Ost-West-Konflikt und Ende einer Ära (1961 bis 1965)
Mitte der sechziger Jahre sieht sich die Regierungskoalition mit großen Herausforderungen konfrontiert. Die Konjunktur der Wiederaufbaujahre lässt nach. In der DDR hat sich eine kommunistische Diktatur etabliert. Nach dem Mauerbau vom 13. August 1961 ist die innerdeutsche Grenze hermetisch abgeriegelt.
Das Ende der Ära Adenauer
Nach der Bundestagswahl am 17. September 1961 ziehen erstmals nur drei Parteien in das Parlament ein: Die Union bleibt mit 45,3 Prozent stärkste Fraktion, verliert jedoch ihre absolute Mehrheit. Die Sozialdemokraten erreichen 36,2 und die Liberalen 12,8 Prozent. Alle anderen Parteien scheitern an der Fünf-Prozent-Hürde.
Union und FDP vereinbaren eine Koalition, nachdem Konrad Adenauer (CDU) seinen Rücktritt im Laufe der Legislaturperiode zugesichert hatte. Er tritt im Oktober 1963 zurück und der Bundestag wählt den Wirtschaftsminister und Vizekanzler Ludwig Erhard (CDU) zu seinem Nachfolger.
Keine Verjährung von Nazi-Verbrechen
Zu den Sternstunden des Parlaments zählt die Debatte um das Recht der Verjährung von Schwerstverbrechen. Nach dem damaligen Recht verjährten Mord, Beihilfe zum Mord und Mordversuch nach 20 und Totschlagsverbrechen nach 15 Jahren. Die Verfolgung nationalsozialistischer Verbrechen hatte 1945 begonnen, die Verjährungsfrist wäre damit im Frühjahr und Sommer 1965 abgelaufen.
Nach intensiven Parlamentsdebatten beschließt der Bundestag 1965 zunächst, die Verjährungsfrist mit der Gründung der Bundesrepublik beginnen zu lassen. Stichtag wurde der 1. Januar 1950. 1969 wird der Bundestag die Verjährungsfrist für Verbrechen, die mit lebenslanger Freiheitsstrafe geahndet werden, abermals verlängern und die Verfolgungsverjährung für Völkermord ganz aufheben.
In der Sommerpause 1964 holt ein Telegramm die Abgeordneten des Bundestages für eine Sondersitzung zurück nach Bonn. Die zuvor von der Regierung gebilligte Erhöhung der Telefongebühreneinheit um vier Pfennige steht in der öffentlichen Kritik. Die oppositionelle SPD-Fraktion hatte eine Sondersitzung wegen der geplanten Erhöhung der Telefon- und Fernschreibgebühren beantragt. Zuvor war der Bundestag erst einmal in der Sommerpause zusammengerufen worden, und zwar 1961 aus Anlass des Baus der Berliner Mauer.
Mit dem Passierschein nach Ost-Berlin
Der Westen bemüht sich um ein entspanntes Verhältnis zum Ostblock. Handelsbeziehungen zu einigen Ostblockstaaten sollen aufgebaut werden. Mit dem Passierscheinabkommen vom 17. Dezember 1963 gelingt es in Berlin erstmals, die Mauer durchlässiger zu machen. Über Weihnachten können West-Berliner wieder ihre Verwandten im Ostteil der Stadt besuchen. Von 1963 bis 1966 werden acht Passierscheinabkommen ausgehandelt, die große Besucherzahlen zur Folge haben.
Innerhalb des Bonner Kabinetts bestehen sehr unterschiedliche Ansichten über die Gestaltung der Beziehungen zu den Ostblockstaaten und zur DDR. Außenminister Gerhard Schröder (CDU) hofft, durch die Aufnahme von Handelskontakten mit den Staaten im sowjetischen Machtbereich in Ostmittel- und Südosteuropa die DDR zu isolieren und für die Sowjetunion auf Dauer untragbar zu machen. 1963 werden deshalb Handelsverträge mit Polen, Rumänien und Ungarn abgeschlossen. Im März 1964 folgt die Unterzeichnung eines entsprechenden Abkommens mit Bulgarien.
Da sein außenpolitisches Konzept auf die umfassende Isolierung der DDR ausgerichtet ist, steht Schröder den Passierscheinabkommen skeptisch gegenüber. Diese werden im Wesentlichen auf Initiative des Ministers für Gesamtdeutsche Fragen, Erich Mende (FDP), und des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Willy Brandt (SPD), ausgehandelt. Ihr Sinn liegt darin, unterhalb der staatlichen und völkerrechtlichen Anerkennung menschliche Begegnungen in Berlin zu ermöglichen und dadurch die deutsche Frage in Bewegung zu halten.
Freundschaftsvertrag mit Frankreich
Die deutsch-französische Beziehung, die sich besonders seit der Präsidentschaft Charles de Gaulles zu einem engen Verhältnis entwickelte, wird im Januar 1963 mit einem Freundschaftsvertrag besiegelt.
Da der Bundestag die deutsch-französischen Beziehungen nicht als exklusive Allianz verstanden wissen will, fügt er dem Abkommen mit Rücksicht auf die USA eine Präambel hinzu. Darin werden die multilateralen Verpflichtungen der Bundesrepublik betont.
Diplomatische Beziehungen zu Israel
Im Mai 1965 nehmen die Bundesrepublik und der Staat Israel diplomatische Beziehungen auf. Daraufhin ziehen fast alle arabischen Staaten – mit Ausnahme Tunesiens, Marokkos und Libyens – ihre Botschafter aus Bonn ab. Ägypten und etliche andere Länder wenden sich verstärkt der DDR zu.
Walter Ulbricht wird vom ägyptischen Präsidenten Gamal Abd el Nasser mit großen Ehren empfangen; zu einer formellen Anerkennung der DDR durch Ägypten kommt es jedoch nicht. Jordanien und der Jemen nehmen schon 1967 beziehungsweise 1969 die Beziehungen zur Bundesrepublik wieder auf.
Volkskanzler Erhard
Der Kanzlerwechsel wird als Einschnitt empfunden und als solcher auch von Erhard verstanden und praktiziert. In seiner Regierungserklärung kündigt Erhard eine „Politik der Mitte und der Verständigung“ und einen „neuen politischen Stil“ an. Nach Jahren des strengen Regiments Adenauers versteht sich Erhard als „Volkskanzler“, bei dem es liberaler und kooperativer zugehen soll.
Bereits im November 1962 ist eine größere Kabinettsumbildung vonnöten: Als Folge der „Spiegel-Affäre“ legt Bundesverteidigungsminister Franz Josef Strauß (CSU) sein Amt nieder. Strauß musste vor allem deshalb zurücktreten, weil er in den Fragestunden am 7. und 8. November 1962 im Bundestag seine Rolle bei der Verhaftung von Conrad Ahlers verschwiegen hatte.
Ahlers hatte die Affäre durch seinen Artikel „Bedingt abwehrbereit“ ausgelöst. Strauß war Bundesminister für besondere Aufgaben und seit 1955 für Atomfragen, bis er 1956 zum Verteidigungsminister berufen wurde. Später wurde er Bundesminister der Finanzen (1966 bis 1969). Von 1978 bis zu seinem Tod 1988 amtierte er als Ministerpräsident des Freistaates Bayern. (lyh/31.07.2017)