Statement zum Jahresbericht 2024, Bundespressekonferenz
Sehr geehrte Damen und Herren,
in diesem Jahr begehen wir den 75. Jahrestag der Verabschiedung des Grundgesetzes und zugleich das 35. Jubiläum der Friedlichen Revolution und des Mauerfalls.
„Achtung und Schutz der Würde und Freiheit der Persönlichkeit sind Gebot für alle staatlichen Organe, alle gesellschaftlichen Kräfte und jeden einzelnen Bürger.“
Dies ist nicht eine Textpassage aus unserem Grundgesetz. Nein. Es ist Artikel 19 aus der Verfassung der DDR. Der Verfassung eines repressiven Staates, in dem über die Jahrzehnte seines Bestehens hunderttausende Menschen zu Opfern von politischer Gewalt wurden. Der Text einer Verfassung kann Menschen nicht vor staatlichem Unrecht schützen. Hierfür braucht es ganz besonders engagierte Bürgerinnen und Bürger und starke Institutionen, die für Demokratie und den Rechtsstaat einstehen.
Die politische Gewalt in der SED-Diktatur und ihre bis heute andauernden Folgen für die Betroffenen, führen uns vor Augen, dass die Demokratie und die Freiheit jedes Einzelnen nicht selbstverständlich sind. Gerade mit Blick darauf, bin ich überzeugt davon, dass die Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur uns dabei helfen kann, sensibel zu sein für den besonderen Wert unserer freiheitlichen Demokratie.
Im letzten Jahr gab es im Bundestag eine große Gedenkstunde zum Jahrestag des DDR-Volksaufstandes. Die Opfer der Diktatur, gewürdigt im Herzen unserer Demokratie. Für mich ein ganz wichtiges Zeichen. Nach der Gedenkstunde sprach mich ein ehemaliger politischer Häftling, der mehr als ein halbes Jahrzehnt im Gefängnis in Bautzen einsaß, sichtlich bewegt von den Eindrücken des Festaktes an und sagte zu mir:
„Ich bin dankbar für all die Aufmerksamkeit und Wertschätzung, die wir als Opfer hier heute erleben. Aber Kränze und Gedenkstunden allein, lösen leider unsere heutigen Probleme nicht.“
Die öffentliche Würdigung der Opfer. Ja, sie ist wichtig. Wir senden damit ein Signal an die Opfer: „Wir vergessen euch nicht“. Aber: Wenn die konkrete Hilfe für die Betroffenen hinter der öffentlichen Wertschätzung zurückbleibt. Dann kann das öffentliche Gedenken zu einer leeren Hülle werden. Ob es uns gelingt, die öffentliche Wertschätzung und die konkrete Unterstützung der Opfer in Einklang zu bringen. Darüber werden ganz wesentlich die nächsten Monate entscheiden.
Der Startschuss dafür ist gefallen. Das Bundesjustizministerium hat in den letzten Tagen einen Entwurf für die Überarbeitung der SED-Unrechtsbereinigungsgesetze vorgelegt. Der Vorschlag von Bundesjustizminister Buschmann enthält einige gute Punkte. Insbesondere die Dynamisierung der Opferrente und der Ausgleichsleistung für Beruflich Rehabilitierte. Dafür bin ich als Opferbeauftragte wirklich dankbar.
Unter dem Strich aber, wirkt der Vorschlag mutlos auf mich. Mutlos, weil er an vielen, den eigentlichen Problemen der Opfer, vorbeigeht. Das sage ich so deutlich, weil der Koalitionsvertrag den Opfern einen größeren Wurf versprochen hat. Und, das sage ich so deutlich, da der Bundestag im letzten Sommer die Bundesregierung aufgefordert hat, bei dieser Gesetzesnovelle die Impulse der SED-Opferbeauftragten, meine Impulse, zu berücksichtigen. Von meinen Impulsen kann ich im Vorliegenden jedoch nur Konturen erkennen.
Das, was wir heute aber hier und jetzt für die Opfer brauchen, möchte ich Ihnen beispielhaft anhand von zwei konkreten Punkten zeigen. Zwei Punkte, die direkt auf den Koalitionsvertrag aufbauen und die ich im aktuellen Vorschlag des Justizministers vermisse. Mein Jahresbericht, den ich mit dem heutigen Tag vorlege, enthält weitere wichtige Punkte.
