Joannis Avramidis
geboren am 23. September 1922 in Batum, Sowjetrepublik Georgien, gestorben am 16. Januar 2016 in Wien
Mit 93 Jahren ist der griechische Bildhauer Joannis Avramidis in Wien gestorben. Er gilt als einer der letzten Vertreter einer Bildhauerei, in deren Mittelpunkt die Auseinandersetzung mit der Frage nach den Proportionen des menschlichen Körpers steht. Seine Suche nach einer Formel für ein allgemeingültiges Modell der Proportion stellt seinen künstlerischen Ansatz in die Tradition der Proportionsstudien Leonardo da Vincis oder Albrecht Dürers.
Charakteristisch für sein Werk sind säulenartige Standfiguren, die an klassische antike Skulpturen wie die Hera von Samos (heute im Louvre) erinnern. Sie sind aus übereinandergeschichteten Horizontal- und Vertikalschnitten des Körpers geometrisch aufgebaut, wirken aber zugleich organisch durch ihre schwellenden Außenkonturen, die den Rundungen der Körperform folgen. Ihre Gestaltung ist das Ergebnis immer neuer Variationen, mit den Avramidis, ausgehend von präzisen zeichnerischen Vorarbeiten, die Möglichkeiten weiterer Reduzierung und Komprimierung des menschlichen Körpers durchspielt. Durch diese Reduktion auf das Wesentliche, von dem nichts mehr weggenommen und zu dem nichts mehr hinzugefügt werden kann, gewinnen seine Skulpturen ihre beeindruckende Strenge, ihre Kraft und ihren Rhythmus: Sie behaupten sich unverrückbar als „vollkommen erfassbare Form“ (J.A., 1967) im Raum.
Zu seinen bekanntesten Schöpfungen gehören blockartige Figurengruppen, von denen eine vor der Neuen Nationalgalerie in Berlin zu sehen ist. Im Unterschied zu Rodins Skulptur „Die Bürger von Calais“, bei der jeder einzelne der Bürger unterschiedliche Affekte zeigt, fasst Avramidis seine Figuren zu einem geschlossenen Ensemble zusammen. So betont er den Aspekt der Gemeinschaft, spiegelt darin den Grundgedanken des Zusammenwirkens gleichberechtigter Individuen in der antiken Bürgergesellschaft, der „Polis“ - die dementsprechend der Skulptur vor der Neuen Nationalgalerie den Titel gegeben hat.
Eine weitere bedeutende Werkgruppe stellen seine Kopfskulpturen dar. Auch diese reduziert er immer weiter auf ihre Grundform, indem er entweder den Kopf bis zur letztmöglichen Aussage auf die Geometrie eines Rundkörpers zurückführt, oder indem er ihn aus Flächen zu kubisch-kantigen Blöcken fügt, die wie Idole aus archaischer Zeit fremd und unangepasst in die Gegenwart hineinragen. Eine solche kubische Kopfskulptur wurde in einem der südlichen Außenhöfe des Paul-Löbe-Hauses aufgestellt, wo sie ein reizvolles Spiel mit den geometrisch geschnittenen Buchsbaumhecken eingeht.
Der Lebensweg von Joannis Avramidis spiegelt die Verwerfungen des 20. Jahrhunderts wider: Seine Eltern, Griechen aus der Provinz Pontos, entzogen sich den Verfolgungen im Osmanischen Reich durch die Flucht in die damalige Sowjetrepublik Georgien, wo Joannis Avramidis in Batum am Schwarzen Meer geboren wurde. 1937 begann er dort sein Kunststudium, das er aber bereits zwei Jahre später abbrechen musste, weil sein Vater Opfer der Verfolgungen unter Stalin wurde. Avramidis selbst wurde während des Zweiten Weltkrieges als Zwangsarbeiter nach Wien verschleppt. Nach dem Krieg begann er in Wien zunächst das Studium der Malerei, ehe er bei Fritz Wotruba, einem der bedeutendsten Bildhauer Österreichs, zum skulpturalen Schaffen fand. Nach rascher in- und ausländischer Anerkennung übernahm er schließlich von 1968 bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1992 eine Professur für Bildhauerei an der Akademie der bildenden Künste in Wien.
Das Unverwechselbare seiner Skulpturen manifestiert sich im Zusammen- und Widerspiel von geometrischer Konstruktion und Abstraktion auf der einen und der Wiedergabe und Erkennbarkeit der auf ihre Urform reduzierten menschlichen Figur auf der anderen Seite. So rufen seine Skulpturen noch einmal jenen Durchbruch zur Moderne Anfang des 20. Jahrhunderts in Erinnerung, als Künstler wie Constantin Brancusi, Alberto Giacometti, Amedeo Modigliani, Oskar Schlemmer oder Fernand Léger den großen utopischen Entwurf wagten: Joannis Avramidis hat ihr Vermächtnis in die Gegenwart getragen. (akae)
Dank: Frau Julia Frank-Avramidis, Wien
Das Kunsthaus Lempertz Berlin zeigt vom 29. Januar bis 24. Februar 2016 eine umfassende Avramidis-Werkschau, die der Künstler noch persönlich vorbereiten konnte.