Vertrauensfrage und vorzeitige Neuwahlen
Der Bundestag hat am Montag, 16. Dezember 2024, Bundeskanzler Olas Scholz (SPD) in einer Sondersitzung mit der Mehrheit von 394 Abgeordneten das Vertrauen verweigert. Scholz hatte am Mittwoch, 11. Dezember, seinen Antrag gemäß Artikel 68 des Grundgesetzes (Vertrauensfrage) in den Bundestag eingebracht (20/14150). Darin heißt es: „Gemäß Artikel 68 des Grundgesetzes stelle ich den Antrag, mir das Vertrauen auszusprechen. Ich beabsichtige, vor der Abstimmung am Montag, dem 16. Dezember 2024, hierzu eine Erklärung abzugeben.“
An der namentlichen Abstimmung nahmen 717 von 733 Abgeordneten teil. Nur 207 Abgeordnete sprachen dem Kanzler das Vertrauen aus, 116 Abgeordnete enthielten sich. Um das Vertrauen des Bundestages zu erhalten, hätten mindestens 367 Abgeordnete Scholz das Vertrauen aussprechen müssen. Bundestagspräsidentin Bärbel Bas teilte das Abstimmungsergebnis nach Verkündung dem Bundespräsidenten Dr. Frank-Walter Steinmeier mit.
Der Bundeskanzler suchte im Anschluss an die Abstimmung im Bundestag den Bundespräsidenten auf und schlug ihm vor, den Bundestag aufzulösen. Der Bundespräsident hat nun 21 Tage Zeit zu entscheiden, ob er den Bundestag auflöst. Vor seiner Entscheidung führt er Gespräche mit den Vorsitzenden aller im Bundestag vertretenen Fraktionen und Gruppen. Entscheidet sich Steinmeier dafür, den Bundestag aufzulösen, müssen innerhalb von 60 Tagen Neuwahlen stattfinden. Diese Frist legt das Grundgesetz fest. Der Bundespräsident bestimmt das Wahldatum.
Mindestfrist zwischen Vertrauensfrage und Abstimmung
Dieses Verfahren ist in Artikel 68 Absatz 1 des Grundgesetzes geregelt. Im Absatz 2 ist vorgeschrieben, dass zwischen dem Stellen der Vertrauensfrage und der Abstimmung darüber mindestens 48 Stunden liegen müssen, sodass sich die Abgeordneten ihr Abstimmungsverhalten reiflich überlegen können.
Der Artikel 68 ist in den 75 Jahren seit Bestehen des Grundgesetzes unverändert geblieben. Die Weimarer Reichsverfassung (WRV) hatte in ihrem Artikel 54 festgelegt: „Der Reichskanzler und die Reichsminister bedürfen zu ihrer Amtsführung des Vertrauens des Reichstages. Jeder von ihnen muss zurücktreten, wenn ihm der Reichstag durch ausdrücklichen Beschluss sein Vertrauen entzieht.“ Eine Vertrauensfrage oder ein konstruktives Misstrauensvotum (Artikel 67 des Grundgesetzes) kannte die WRV noch nicht.
Fünf Vertrauensfragen seit 1949
Fünfmal ist bisher in der Geschichte der Bundesrepublik seit 1949 die Vertrauensfrage gestellt worden. In drei Fällen (Willy Brandt 1972, Helmut Kohl 1982 und Gerhard Schröder 2005) wurde dem jeweiligen Bundeskanzler das Vertrauen versagt und der Bundestag aufgelöst. In zwei Fällen (Helmut Schmidt 1982 – gemeint ist hier die Abstimmung über die Vertrauensfrage am 5. Februar und nicht das konstruktive Misstrauensvotum, durch das Schmidt am 1. Oktober gestürzt wurde – und Gerhard Schröder 2001) sprach eine Mehrheit im Bundestag dem Kanzler das Vertrauen aus, sodass er weiterregieren konnte.
