Horst Sagert
Ausgewählt – Aus der Kunstsammlung des Deutschen Bundestages
Horst Sagert
Beschwörung bei Neumond – Epitaph für Ulrich Wildgruber (1. Anrufung 2. Erscheinung Wildgrubers), 2002, Diptychon, Digitale Fotocollage, Aufl. 1/ 3 (oben)
Horst Sagert, geboren 1934 in Dramburg (heute Drawsko), Pommern, gestorben 2014 in Berlin
Vor sechs Jahren, am 8. Mai 2014, verstarb Horst Sagert in Berlin. Horst Sagert war ein deutscher Regisseur, Bühnen- und Kostümbildner, aber auch Verfasser eigener literarischer Texte. Er gab vielen berühmten Inszenierungen der Bühnenwerke von Brecht, Goethe und Shakespeare - am Deutschen Theater Berlin und am Schauspielhaus Zürich, am Berliner Ensemble oder an der Freien Volksbühne Berlin – ihr unverwechselbares Gesicht. Legendär ist seine Zusammenarbeit mit dem Brecht-Schüler Benno Besson, für dessen Inszenierung von Jewgeni Schwarz‘ „Der Drache“, eine Parabel über die Diktatur, er ein überwältigendes Bühnenbild schuf. Seit 1989 arbeitete er freischaffend als Maler, Graphiker und Plastiker und hatte sich weitgehend aus der Theaterwelt zurückgezogen.
Die inszenierte Fotografie des Diptychons „Beschwörung bei Neumond – Epitaph für Ulrich Wildgruber: 1. Anrufung 2. Erscheinung Wildgrubers“ widmet sich in abgründig phantastischer Manier dem legendären Zadek-Schauspieler und Shakespeare-Interpreten Ulrich Wildgruber (1937-1999). Es handelt sich um eine digitale Fotocollage mit Elementen des Bühnenbildes für die Aufführung von Shakespeares „Der Widerspenstigen Zähmung“ an der Freien Volksbühne Berlin und dem Deutschen Schauspielhaus in Hamburg unter der Regie von Peter Zadek im Jahre 1981 mit Eva Mattes und Ulrich Wildgruber. Dieser, einer der eigenwilligsten und bedeutendsten Schauspieler Zadeks, beging am 30. November 1999 auf Sylt Selbstmord – aus Verzweiflung über die körperlich-materiellen Begrenzungen künstlerischen Ausdruckvermögens. Sagert schuf „Beschwörung bei Neumond“ in Anlehnung an ein bereits 1979 geschriebenes Textbild als Nachruf, Erinnerung und Würdigung seines Künstlerkollegen Wildgruber – und zugleich als eine tiefgründige Reflexion über den von Wildgruber tragischerweise als unheilbar empfundenen Bruch zwischen Literatur und Leben.
Peter Zadek hat immer wieder Shakespeare inszeniert, dessen dramatisches Genie ihm besonders geeignet erschien, die Kunst des Schauspielens herauszuarbeiten. In „Der Widerspenstigen Zähmung“ sorgt eine Rahmenhandlung, innerhalb derer das Stück von einer Schauspieler-Truppe ausgeführt wird, dafür, dass der Charakter des Künstlichen und Künstlerischen von Beginn an deutlich wird. Im Mittelpunkt des Bühnenstücks steht die Frage nach dem rechten Maß von Individualität und gesellschaftlicher Rücksichtnahme und – in einem tieferen Sinne, wie sich auch aus der Rahmenhandlung ergibt –, die Frage nach Sein und Schein und die Vergegenwärtigung des Lebens als einem Traum. Diese Komödie Shakespeares ist zugleich eine Feier des Mutes zur Individualität, gerichtet gegen die Konventionen von Liebe und Ehe in einer kaufmännisch bestimmten Handelswelt. Petruchio, der scheinbar rabaukenhafte Mann, und die aufmüpfige Katharina brechen aus diesen Konventionen aus und finden zu einem tieferen partnerschaftlichen Verständnis: „Ihr seid ein Missklang, wir sind ein Duett“, stellt Petruchio mit Blick auf die konventionellen Partnerschaften seines Schwagers und dessen Freundes fest.