Erstens: Wir brauchen eine angemessene Erhöhung der Opferrente! Ich bin Marco Buschmann dankbar, dass sein Entwurf die Dynamisierung der Opferrente enthält. Steigen die Renten, steigt auch die Opferrente. Ein überzeugendes Konzept! Aber, das Ganze hat einen Haken! Dynamisierung ja, allerdings aber erst, so die Pläne, ab Januar 2025. All die wesentliche Entwicklungen davor, die Inflation, die Preissteigerungen der letzten Jahre, all das soll völlig unberücksichtigt bleiben. Oder um es in Zahlen auszudrücken: Auf Grundlage der Rentenschätzung, wird die Erhöhung der Opferrente nur 9 € betragen. 9 €, fünf Jahre nach der letzten Erhöhung. Ich möchte es ganz deutlich sagen: Es liegt nicht in der Verantwortung der Betroffenen, dass die Bundespolitik mehr als drei Jahre gebraucht hat, um hier endlich tätig zu werden. Gerade vor diesem Hintergrund sollten wir der Dynamisierung eine Erhöhung voranstellen. Ich höre dann immer das Finanzargument: „Naja, Frau Zupke, das kann sich doch niemand leisten.“ Lassen Sie sich nicht täuschen. Die Ausgaben für die SED-Opfer sind in den letzten Jahren ganz deutlich gesunken. Dies hängt ganz wesentlich mit dem hohen Alter der Betroffenen zusammen. Die Opfer werden weniger. Das, was unser Land für die Betroffenen ausgibt, ist allein im letzten Jahr um rund fünf Millionen Euro gesunken und somit auf dem niedrigsten Niveau der letzten vier Jahre.
Wenn wir also darüber sprechen, die Opfer der SBZ-/SED-Diktatur besser zu unterstützen und ihnen mehr Hilfen zu gewähren, dann ist dies nicht in erster Linie eine Frage des Geldes. Es ist viel mehr eine Frage des Willens.
Zweitens: Wir brauchen eine grundsätzliche Vereinfachung bei der Anerkennung von verfolgungsbedingten Gesundheitsschäden. Die Fakten sind bekannt. Die breite Mehrheit der Opfer scheitert mit ihren Anträgen am Nachweis des kausalen Zusammenhangs zwischen der heutigen Schädigung, wie einer Angststörung, und der erlebten Repression, wie der politischen Haft. Seit Jahren kämpfen die Opferverbände, die Landesbeauftragten und auch ich hier für Vereinfachungen. Endlich Licht am Ende des Tunnels, haben wir alle gedacht, als vor zweieinhalb Jahren der Koalitionsvertrag kam und hier endlich eine Erleichterung ankündigte. Diese Erleichterung aber sucht man im vorliegenden Vorschlag des Justizministeriums vergebens. Vielmehr wird auf das bestehende Gesetz zur sozialen Entschädigung verwiesen. Ein Gesetz, was der Bundestag 2019, zwei Jahre vor Unterzeichnung des Koalitionsvertrages, beschlossen hat und bei dem die letzten Regelungen Anfang dieses Jahres in Kraft getreten sind. Damit werden „etwaigen Schwierigkeiten“ bei der Anerkennung der Gesundheitsschäden „angemessen Rechnung“ getragen, so das Bundesjustizministerium. Die Regelung aus diesem Gesetz. Die Regelung, dass von einem Zusammenhang zwischen schädigendem Ereignis und heutigem Gesundheitsschaden auszugehen ist, wenn dies nicht durch einen anderen Kausalverlauf widerlegt wird. Diese Regelung bestimmt nicht erst seit 1. Januar dieses Jahres die Anerkennungspraxis. Nein, sie gilt schon seit 18 Jahren! Um das zu wissen, hätte ein Blick in das Gesetz genügt. Dort heißt es in der Begründung wörtlich, ich zitiere:
„Durch das Einführen einer widerlegbaren Vermutung wird der wesentliche Inhalt des Urteils des Bundessozialgerichtes (BSG) vom 12. Juni 2003 in den Gesetzestext übernommen.“
Und, weiter:
„Diesem Urteil hatte sich auch das Bundessozialministerium mit Rundschreiben vom 9. Mai 2006 an die Länder angeschlossen und im Interesse einer gleichmäßigen Durchführung um Beachtung und Anwendung gebeten.“
Seit 2006. Seit 18 Jahren bestimmen diese Regelungen die Anerkennungspraxis. Und seit Jahrzehnten scheitern die Betroffenen auf Grundlage genau dieser Regelungen. Wenn man nur auf die Zahlen blickt, hat dieses Scheitern etwas Abstraktes. Es geht hier aber ganz konkret um Menschen. Menschen, wie eine Frau aus Schleswig-Holstein, die ich Anfang Mai kennenlernen durfte und deren Geschichte mich bewegt hat. Sie steht stellvertretend für das, was die Opfer erleben müssen. Zu DDR-Zeiten stellte sie als junge Frau mit ihrem Mann einen Ausreiseantrag. Insbesondere für ihre damals fünfjährige Tochter wünschte sie sich in Freiheit und Selbstbestimmung leben zu können. Dass sie ihrem in Westberlin lebenden Bruder von ihrem Ausreisewunsch in einem Brief berichtete, wurde ihr zum Verhängnis. Gemeinsam mit ihrem Mann wurde sie wenige Wochen später vor den Augen ihrer Tochter verhaftet. Während der Weg der Tochter in ein Kinderheim führte, wurde sie wegen „ungesetzlicher Verbindungsaufnahme“ verurteilt und schließlich im berüchtigten Frauengefängnis Hoheneck inhaftiert. Ihr Haftalltag war bestimmt von Demütigungen, Zwangsarbeit und unzureichender medizinischer Versorgung. Freigekauft in den Westen, erzählte sie über Jahre niemandem in ihrer neuen Heimat in Flensburg von den traumatischen Erlebnissen. Zu groß war die Angst vor der Staatssicherheit und insbesondere davor, nicht verstanden zu werden. Über Jahre verdrängte sie ihre Erlebnisse. Ganz „normal“ leben, wie jede andere, war ihr Ziel.