Es liegt im Ermessen des Bundeskanzlers, ob und wann er die Vertrauensfrage stellt und ob er sie mit einer Sachfrage verbindet. Auch wenn der Antrag des Bundeskanzlers im Bundestag keine Mehrheit findet, er die Vertrauensfrage also „verliert“, sieht das Grundgesetz keinen Automatismus hin zu Neuwahlen vor.
Rücktritt oder Minderheitsregierung als Alternativen
Der Bundeskanzler kann dann aber dem Bundespräsidenten vorschlagen, den Bundestag aufzulösen. Ob er diesen oder einen anderen Weg wählt, ist eine Ermessensentscheidung des Bundeskanzlers. Ein anderer Weg wäre etwa, vom Amt des Bundeskanzlers zurückzutreten oder als „Minderheitsregierung“ weiterzumachen.
Schlägt der Kanzler die Auflösung des Bundestages vor, kann der Bundespräsident innerhalb von drei Wochen nach der Abstimmung über die Vertrauensfrage die Auflösung anordnen.
Keine Auflösung bei Wahl eines neuen Bundeskanzlers
Das Recht, den Bundestag aufzulösen, erlischt, wenn die Abgeordneten mit Mehrheit einen neuen Bundeskanzler wählen (Artikel 68 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes).
Zu diesem Zeitpunkt könnte der Bundeskanzler die Auflösung noch dadurch verhindern, dass er die Auflösungsverfügung nicht gegenzeichnet. Artikel 58 Satz 1 des Grundgesetzes besagt nämlich: „Anordnungen und Verfügungen des Bundespräsidenten bedürfen zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung durch den Bundeskanzler oder durch den zuständigen Bundesminister.“
Es gibt keine parlamentslose Zeit
Ordnet der Bundespräsident die Auflösung an, bedeutet dies nicht, dass der Bundestag nicht mehr besteht. Es bedeutet nur, dass die Wahlperiode vorzeitig endet und es zu einer vorgezogenen Neuwahl kommt. Der „alte“ Bundestag bleibt mit all seinen Rechten und Pflichten bestehen, bis der neue Bundestag zusammentritt (Artikel 39 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes). Eine „parlamentslose Zeit“ gibt es also nicht.
Der Bundestag kann weiterhin Gesetze beschließen und auch seine Gremien wie etwa Untersuchungsausschüsse bestehen bis zum Ende der Wahlperiode fort. Auch die Regierungsmitglieder bleiben bis zum Zusammentritt des neuen Bundestages im Amt (Artikel 69 Absätze 2 und 3 des Grundgesetzes). Auf „Ersuchen“ des Bundespräsidenten führen sie die Geschäfte anschließend bis zur Ernennung ihrer Nachfolger weiter.
Parlamentsauflösung als Ziel der Vertrauensfrage
Da das Grundgesetz kein Selbstauflösungsrecht des Bundestages vorsieht, war bei früheren Vertrauensfragen umstritten, ob diese darauf abzielen dürfen, den Bundestag aufzulösen. Das Bundesverfassungsgericht hat in zwei Organstreitverfahren entschieden, dass eine „auflösungsgerichtete“ Vertrauensfrage zulässig ist, wenn sie dazu dient, eine ausreichend parlamentarisch verankerte Bundesregierung wiederherzustellen.
Das sei der Fall, wenn die politischen Kräfteverhältnisse im Bundestag die Handlungsfähigkeit des Bundeskanzlers so beeinträchtigen oder lähmen, dass er eine vom stetigen Vertrauen der Mehrheit getragene Politik nicht sinnvoll verfolgen kann.
Vertrauensfrage bei Verlust der Mehrheit
Laut Bundesverfassungsgericht muss der Bundespräsident zunächst prüfen, ob das Vorgehen des Bundeskanzlers verfassungsgemäß war und dabei dessen weiten Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum respektieren. Um eine Auflösung des Bundestages zu bejahen, reiche der Umstand nicht aus, dass alle im Bundestag vertretenen Parteien oder ihre Fraktionen sich im Willen zu Neuwahlen einig sind.