Dieses Thema, der Aufstand gegen gesellschaftliche Zwänge, bot einen idealen Anknüpfungspunkt für den „besten Wilden“ (Gerhard Stadelmaier) des deutschen Theaters, Peter Zadek (1926-2009). Mit Peter Stein und Rainer Werner Faßbinder begründete er den „Bremer Stil“, indem er versuchte, die Konventionen des bildungsbürgerlichen Theaters durch ein explizites Regietheater zu brechen. „Das ist nicht unser Shakespeare, es wurde nur gebrüllt und geschwitzt“, soll sich ein Besucher der Othello-Inszenierung Zadeks im Jahre 1976 empört haben, wie Eva Mattes berichtet, die damals die Desdemona spielte. Ulrich Wildgruber gab diesen Inszenierungen mit seiner eigenwilligen Interpretationskunst seinen unverwechselbaren Stil.
Nicht weniger eigenwillig als Zadeks Inszenierungs- oder Wildgrubers Interpretationsstil ist die bühnenbildnerische Kunst von Horst Sagert. Sein Bühnenbild betont jedoch eher das Zaubermärchenhafte (die Handlung geht auf eine alte orientalische Fabel zurück), das Somnambule bis bedrohlich Tiefenpsychologische der Welt der Komödien Shakespeares. Zugleich entlarvt Sagert mit der Verwendung einfacher leichter Stoffe, ihrer scheinbar provisorischen, wie in letzter Sekunde erstellten Zusammenfügung immer wieder das Schauspiel als Schauspiel. So erreicht er im gleichen Sinne wie die Rahmenhandlung und gewissermaßen als Verfremdungseffekt nach Bertolt Brecht, dass die Kunst der Schauspieler und die Kunst des Regisseurs besonders deutlich exponiert werden – eines der Hauptanliegen der Shakespeare-Inszenierungen Zadeks. Zwar empfand der Theaterkritiker Hellmuth Karasek, dass die Qualität des Bühnenbildes, die „Scherenschnitt-Träume“ Horst Sagerts, „Reibung und Widerstand“ gegen den Inszenierungsstil des Regisseurs erzeugt hätten – dennoch war Zadek selbst überzeugt, dass gerade das Bühnenbild ihm die Inszenierung gerettet habe. Zadek bekannte später, dass er Probleme habe, Shakespeare zu inszenieren und bis heute nicht verstehe, warum die damalige Inszenierung „Der Widerspenstigen Zähmung“ so gut geworden sei, es sei denn „vielleicht wegen des unsagbar schönen Bühnenbildes von Horst Sagert“. Zugleich räumte er jedoch ein, dass Sagert infolge der Qualität seines Bühnenbildes die Aufführung dominiert habe.
In seiner Kritik geriet Hellmuth Karasek ins Schwärmen: „Sagerts Bühnenbild, das für diese Frauenzwinger-Welt ein orientalisches Märchenbuch-Pendant fand, ist wunderschön und Shakespeare-nah in seiner sperrigen Hauchzartheit: Der Orient entspricht dem Frauenbild der Stückzeit, das Märchenhafte aus duftzarten Palmen, schäbig-bezaubernden Fabelpferden und mit seinen in jedem Lufthauch zitternden Stofftürmchen und -häusern entspricht dem Komödiengeist, dem Stoff, aus dem die Träume sind.“ So wird im fragilen Bühnenbild Sagerts sowohl die scheinbare „Kraftmeierei“ eines Shakespeare und der Figur des Petruchio als auch die des „wilden“ Peter Zadeks oder Ulrich Wildgrubers als Balanceakt des Künstlers am Rande des Abgrundes enthüllt – Ulrich Wildgruber sollte der Balanceakt im wirklichen Leben am Ende nicht mehr gelingen.
