„Das Grundgesetz hat eine starke Legitimation“
Politikerinnen und Politiker aus Ostdeutschland: Als Abgeordnete haben sie die Deutsche Einheit unmittelbar ermöglicht und die Bundespolitik aus ostdeutscher Perspektive langjährig geprägt. Wie sie, über drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung, auf das gesamtdeutsche Verfassungsjubiläum blicken, darum ging es im Podiumsgespräch „Ostdeutsche Perspektiven auf 75 Jahre Grundgesetz“ im Rahmen des „Festes der Demokratie“ im Deutschen Bundestag am Sonntag, 26. Mai 2024.
Im Jahr der Wende in der DDR sei sie 26 Jahre alt gewesen, erzählte Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau (Gruppe Die Linke). „Hätte mir damals jemand gesagt, du wirst mal Abgeordnete oder gar Bundestagsvizepräsidentin, den hätte ich zum Arzt geschickt.“ Für sie sei das Verfassungsjubiläum ein Anlass zum Feiern und für eine Bestandsaufnahme. Zentral sei, dass das Grundgesetz die Würde des Menschen in den Mittelpunkt stelle. Diesen hohen Anspruch gelte es tagtäglich in der Realität auszubuchstabieren.
Pau: Bürgergesellschaft ist der beste Verfassungsschutz
Auf neue Fragen und Herausforderungen wie die informationelle Selbstbestimmung im Zeitalter der Digitalisierung müsse das Grundgesetz Antworten geben. Vorschläge der Bürgerinnen und Bürger für Verfassungsänderungen müsse das Parlament erst nehmen. An den grundlegenden Spielregeln werde sich aber nicht viel ändern, sagte Pau.
Für die Abgeordneten gelte es, sich im Parlamentsalltag der Herausforderung durch auf demokratischem Weg gewählte Mandatsträger, die die demokratische Grundordnung ablehnen, zu stellen. Es gehe darum, sich die Risiken bewusst zu machen und sich die Mitsprache der Bürger zuzutrauen. Das stärke die Demokratie. „Die Bürgergesellschaft ist der beste Verfassungsschutz“, sagte Pau. Sie habe keinen Zweifel, dass diese Kraft in der Gesellschaft vorhanden ist.
Thierse: Kinderrechte in das Grundgesetz einbeziehen
Als „ganz normale Sache“ auch für Ostdeutsche bezeichnete es der frühere Bundestagspräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD), „etwas, das 75 Jahre erfolgreich war“, zu feiern: „Der Großteil der Ostdeutschen wollte 1990 so schnell wie möglich gesamtdeutsch werden.“
Es habe dagegen zu den größten Enttäuschungen seines Lebens gehört, dass es mit der 1992 eingerichteten Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat nicht gelungen sei, ostdeutsche Erfahrungen in die gemeinsame Verfassung einzubringen. „Zwei wesentliche Punkte“, über die man heute debattieren solle, seien die Ausformulierung sozialer Grundrechte und die Einbeziehung der Kinderrechte in das Grundgesetz sowie ein besserer Schutz der Verfassung.