Eine auf die Auflösung des Parlaments gerichtete Vertrauensfrage sei aber „zweifelsfrei“ dann gegeben, wenn der Kanzler zuvor seine Mehrheit im Bundestag verloren hat, etwa durch den Fraktionswechsel von Abgeordneten oder wie jetzt durch das Auseinanderbrechen der Koalition.
Vorgezogene Neuwahl mit kürzeren Fristen
Bei der Anordnung von Neuwahlen legt der Bundespräsident den Wahlsonntag innerhalb der vorgegebenen Frist von 60 Tagen fest. Die meisten der im Bundeswahlgesetz vorgesehenen Fristen können bei einer vorgezogenen Neuwahl nicht eingehalten werden. Dazu gehören die Fristen zur Anzeige der Beteiligung an der Wahl und zur Errichtung von Kreiswahlvorschlägen und Landeslisten.
Das Bundesinnenministerium (BMI) ist deshalb ermächtigt, die im Bundeswahlgesetz und in der Bundeswahlordnung festgelegten Fristen und Termine durch Rechtsverordnung ohne Zustimmung des Bundesrates abzukürzen (Paragraf 52 Absatz 3 des Bundeswahlgesetzes). Nach der letzten Vertrauensfrage 2005 wurden die meisten Fristen ungefähr halbiert.
„Fristen stehen erst nach Bundestagsauflösung fest“
In der Regierungspressekonferenz vom 18. November 2024 teilte BMI-Sprecher Maximilian Kall zur Frage der Fristen mit: „Die Fristen können erst feststehen, wenn der Bundespräsident den Deutschen Bundestag nach einer Vertrauensfrage aufgelöst hat. Nachdem der Bundespräsident das getan hat – das liegt ja in seinem Ermessen –, wird das BMI eine Verordnung über verkürzte Fristen erlassen – das war auch 2005 so; so ist es im Bundeswahlgesetz vorgesehen –, um innerhalb dieser kurzen Frist von 60 Tagen, die dann zwischen der Auflösung des Bundestages und der Neuwahl des Deutschen Bundestages liegen, auch alle Listenvorschläge und alles, was da zu tun ist, zu realisieren.
Innerhalb dieser Fristen können nach dem Bundeswahlgesetz die Voraussetzungen für kleine Parteien nicht erleichtert werden. Das Erfordernis, bis zu 2.000 Unterschriften beizubringen – je nach Größe des Bundeslandes sind es maximal 2.000 Unterschriften oder ein Tausendstel der Bevölkerung, wenn ich es richtig im Kopf habe –, also dieses Erfordernis, die Unterschriften zu sammeln, kann man nicht erleichtern. Das muss dann tatsächlich innerhalb kürzerer Fristen passieren.
Das ist aber nach dem Bundeswahlgesetz so vorgesehen und kann auch nicht geändert werden. Darüber hat es 2005 auch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gegeben, dass das Erfordernis, die Unterschriften innerhalb von kürzerer Zeit zu sammeln – für die kleinen Parteien ist es durchaus schwieriger, die Voraussetzungen innerhalb von kürzerer Zeit zu erfüllen –, so mit dem Grundgesetz auch vereinbar ist.“
Neben dem Bundeswahlgesetz sehen auch andere Gesetze Ausnahmen für den Fall der Auflösung des Parlaments vor. So haben Mitglieder der Bundesregierung und Parlamentarische Staatssekretäre statt nach einer Amtszeit von vier Jahren bereits einen Anspruch auf Ruhegehalt, wenn sie der Bundesregierung mehr als zwei Jahre ununterbrochen angehört haben.
