mehrheiten nur über Kompromisse zustande kommen und dass Macht in einer Demokratie stets nur auf Zeit verliehen wird.
Sie treten vielmehr an, um im vermeintlichen Namen des vermeintlichen Volkes alle anderen Parteien nicht in die Opposition, sondern gänzlich aus der politischen Landschaft zu verdrängen; denn diese Parteien gelten nicht als legitime politische Konkurrenten, sondern als Versager,
(Zurufe)
als Verräter am Volk, als Feinde.
Populisten und Nationalisten treten auch nicht an, um die demokratische Ordnung und ihre Parlamente zu stärken, sondern um sie zu entmachten. Sie gerieren sich als „Volksbewegung“ und versprechen „Mitmachdemokratie“, „Bürgernähe“
(Zurufe)
und eine „Politik für die Mehrheit“. Aber dies sind sinnentstellte Begriffe, reine Floskeln, die die antiliberale und antiparlamentarische Stoßrichtung ihrer politischen Weltanschauung verschleiern sollen.
(Beifall)
Sie wollen, dass „das Volk“ verabschiedete Gesetze „kippen“ kann, was die Parlamente in ihren Grundfesten erschüttern würde. Mehr noch: Wenn Entscheidungen gewählter Volksvertretungen jenseits von Wahlen oder von dafür zuständigen Gerichten „gekippt“ werden könnten, würde das auch das Wahlrecht, wie wir es kennen, untergraben.
(Zurufe)
Derlei Forderungen treffen in den letzten Jahren überall, aber insbesondere in Ostdeutschland auf immer größere Zustimmung. Dort wirkt einerseits das vermeintlich volksdemokratische Erbe der SED-Diktatur nach, die mit ihren abstrusen Ideen von sozialistischer Demokratie und deutscher Einheitspartei immer auch eine nationalpopulistische Dimension aufwies. Andererseits haben 1989 vor allem basis- und direktdemokratische Vorstellungen zum Sturz dieser Diktatur geführt - in mutiger und bewusster Abgrenzung zum scheindemokratischen Popanz des Regimes.
(Beifall)
Auch deshalb sind in Ostdeutschland bis heute plebiszitäre Demokratieideen stärker verbreitet als anderswo,
(Zurufe)
und zugleich hat es die repräsentative Demokratie dort deutlich schwerer. Sie braucht Zeit. Und dennoch - das sollte dabei nie vergessen werden - wählt die Mehrheit der ostdeutschen Bürgerinnen und Bürger keine populistischen oder extremistischen Parteien.
(Beifall)
Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund halte ich es für essenziell, von der repräsentativen Demokratie nicht nur im Krisenmodus zu sprechen, sondern sie als Überzeugungswerk zu verstehen.
(Beifall)
Die parlamentarische Demokratie lebt von der Kunst der Überzeugung, vom Gewicht des besseren Arguments als Voraussetzung für eine wirksame und am Ende weitgehend konsensuale Auseinandersetzung mit anstehenden Problemen. Deshalb gilt es, für sie mehr Überzeugungsarbeit zu leisten.
(Zurufe)
Und das heißt: Auch wer überzeugt ist, dass die parlamentarische Demokratie noch immer die beste Regierungsform ist, weil sie den meistmöglichen Menschen ein würdiges Dasein ermöglicht, muss in der Lage sein, diese Überzeugung immer wieder neu zu begründen. Wer überzeugt ist, dass politische Parteien nach wie vor die zentrale Rolle in der politischen Willensbildung spielen sollten, wie es das Grundgesetz vorsieht, muss fähig sein, diese Überzeugung glaubhaft zu unterfüttern.
(Beifall - Zurufe)
Und wer überzeugt ist, dass die anstehenden Herausforderungen dermaßen gewaltig sind, dass es mehr denn je auf die Teilung und Delegation von Verantwortung an eine professionalisiert arbeitende Politik ankommt, muss dies anhand konkreter Problemlagen und Lösungsansätze belegen können.
Doch all das ist nicht nur eine Aufgabe der als „Altparteien“ verschrienen traditionellen Parteien oder der jeweils politisch Verantwortlichen in diesem Land. Vielmehr braucht es Stimmen aus der ganzen Breite und auf allen Ebenen der Gesellschaft, die für die repräsentative Demokratie werben, sie aus Überzeugung zu ihrer Sache machen und die für sie eintreten - nicht trotz, sondern wegen der seit 1949 bestehenden Tradition, der demokratischen Konventionen,
(Beifall)
der Einsicht in die Sinnhaftigkeit des Bewährten.
Dafür ist es nötig, sich aus der Logik des populistischen und extremistischen Antiparlamentarismus zu befreien. Diese Logik hat dank der sozialen Medien eine Reichweite erlangt, die ihr weder symbolisch noch faktisch an Wählerstimmen gemessen zukommt.
(Zurufe)
Ihr verfällt, wer die Migration zur „Mutter aller Probleme“ erklärt, wer „Bürgernähe“ zum Maß aller Politik stilisiert, wer Forderungen mit Verweis auf „die Leute“ zu begründen versucht
(Zurufe)
oder das Land den Sorgen und Ängsten derer ausliefert, die am lautesten schreien.
(Beifall)
Dieser nicht nur gefährlichen, sondern auch unendlich ermüdenden Logik und Sprache gilt es die Stärken des Parlamentarismus und der Parteiendemokratie dezidierter entgegenzuhalten, als das oft geschieht.
(Beifall)
Appelle wie dieser reichen dafür nicht. Es braucht viel intellektuelle Energie, demokratiepolitische Fantasie und pragmatischen Einsatz - in den Parteien und weit über sie hinaus. Und dafür lohnt es sich unbedingt, nicht nur aus der bundes- oder westdeutschen Demokratietradition zu schöpfen, sondern auch aus der ostdeutschen Demokratiegeschichte, aus den vielen Tausend positiven Aufbrüchen der letzten Jahrzehnte Richtung Freiheit und echter demokratischer Teilhabe.
(Beifall)
Ich möchte meine Rede mit einem Glückwunsch und einem Dank beschließen. Herzlichen Glückwunsch, verehrter Bundestag! Man sieht Ihnen Ihre 75 Jahre rein äußerlich überhaupt nicht an.
(Heiterkeit)
Aber Ihr langes Bestehen, Ihre in bewährte Regeln und Verfahren geronnene Erfahrung sind Stabilitätsanker für dieses Land.
(Beifall)
Und ich danke Ihnen, den Mitgliedern des 20. Bundestages - wie allen Mandatsträgerinnen und -trägern, die sich landesweit für das Gemeinwohl und ein humanes Zusammenleben engagieren -, für Ihre Arbeit im und für ein Parlament. Ihr Mandat und Ihr persönliches Wirken sind unmittelbarer mit der Idee der Souveränität des Volkes verbunden als das Amt eines Kanzlers oder einer Kanzlerin.
(Vereinzelt Beifall)
Parlamente sind nicht nur Spiegel der Gesellschaft. Sie sind das Rückgrat der liberalen Demokratie - einer Ordnung, die sich ihren Namen immer wieder neu verdienen muss und für die es immer wieder neu zu werben gilt: nicht verzagt und aus der Defensive, sondern mit Zuversicht und aus voller Überzeugung.
Vielen Dank.
(Beifall)
(Die Anwesenden erheben sich)
Nationalhymne