Parlament

Das geltende Wahlrecht nach der Reform 2023

Blaue Stühle im Plenarsaal des Deutschen Bundestages.

Ziel der jüngsten Wahlrechtsreform ist die Verkleinerung des Deutschen Bundestages. (© DBT/Felix Zahn/photothek)

Ablauf der Mandatsverteilung nach der Wahlrechtsreform 2023

Im Juni 2023 ist ein neues Wahlrecht in Kraft getreten (20/5370, 20/6015, Bundesgesetzblatt 2023 I Nr. 147). Wie das bisherige Wahlrecht weist auch das neue Wahlrecht den Grundcharakter der Verhältniswahl auf. Ziel der jüngsten Änderung des Wahlrechts ist die Verkleinerung des Deutschen Bundestages und die Vorhersehbarkeit von dessen Größe.

Zwar lag nach dem alten Wahlrecht die gesetzliche Regelgröße bei 598. Aufgrund von Überhang- und Ausgleichsmandaten war die tatsächliche Bundestagsgröße jedoch erheblichen Schwankungen unterworfen und war nach der Wahl des 20. Deutschen Bundestages auf 736 Abgeordnete angewachsen. Mit dem neuen Wahlrecht wird die Zahl der Abgeordneten gesetzlich auf 630 beschränkt. Die Anzahl der Wahlkreise bleibt unverändert bei 299.      

Erst- und Zweitstimme bleiben erhalten

Auch künftig können bei der Wahl zum Deutschen Bundestag zwei Stimmen abgegeben werden. Wie bisher wird mit der Erststimme ein Wahlkreisbewerber vor Ort in einem der Wahlkreise gewählt und mit der Zweitstimme die Landesliste einer Partei.

Anders als bisher ist nunmehr jedoch das Ergebnis der Zweitstimmen allein maßgeblich für die proportionale Zusammensetzung des Bundestages. Denn aus dem Zweitstimmenergebnis ergibt sich die Zahl der Sitze, die einer Partei im neu gewählten Parlament zukommen. Überhang- und Ausgleichsmandate, die nach dem früheren Wahlrecht noch in einem späteren Schritt hinzugerechnet wurden, entstehen nicht mehr.

Verteilung der Sitze auf Landeslisten

Zunächst wird in der sogenannten Oberverteilung bestimmt, wie viele Sitze einer Partei bundesweit nach ihrem Zweitstimmenanteil zustehen (Parteienproporz).

In einem nächsten Schritt, der sogenannten Unterverteilung, werden die Sitze der jeweiligen Partei auf die Landeslisten dieser Partei verteilt (föderaler Proporz innerhalb einer Partei). Dies richtet sich nach dem Verhältnis der Zahl der Zweitstimmen, die auf die unterschiedlichen Landeslisten einer Partei entfallen.

Verteilung der Sitze auf Kandidaten

Die auf diese Weise ermittelte Zahl der Sitze, die einer Partei in einem Bundesland zustehen, bildet zugleich die Höchstzahl der möglichen Wahlkreisabgeordneten dieser Partei in dem jeweiligen Bundesland. Zur Verteilung der einer Partei nach dem Zweitstimmenergebnis zustehenden Sitze werden zunächst die Wahlkreisbewerber, die in ihrem Wahlkreis die relative Mehrheit der Erststimmen erlangt haben, nach ihrem Stimmanteil gereiht. Entsprechend dieser Reihung werden dann – begonnen mit dem relativ höchsten Stimmanteil – die einer Partei in einem Bundesland zustehenden Sitze den erfolgreichen Wahlkreisbewerbern zugeteilt. Wenn allen erfolgreichen Wahlkreisbewerbern dieser Reihung ein Sitz zugeteilt wurde, der Partei in dem Bundesland aber nach dem Zweitstimmenergebnis noch weitere Sitze zustehen, werden diese nach der Landesliste vergeben.

Falls im umgekehrten Fall das nach dem Zweitstimmenergebnis zur Verfügung stehende Sitzkontingent früher erschöpft ist als die Reihung der erfolgreichen Wahlkreisbewerber, wird den Wahlkreisbewerbern mit den schwächsten Erststimmenergebnissen kein Sitz mehr zugeteilt. Ein Wahlkreisbewerber, der seinen Wahlkreis nach Erststimmen „gewinnt“, erlangt also nur dann einen Sitz, wenn auch eine ausreichende Deckung mit Zweitstimmen für die Landesliste seiner Partei vorliegt. Ist dies nicht der Fall, zieht der Wahlkreisgewinner nach Erststimmen nicht in den Bundestag ein. Eine relative Mehrheit der Erststimmen in einem Wahlkreis garantiert also für sich genommen noch keinen Sitz im Bundestag. Der Wahlkreis würde in diesem Fall der fehlenden Zweitstimmendeckung vakant bleiben. Dieses sogenannte Verfahren der Zweitstimmendeckung ist eine der wesentlichsten Änderungen des neuen Wahlrechts. Eine Ausnahme hiervon gilt für parteiunabhängige Wahlkreisbewerber: Diese erringen einen Sitz unmittelbar aufgrund einer relativen Mehrheit der Erststimmen im Wahlkreis.