Verordnungsentwurf des Bundesinnenministeriums
Das Bundesinnenministerium hat am 25. November den Entwurf einer Verordnung über die Abkürzung von Fristen im Bundeswahlgesetz für die Wahl zum 21. Deutschen Bundestag veröffentlicht. Das Ministerium weist darauf hin, dass die Rechtsverordnung nur erlassen wird, wenn und nachdem der Bundespräsident den 20. Deutschen Bundestag aufgelöst hat. Die im Entwurf enthaltenen verkürzten Fristen müssten weiter angepasst werden, sofern der Bundespräsident bei der Bestimmung des Termins für die Neuwahl die grundgesetzlich vorgesehene Maximalfrist von 60 Tagen wesentlich unterschreitet. Weiter heißt es: „Sollte der Bundespräsident einen anderen Wahltag als den 23. Februar 2025 bestimmen, sind die Fristen entsprechend anders zu regeln.“
Die im Verordnungsentwurf genannten verkürzten Fristen seien so gewählt worden, dass den Parteien und Bewerbern innerhalb des engen Zeitrahmens der größtmögliche zeitliche Vorlauf für ihre Wahlvorbereitungen eingeräumt wird, ohne die ordnungsgemäße Durchführung der Wahl durch die Wahlorgane zu gefährden, schreibt das Ministerium.
Beteiligungsanzeige bis 7. Januar
Parteien, die nicht aufgrund eigener Wahlvorschläge im Bundestag oder einem Landtag seit deren letzter Wahl ununterbrochen mit mindestens fünf Abgeordneten vertreten waren (sogenannte nicht etablierte Parteien), können als solche laut Verordnungsentwurf einen Wahlvorschlag nur einreichen, wenn sie spätestens am Dienstag, 7. Januar, bis 18 Uhr der Bundeswahlleiterin ihre Beteiligung an der Wahl schriftlich angezeigt haben und der Bundeswahlausschuss ihre Parteieigenschaft festgestellt hat. Der Bundeswahlausschuss muss diese Feststellung dann spätestens am Dienstag, 14. Januar, treffen. Im Falle einer Beschwerde muss die Partei oder Vereinigung von den Wahlorganen bis zu einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, längstens bis zum Ablauf des 23. Januar, wie eine wahlvorschlagsberechtigte Partei behandelt werden.
Um den Schutz des passiven Wahlrechts zu gewährleisten und eine ungerechtfertigte Schlechterstellung der zur Beteiligungsanzeige verpflichteten Parteien gegenüber den Parteien, die keine Beteiligungsanzeige abgeben müssen (sogenannte etablierte Parteien), zu vermeiden, erscheint aus Sicht des Innenministeriums ein früherer letzter Termin für die Beteiligungsanzeige als der 7. Januar problematisch. Damit sei auch ein früherer Termin für die Entscheidung des Bundeswahlausschusses als der 14. Januar nicht möglich.
Kreiswahlvorschläge und Landeslisten
Letzter Tag für die Einreichung der Kreiswahlvorschläge bei den Kreiswahlleitern und der Landeslisten der Parteien bei den Landeswahlleitern ist dem Entwurf zufolge Montag, 20. Januar, bis 18 Uhr. Über die Zulassung von Kreiswahlvorschlägen entscheiden die Kreiswahlausschüsse am Freitag, 24. Januar. An diesem Tag entscheiden auch die Landeswahlausschüsse über die Zulassung von Landeslisten. Die zugelassenen Kreiswahlvorschläge machen die Kreiswahlleiter spätestens am Montag, 3. Februar, bekannt. An diesem Tag geben auch die Landeswahlleiter die zugelassenen Landeslisten der Parteien bekannt.
Letzter Tag für die Entscheidung über Beschwerden an den Landeswahlausschuss gegen die Zurückweisung oder Zulassung eines Kreiswahlvorschlags durch den Kreiswahlausschuss ist Donnerstag, 30. Januar. Dies ist zugleich der letzte Tag für die Entscheidung über Beschwerden an den Bundeswahlausschuss gegen die Zurückweisung oder Zulassung einer Landesliste durch den Landeswahlausschuss. (wd/vom/17.12.2024)