Aus der Tragik dieses Künstlerschicksals entwickelt Sagert sein „Epitaph“ als Denkmal für den verstorbenen Wildgruber: Im Mittelpunkt der beiden Collagen steht der „Thron“ aus der damaligen Shakespeare-Inszenierung, Thron für den Herzog und für den als Herzog ausgegebenen Kesselflicker, Thron, auf dem Petruchio Platz nimmt und sich durch diese „Inthronisation“ als „Kraftmeier“ inszeniert. Zwei Glücksvögel zieren als eudämonisches Amulett für künftiges Ehe- und Lebensglück den Thron, ihnen entgegengesetzt aber drohen zwei Dämonen. Die Rückenlehne hingegen zeigt wie einen Abwehrzauber den Erzengel Michael als Drachentöter - übernommen von der Rückseite der Blüchermedaille Karl Friedrich Schinkels aus dem Jahre 1816. So changiert der Thron in surrealer Abgründigkeit zwischen der Aussicht auf virilen Lebensvollzug und dessen fortwährender Bedrohung durch dämonische Kräfte. In der Fotocollage wird der Thron selbst zu einem bedrohlichen, fast schon lebendigen Wesen. Bereits der Titel – „Beschwörung bei Neumond“ – sowie der Untertitel der ersten Fotocollage „Anrufung“ deuten an, dass es nicht mit rechten Dingen zugeht, sondern eine unheimliche Nachtszene geschildert wird. Auf der zweiten Fotoarbeit, die die gleiche Szenerie zeigt, der „Erscheinung Wildgrubers“, ist im Hintergrund ein Foto des Schauspielers zu erkennen, als Petruchio vermutlich auf eben jenem Thron sitzend. Im Vordergrund steht jedoch der wie ein lebendiges und bedrohliches Wesen wirkende Thron: Fauchende Dämonen mit blutrotem Rachen haben sich seiner bemächtigt, ein Totenkopf erscheint, farbig-schillernde Schmetterlinge, Falter, tote Fliegen und Stecknadeln mit gefährlich leuchtenden Köpfen bedecken ein in farbigen Kreisen delirierendes Pandämonium, in das wie ein Memento mori immer wieder das Todesdatum Wildgrubers, der „29.11.1999“, eingeblendet wird sowie der rätselhafte Satz: „Ulrich Wildgruber 18.11.1937 Leicht im vielleicht, im Unerwiesenen eingelebt?“ So ist Sagert eine beeindruckende Reflexion über Literatur, Theater und Künstlertum gelungen – mit einem Werk, das sich in seiner einzig- und eigenartigen Gestaltung allen künstlerischen Kategorisierungen entzieht: „Beschwörung bei Neumond“ ist skulptural-installativ, szenische Fotografie, Fotocollage und Text-Bild-Collage zugleich, ist persönlich-subjektiver Nachruf, Künstler-Hommage sowie ein kongeniales „Schauspiel“ über Sein und Schein und über den Abgrund zwischen Leben und Kunst.
Beschwörung bei NeumondDie heiteren, heiligen Luftkanäle sind die
Gräber für den Vogelflug zum fallen
leicht geschwätzige Katakombenzungen
umschweben die Wipfel singen mit den
Vogelnestern der Frühling fordert von
ihnen alles ihre Lieder erobern Baum und
Vogel den Wald. Schlafe gut, Schlaf,
schlafe Schlaf! Gute Nacht, Wald.
Schlaf in deinem Regen. Wir wollen un-
sere späteren Körper heut‘ unter deine
Wurzeln legen. (Über Schlafregen herge-
fallener Regen will die Blätter sanft be-
wegen) In den Flügel glänzt von Him-
mel bewachsen das Fliegen, erlischt wie
Gischt zerbricht tief im kühlen Silber,
verweht und zerschlägt das ausgestreute
Heute, will schlafen in der Beute. Aus
den ausgeglühten Silberbrocken schlagen
Diamenten-Beile ausgewählte Augen –
Stücke, Flügelstücke, flugzarte, flug-
starke Silber-Süchte, schneiden Güldisch
und Gekrätz aus den Erden-Güssen, ho-
hes Töne-Schweif-Werk durch die Esels-
kehlen, aus dem Neumond Nacht-Falter
werben, es will Nacht werden, aus schö-
nen Flug-Erden fallen Taumel-Scherben.
Von hellen Sternen umstellt, liegt in
ihrem dunklen Leibe die Nacht. (Ihr
Bäume, es soll kein Baum sein, nur ein
Blatt, das singt an der Wurzel.) Sonnen-
sand vom feinen Korn, nachts gebrannt
im goldenen Horn durch die Wälder ge-
weht, in die Felder gesät.
(akae)
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