Sperrklausel (Fünf-Prozent-Hürde)

An der bundesweiten Verteilung der Sitze auf die Parteien entsprechend ihrem Zweitstimmenergebnis (sogenannte Oberverteilung, s.o.) nehmen – wie nach dem bisherigen Wahlrecht – nur solche Parteien teil, die bundesweit mindestens fünf Prozent der abgegebenen gültigen Zweitstimmen erhalten haben. Für Parteien nationaler Minderheiten gilt diese Sperrklausel nicht.

Die früher bestehende sogenannte Grundmandatsklausel ist im neuen Wahlrecht entfallen. Demnach war eine Partei auch dann mit den ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustehenden Sitzen in das Parlament eingezogen, wenn sie weniger als fünf Prozent der Zweitstimmen, aber in mindestens drei Wahlkreisen einen Sitz errungen hat. Über diese Regelung konnte die Partei Die Linke nach der Bundestagswahl 2021 entsprechend ihrem Zweitstimmenergebnis mit 39 Abgeordneten in den Bundestag einziehen, obwohl bundesweit nur 4,9 Prozent der Zweitstimmen auf sie entfielen, sie aber Direktmandate in drei Wahlkreisen errungen hat.

Aus dem Zusammenwirken der Fünf-Prozent-Klausel und dem Erfordernis der Zweitstimmendeckung folgt nach weggefallener Grundmandatsklausel, dass, auch wenn Kandidaten einer Partei in mehreren Wahlkreisen die meisten Erststimmen erhalten, die Partei aber weniger als fünf Prozent der Zweitstimmen erhält, dieser insgesamt keine Sitze zugeteilt werden. 

Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Wahlrechtsreform 2023 

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat die Wahlrechtsreform mit Urteil vom 30. Juli 2024 im Wesentlichen gebilligt, die Sperrklausel in ihrer jetzigen Ausgestaltung aber für verfassungswidrig erklärt (Urteil vom 30.07.2024 – 2 BvF 1 / 23 u.a.). 

Der Kern der Wahlrechtsreform – das System der Zweitstimmendeckung – ist mit dem Grundgesetz vereinbar. Die Fünf-Prozent-Sperrklausel in ihrer konkreten Ausgestaltung hält das BVerfG jedoch unter den gegenwärtigen tatsächlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen nicht für in vollem Umfang erforderlich. Zur Sicherung der Funktionsbedingungen des Bundestages sei es nicht notwendig, eine Partei bei der Sitzverteilung außen vor zu lassen, deren Abgeordnete im Bundestag eine gemeinsame Fraktion mit Abgeordneten einer anderen Partei bilden würden, wenn beide gemeinsam das Fünf-Prozent-Quorum erreichen. Diese Konstellation, deren Voraussetzungen das Gericht im Einzelnen spezifiziert, liegt derzeit nur bei der Fraktionsgemeinschaft von CDU und CSU vor. 

Der Gesetzgeber ist nun verpflichtet, den Verfassungsverstoß zu beseitigen. Hierzu hat er verschiedene Abhilfemöglichkeiten: Er kann sich auf die vom BVerfG beanstandete Konstellation beschränken und eine gemeinsame Berücksichtigung kooperierender Parteien im Rahmen der Sperrklausel vorsehen. Er kann die Sperrklausel aber auch auf andere Weise modifizieren: So verweist das BVerfG etwa auf die Möglichkeit, die Sperrklausel abzusenken, sie regionalisiert oder landesbezogen auszugestalten oder aber die Sperrklausel dadurch abzumildern, dass ein alternativer Zugangsweg zum Sitzverteilungsverfahren geschaffen wird, wie dies die frühere Grundmandatsklausel getan hat. 

Wegen der zeitlichen Nähe zur nächsten Bundestagswahl hat das BVerfG die vorläufige Weitergeltung der Sperrklausel angeordnet, allerdings mit der Maßgabe, dass bei der Sitzverteilung Parteien, die weniger als fünf Prozent der bundesweit abgegebenen gültigen Zweitstimmen erhalten haben, nur dann nicht berücksichtigt werden, wenn ihre Bewerber in weniger als drei Wahlkreisen die meisten Erststimmen auf sich vereinigt haben. Damit gilt faktisch die frühere Grundmandatsklausel fort, bis der Gesetzgeber eine andere Regelung getroffen hat. (31.07.2024)