Doch Anfang der 2000er-Jahre holten sie die Jahre im Gefängnis ein. Schlafstörungen, Angstzustände, eine lähmende Angst, die sie in ihrem Alltag begleitete und die es ihr zunehmend unmöglich machte, ihren Beruf auszuüben. Die Ärzte diagnostizierten bei ihr eine Angststörung und eine Posttraumatische Belastungsstörung. Vor fünfzehn Jahren stellte sie ihren ersten Antrag auf Anerkennung ihrer Gesundheitsschäden und scheiterte. Das Amt sah keinen Zusammenhang zwischen den heutigen Gesundheitsschäden und der erlebten Repression in den Gefängnissen der SED-Diktatur. Andere, neuere Lebensereignisse, wie der zeitweise Verlust des Arbeitsplatzes, wären wahrscheinlicher für ihre heutige gesundheitliche Schädigung, so die Ämter. Ihr wurde der Zugang zu dringend benötigten Hilfen verwehrt. Sie kämpfte weiter und zog schließlich vor Gericht. Auch dort scheiterte sie. Das Gericht kam zu der Auffassung, dass das Versorgungsamt nach den geltenden Regelungen gehandelt habe.
Regelungen, die, wie berichtet, seit 2006 bis zum heutigen Tag unverändert gelten. Und, die nach dem Willen des vorgelegten Entwurfs des Justizministeriums, auch weiterhin gelten sollen. Es sind Regelungen aus einem Entschädigungsrecht, welches im Wesentlichen auf die Unterstützung von Opfern körperlicher und psychischer Gewalttaten in unserer heutigen Gesellschaft ausgerichtet ist. Nicht jedoch den spezifischen Hintergründen der Repression, wie z.B. politische Haft in der SED-Diktatur, Rechnung trägt.
Wenn ich dann höre. „Frau Zupke, wir können die SED-Opfer doch nicht besser als andere behandeln“. Dann sage ich ganz deutlich: „Gleiches sollten wir gleich, aber ungleiches ungleich behandeln.“ Die Opfer von staatlicher Gewalt in der SED-Diktatur. Dass ihre Gesundheit durch Repression in der Diktatur und nicht in der Demokratie geschädigt wurde. Dies kann und darf ihnen nicht länger zum Nachteil gereichen.
Die Forschung weist uns klar den Weg. Aktuelle Forschungsergebnisse, wie die der Charité Berlin, zeichnen ein ganz klares Bild. Allein rund 60 Prozent der weiblichen ehemaligen politischen Gefangenen leiden heute unter einer Angststörung. Dieser Wert ist fünfzehn Mal höher als in der Normalbevölkerung.
Wir dürfen an den Ergebnissen der Forschung nicht länger vorbeigehen. Sie sollten für uns Grundlage sein für ein einfacheres und gerechteres Anerkennungssystem. Ich werbe daher dafür, dass wir in den SED-Unrechtsbereinigungsgesetzen, den Gesetzen, die die Unterstützung für die SED-Opfer regeln, dass wir hier, für die Anerkennung der Gesundheitsschäden, eine kriterienbasierte Vermutungsregelung ergänzen. Wenn die Opfer die erlebte Repression nachweisen können. Sei es politische Haft oder Zersetzungsmaßnahmen. Und wenn eines der definierten Krankheitsbilder, wie die Posttraumatische Belastungsstörung, diagnostiziert ist. Dann sollte der Zusammenhang als gegeben vorausgesetzt werden und der Weg zur Unterstützung offen sein.
Dies ist einer meiner zentralen Impulse für die Gesetzgebung. Und es ist die Erleichterung, die der Koalitionsvertrag für die Opfer der SBZ- und SED-Diktatur angekündigt hat. Dafür werbe ich in der Politik. Ich werbe bei den Fraktionen im Deutschen Bundestag und ganz bewusst auch bei der Fraktion des Bundesjustizministers. Es war seine Fraktion, die Fraktion der Freien Demokraten, die im Bundestag in der letzten Wahlperiode zu 30 Jahre Friedliche Revolution bei der Anerkennung der Gesundheitsschäden sogar die Beweislastumkehr forderte.
Zum 35. Jahrestag von Friedlicher Revolution und Mauerfall hat der Bundestag es nun in der Hand. Die mutigen Menschen in der DDR, die sich dem System in den Weg gestellt haben, zu würdigen. Und gleichzeitig die Betroffenen des staatlichen Unrechts, die Menschen, die heute unsere Hilfe brauchen, nach Kräften zu unterstützen.
Vielen Dank!