Parlament

Vertrauensfrage und vorzeitige Neuwahlen

Bundeskanzler Olaf Scholz sitzt im Sonnenlicht auf der Regierungsbank nach seiner Regierungserklärung zum außerordentlichen EU-Rat in Brüssel im Plenarsaal des Deutschen Bundestages im Reichstagsgebäude.

Der Bundeskanzler stellt am 11. Dezember die Vertrauensfrage. (© DBT/ Marc-Steffen Unger)

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat angekündigt, dass er am Mittwoch, 11. Dezember 2024, im Bundestag die sogenannte Vertrauensfrage stellt. Am Montag, 16. Dezember, sollen die Abgeordneten darüber abstimmen, ob sie ihm weiterhin das Vertrauen aussprechen. Wenn die Mehrheit der Abgeordneten dem Kanzler erwartungsgemäß das Vertrauen verweigert, kann Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier „auf Vorschlag des Bundeskanzlers“ innerhalb von 21 Tagen den Bundestag auflösen. 

Mindestfrist zwischen Vertrauensfrage und Abstimmung

Dieses Verfahren sieht der Artikel 68 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes vor. Im Absatz 2 ist vorgeschrieben, dass zwischen dem Stellen der Vertrauensfrage und der Abstimmung darüber mindestens 48 Stunden liegen müssen, sodass sich die Abgeordneten ihr Abstimmungsverhalten reiflich überlegen können. 

Der Artikel 68 ist in den 75 Jahren seit Bestehen des Grundgesetzes unverändert geblieben. Die Weimarer Reichsverfassung (WRV) hatte in ihrem Artikel 54 festgelegt: „Der Reichskanzler und die Reichsminister bedürfen zu ihrer Amtsführung des Vertrauens des Reichstages. Jeder von ihnen muss zurücktreten, wenn ihm der Reichstag durch ausdrücklichen Beschluss sein Vertrauen entzieht.“ Eine Vertrauensfrage oder ein konstruktives Misstrauensvotum (Artikel 67 des Grundgesetzes) kannte die WRV noch nicht.

Fünf Vertrauensfragen seit 1949

Fünfmal ist bisher in der Geschichte der Bundesrepublik seit 1949 die Vertrauensfrage gestellt worden. In drei Fällen (Willy Brand 1972, Helmut Kohl 1982 und Gerhard Schröder 2005) wurde dem jeweiligen Bundeskanzler das Vertrauen versagt und der Bundestag aufgelöst. In zwei Fällen (Helmut Schmidt 1982 und Gerhard Schröder 2001) sprach eine Mehrheit im Bundestag dem Kanzler das Vertrauen aus, sodass er weiterregieren konnte.

Es liegt im Ermessen des Bundeskanzlers, ob und wann er die Vertrauensfrage stellt und ob er sie mit einer Sachfrage verbindet. Auch wenn der Antrag des Bundeskanzlers im Bundestag keine Mehrheit findet, er die Vertrauensfrage also „verliert“, sieht das Grundgesetz keinen Automatismus hin zu Neuwahlen vor.

Rücktritt oder Minderheitsregierung als Alternativen

Der Bundeskanzler kann dann aber dem Bundespräsidenten vorschlagen, den Bundestag aufzulösen. Ob er diesen oder einen anderen Weg wählt, ist eine Ermessensentscheidung des Bundeskanzlers. Ein anderer Weg wäre etwa, vom Amt des Bundeskanzlers zurückzutreten oder als „Minderheitsregierung“ weiterzumachen. 

Schlägt der Kanzler die Auflösung des Bundestages vor, kann der Bundespräsident innerhalb von drei Wochen nach der Abstimmung über die Vertrauensfrage die Auflösung anordnen. 

Keine Auflösung bei Wahl eines neuen Bundeskanzlers 

Das Recht, den Bundestag aufzulösen, erlischt, wenn die Abgeordneten mit Mehrheit einen neuen Bundeskanzler wählen (Artikel 68 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes). Auch dabei handelt es sich um eine Ermessensentscheidung des Bundespräsidenten. 

