Christo und Jeanne-Claude
Christo Javacheff, geboren am 13. Juni 1935 in Gabrovo, Bulgarien, gestorben am 31.Mai 2020 in New York City
Jeanne-Claude Marie Denat, geboren am 13. Juni 1935 in Casablanca, Französisch-Marokko, gestorben am 18. November 2009 in New York City
In diesem Jahr, am 13. Juni 2020, hätte Christo seinen 85. Geburtstag gefeiert, kurz vor dem 24. Juni, dem 25. Jahrestag der Reichstagsverhüllung. Am 31. Mai 2020 jedoch ist Christo in New York in seinem Haus verstorben.
Sein Name steht für die bis dahin folgenreichste und am heftigsten geführte parlamentarische Debatte zur Kunst im Deutschen Bundestag, die mit einer Kampfabstimmung ausgetragen werden musste. Durch sein Projekt des „Verhüllten Reichstags“ verließ die Kunst in Deutschland endgültig den ihr bisher zugestandenen engen Rahmen musealer Präsentation, vorgegebener Kunst-am-Bau-Projekte oder der skulpturalen Aufwertung von Plätzen und Parks: Christos Installation eroberte sich, undenkbar bis dahin, mit unnachahmlich silbrig flirrender Eleganz ein Parlamentsgebäude, das künftige „Forum der Nation“.
In jungen Jahren aus dem kommunistischen Bulgarien geflohen, war Christos Anliegen stets der Kampf für Freiheit, nicht politisch unmittelbar, sondern vielschichtiger angelegt im Sinne eines veränderten und verändernden Blicks auf die Dinge: So zielten die Projekte von Christo und Jeanne-Claude darauf ab, durch künstlerische Eingriffe die Welt gerade dort, wo Veränderung unwahrscheinlich oder schwierig schien, neu und überraschend zu inszenieren. Sie sicherten durch die Deutungsoffenheit ihrer Werke diese vor jeder Zweckhaftigkeit oder ideologischen Instrumentalisierung - und durch ihre Unverkäuflichkeit und Vergänglichkeit auch vor finanzieller oder institutioneller Vereinnahmung. Dass ihre Werke nur noch in den Dokumentationen, Erzählungen und Kopfbildern der Menschen weiterlebten, verlieh ihrer Kunst vollkommene Autonomie und gab ihr die Leichtigkeit und Ungreifbarkeit eines Naturphänomens.
Als sich im Jahre 2015 zum zwanzigsten Mal die Verhüllung des Reichstagsgebäudes jährte, kehrte Christo mit einer Dokumentation des Projektes in das Reichstagsgebäude zurück: Ein besonders beeindruckendes Exponat der dort ausgestellten Dokumentation ist das große Modell des verhüllten Reichstagsgebäudes und seiner Umgebung. Es ist ein Modell aus dem Jahre 1981, mit dem Christo und Jeanne-Claude ihre Idee den Parlamentariern vorgestellt hatten. Unmittelbar hinter dem Modell des Reichstagsgebäudes ist noch die Mauer zu sehen, die einst Ost und West trennte. Das fragile Modell weckt die Erinnerung daran, dass dem „Verhüllten Reichstag“ ein über zwei Jahrzehnte dauerndes Werben von Christo und Jeanne-Claude bei den politisch Verantwortlichen vorausgegangen war. Erst eine Plenardebatte am 25. Februar 1994 mit anschließender namentlicher Abstimmung erbrachte die Zustimmung des Bundestages.
Zu diesem Zeitpunkt war die Berliner Mauer bereits gefallen. Dadurch gewann das Projekt von Christo und Jeanne-Claude einen neuen, aber nicht minder symbolträchtigen Sinngehalt. Denn wie das Modell mitsamt der Berliner Mauer zeigt, hätte der „Verhüllte Reichstag“ ein Signal an der Trennlinie zwischen Ost und West gesetzt. Nach der Vereinigung Deutschlands und dem Beschluss, das Reichstagsgebäude zum Sitz des Bundestages zu erheben, eröffnete das historische Parlamentsgebäude dank der Verhüllung nunmehr einen neuen Ausblick auf Gegenwart und Zukunft: Indem die silberfarbenen Stoffbahnen vorübergehend die komplexe Struktur des Reichstagsgebäudes verbargen und es dem Betrachter blockhaft als geschlossene Form in überraschender Einheit vorstellten, bot sich die Chance des Innehaltens und des Nachdenkens über die bewegte Geschichte des Reichstagsgebäudes und der Deutschen und über ihre Hoffnung, nach Jahrzehnten der Trennung auch emotional wieder zusammenzufinden. So brachte die Verhüllung sowohl die hoffnungsvolle Zukunftserwartung auf die von Berlin ausgehende Politik als auch die Ungewissheit der mit diesem Aufbruch verbundenen wagnisreichen Zeit sinnfällig zum Ausdruck.
Mit der Dokumentationssammlung von Christo im Reichstagsgebäude eröffnet sich aber nicht nur ein Rückblick auf die seit der Kunstaktion nunmehr vergangenen fünfundzwanzig Jahre und die damals gehegten Hoffnungen und Sorgen. Die Dokumente und Kunstwerke bieten vielmehr den Blick auf ein Kunstprojekt, das wie wenige zuvor in die Politik hinein gewirkt und an dieser Epochenschwelle gleichermaßen zur Selbstfindung der Deutschen wie zu ihrer Wahrnehmung in der Welt einen entscheidenden Beitrag geleistet hat. Der „Verhüllte Reichstag“ gehört seitdem zu den Bildern und Erinnerungen, die fester Bestandteil der deutschen Geschichte geworden sind.
So verliert Deutschland mit Christo einen Künstler, dem das Land mehr als die Schönheit des „Verhüllten Reichstags“ und die mit diesem Kunstereignis verbundenen magischen Momente verdankt. Dass Künstler heute mit großer Selbstverständlichkeit in den Dialog mit der Politik einbezogen werden, dass die Politik von sich aus Kunst als integralen Bestandteil ihres Wirkens und ihres Selbstverständnisses begreift, auch der Durchbruch zu dieser Teilhabe und Gemeinsamkeit verdankt sich Christos bedeutendstem Kunstprojekt, dem „Verhüllten Reichstag“. (akae)