„Es gibt eine starke demokratische Mehrheit im Land“
Die bisherigen Änderungen hätten das Grundgesetz nicht besser gemacht, sondern den Charakter schwerfälliger Ergänzungen. Sie reichten nicht an den ursprünglichen Entwurf in seiner sprachlichen Präzision und Eleganz heran. „Das Grundgesetz hat eine starke Legitimation“, sagte Thierse und sprach sich für eine „behutsame, differenzierte und gelassene“ Verfassungsdebatte aus – die aber auch Gefahren berge: „Man muss sich den Zeitpunkt gut überlegen. Momentan erleben wir eine mediale Zersplitterung der Diskussion.“
Ermutigend sei, dass im Frühjahr Hunderttausende auf die Straße gegangenen seien und „de facto unser Grundgesetz verteidigt“ hätten. „Es gibt eine starke demokratische Mehrheit in unserem Land, die unsere Verfassung gegen extremistische Absichten verteidigt“, sagte Thierse unter großem Applaus der etwa einhundert Zuhörerinnen und Zuhörer im Atrium des Paul-Löbe-Hauses des Bundestages in Berlin. Das Grundgesetz lege die Normen fest und beschreibe nicht die Realität. „Daher müssen wir es verteidigen. Es ist die Grundlage für die Freiheit von uns allen.“
Bergmann-Pohl: Hohe Zustimmung zum Grundgesetz
Dr. Sabine Bergmann-Pohl (CDU), letzte Vorsitzende des Präsidiums der Volkskammer, erinnerte an die Schwierigkeiten, unter denen das erste und letzte frei gewählte Parlament der DDR den Beitritt des ostdeutschen Teilstaates zur Bundesrepublik Deutschland damals habe organisieren müssen. Der wirtschaftliche Zusammenbruch sei rasant fortgeschritten. Eine neue Verfassungsdiskussion habe man sich schlicht nicht leisten können. „Die Leute brauchten unmittelbar eine Perspektive. Es ging um die wirtschaftliche Existenz.“
Das Grundgesetz dagegen habe sich bewährt. Leider hätten sich die damaligen Hoffnungen schnell als Illusion entpuppt, dass mit dem Ende des Kalten Krieges und dem Beitritt zum Grundgesetz eine lange Friedenszeit beginnen werde. Dagegen habe man es bald und bis heute mit einer Reihe internationaler Konflikte und Kriege zu tun gehabt. Im Inneren gehe die Angst um, dass die AfD, wenn sie nur über genügend Stimmen verfüge, Grundrechte infrage stellen werde. Die Zustimmung zum Grundgesetz als der deutschen Verfassung sei weiterhin in Ost und West mit deutlich über zwei Drittel erfreulich hoch.
„Das Grundgesetz in der Gesellschaft durchsetzen“
In einer Zeit, in der so Vieles infrage gestellt werde, solle man sich gut überlegen, ob man eine neue Verfassungsdebatte beginnen und anfangen wolle, über so grundsätzliche Fragen zu diskutieren, gab Bergmann-Pohl zu bedenken. „Das würde sich über viele Jahre hinziehen. Vermutlich mit dem Ergebnis: Wir haben ein so gutes Grundgesetz.“
Man solle lieber alle Energie drauf richten, das Grundgesetz „auch durchzusetzen in unserer Gesellschaft“. Viele Leute stünden nicht mehr auf dem Boden der Verfassung. Die aber sei „unsere Grundlage“: „Das müssen wir erst mal wieder erreichen und danach leben.“
Birthler: Bundesverfassungsgericht vor Eingriffen schützen
„Die Verfassung muss die sich ändernden Zeiten widerspiegeln“, sagte Marianne Birthler, ehemalige Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der DDR. Alle zwanzig, dreißig Jahre könne man mit Zweidrittelmehrheit die Spielregeln des Zusammenlebens wieder neu aufschreiben. Das Bewährte bleibe dabei bestehen: „Das Grundgesetz hat sich bewährt.“ Worüber neu nachgedacht werden müsse, schmelze vermutlich bei einer Bestandsaufnahme „auf vielleicht acht bis zehn Punkte zusammen“.
Bereits nach der Überwindung der beiden Diktaturen in Deutschland habe man sich darüber Gedanken gemacht, wie man in Zukunft zusammenleben wolle. Dazu gehöre beispielsweise, Eigentum an bestimmte Pflichten zu knüpfen oder nicht nur Ehe und Familie zu schützen, sondern das Zusammenleben mit Kindern. Heute gehe es darum, eine breite gesellschaftliche Debatte, etwa um den Schutz des Lebens und wie man aus dem Leben geht, weiterzuführen. Birthler mahnte, mit allen möglichen rechtlichen Schutzbarrieren das Bundesverfassungsgericht vor Eingriffen zu schützen.
„Politik soll keine Angst vor den Menschen haben“
Bürgerräte könnten Politik und Parlament Empfehlungen geben, sagte Birthler. Sie hoffe zudem, dass sich bereits die Kinder in der Schule und mit ihren Eltern über Verfassungsthemen auseinandersetzen. Es brauche eine offene und faire Diskussionskultur. „Jeder schuldet jedem Respekt“, habe der Runde Tisch in der DDR einst formuliert. Vor den Menschen solle die Politik keine Angst haben. Die seien „an einem regelhaftem Zusammenleben interessiert“.
Die Podiumsdiskussion wurde moderiert von der Journalistin Anna Lehmann, Leiterin des Parlamentsbüros der Zeitung taz. (ll/27.05.2024)