Zu diesem Zeitpunkt könnte der Bundeskanzler die Auflösung noch dadurch verhindern, dass er die Auflösungsverfügung nicht gegenzeichnet. Artikel 58 Satz 1 des Grundgesetzes besagt nämlich: „Anordnungen und Verfügungen des Bundespräsidenten bedürfen zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung durch den Bundeskanzler oder durch den zuständigen Bundesminister.“

Es gibt keine parlamentslose Zeit

Ordnet der Bundespräsident die Auflösung an, bedeutet dies nicht, dass der Bundestag nicht mehr besteht. Es bedeutet nur, dass die Wahlperiode vorzeitig endet und es zu einer vorgezogenen Neuwahl kommt. Der „alte“ Bundestag bleibt mit all seinen Rechten und Pflichten bestehen, bis der neue Bundestag zusammentritt (Artikel 39 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes). Eine „parlamentslose Zeit“ gibt es also nicht.

Der Bundestag kann weiterhin Gesetze beschließen und auch seine Gremien wie etwa Untersuchungsausschüsse bestehen bis zum Ende der Wahlperiode fort. Auch die Regierungsmitglieder bleiben bis zum Zusammentritt des neuen Bundestages im Amt (Artikel 69 Absätze 2 und 3 des Grundgesetzes). Auf „Ersuchen“ des Bundespräsidenten führen sie die Geschäfte anschließend bis zur Ernennung ihrer Nachfolger weiter.

Parlamentsauflösung als Ziel der Vertrauensfrage

Da das Grundgesetz kein Selbstauflösungsrecht des Bundestages vorsieht, war bei früheren Vertrauensfragen umstritten, ob diese darauf abzielen dürfen, den Bundestag aufzulösen. Das Bundesverfassungsgericht hat in zwei Organstreitverfahren entschieden, dass eine „auflösungsgerichtete“ Vertrauensfrage zulässig ist, wenn sie dazu dient, eine ausreichend parlamentarisch verankerte Bundesregierung wiederherzustellen. 

Das sei der Fall, wenn die politischen Kräfteverhältnisse im Bundestag die Handlungsfähigkeit des Bundeskanzlers so beeinträchtigen oder lähmen, dass er eine vom stetigen Vertrauen der Mehrheit getragene Politik nicht sinnvoll verfolgen kann.

Vertrauensfrage bei Verlust der Mehrheit

Laut Bundesverfassungsgericht muss der Bundespräsident zunächst prüfen, ob das Vorgehen des Bundeskanzlers verfassungsgemäß war und dabei dessen weiten Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum respektieren. Um eine Auflösung des Bundestages zu bejahen, reiche der Umstand nicht aus, dass alle im Bundestag vertretenen Parteien oder ihre Fraktionen sich im Willen zu Neuwahlen einig sind. 

Eine auf die Auflösung des Parlaments gerichtete Vertrauensfrage sei aber „zweifelsfrei“ dann gegeben, wenn der Kanzler zuvor seine Mehrheit im Bundestag verloren hat, etwa durch den Fraktionswechsel von Abgeordneten oder wie jetzt durch das Auseinanderbrechen der Koalition.

Vorgezogene Neuwahl mit kürzeren Fristen

Bei der Anordnung von Neuwahlen legt der Bundespräsident den Wahlsonntag innerhalb der vorgegebenen Frist von 60 Tagen fest. Die meisten der im Bundeswahlgesetz vorgesehenen Fristen können bei einer vorgezogenen Neuwahl nicht eingehalten werden. Dazu gehören die Fristen zur Anzeige der Beteiligung an der Wahl und zur Errichtung von Kreiswahlvorschlägen und Landeslisten. 

Das Bundesinnenministerium ist deshalb ermächtigt, die im Bundeswahlgesetz und in der Bundeswahlordnung festgelegten Fristen und Termine durch Rechtsverordnung ohne Zustimmung des Bundesrates abzukürzen (Paragraf 52 Absatz 3 des Bundeswahlgesetzes). Nach der letzten Vertrauensfrage 2005 wurden die meisten Fristen ungefähr halbiert.

Neben dem Bundeswahlgesetz sehen auch andere Gesetze Ausnahmen für den Fall der Auflösung des Parlaments vor. So haben Mitglieder der Bundesregierung und Parlamentarische Staatssekretäre statt nach einer Amtszeit von vier Jahren bereits einen Anspruch auf Ruhegehalt, wenn sie der Bundesregierung mehr als zwei Jahre ununterbrochen angehört haben. (wd/vom/20.11.2024)