Gregor Gysi will einen Bundestag ohne Beleidigungen und Unfairness

Gregor Gysi (stehend) eröffnete als Alterspräsident die konstituierende Sitzung des 21. Deutschen Bundestages am 25. März 2025. Links von Gysi Schriftführer Michael Donth (CDU/CSU), rechts Schriftführer Kay-Uwe Ziegler (AfD). (© DBT/Tobias Koch)
Das Amt des Alterspräsidenten ist parlamentarische Tradition und Teil der Geschäftsordnung des Bundestages. Ein Amt von hoher Würde, aber nur von kurzer Dauer. Es hat sich nach traditioneller Praxis mit der Wahl des neuen Bundestagspräsidenten erschöpft. Obwohl er nicht in sein Amt gewählt wird, ist es anerkannte Tradition, dass der Alterspräsident die erste Rede vor dem Plenum hält. Bisher haben alle Alterspräsidenten der Bundesrepublik von dieser Tradition Gebrauch gemacht und dabei eigene Akzente gesetzt.
2025: Die 20. Wahlperiode des Bundestages, die mit der konstituierenden Sitzung am 26. Oktober 2021 begonnen hatte, endete vorzeitig. Die FDP verließ am 6. November 2024 die sogenannte Ampelkoalition aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) stellte am 11. Dezember im Bundestag die Vertrauensfrage, die er am 16. Dezember erwartungsgemäß verlor, sodass Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier am 27. Dezember den Bundestag auflösen und die Neuwahlen für den 23. Februar 2025 ansetzen konnte. Der neu gewählte Bundestag konstituierte sich dann am 25. März 2025. Alterspräsident: Dr. Gregor Gysi (Die Linke).
Erster Alterspräsident der Linken
Noch in der 18. Wahlperiode, am 1. Juni 2017, hatte der Bundestag eine Änderung der Geschäftsordnung beschlossen (18/12376), dass die erste, konstituierende Sitzung nicht mehr wie zuvor vom ältesten Abgeordneten, sondern von dem am längsten dem Parlament angehörenden Abgeordneten eröffnet werden sollte. Nach Dr. Hermann Otto Solms (FDP) 2017 und Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU) 2021 profitierte nun Gysi von dieser Neuregelung.
Er war nach eigener Aussage 30 Jahre und neun Monate Mitglied des Deutschen Bundestages und somit dienstältester Abgeordneter. Wie schon 2017 (19/4) und 2021 (20/2) hatte die AfD den Antrag (21/2) gestellt, die Sitzung vom an Jahren ältesten Abgeordneten eröffnen zu lassen, der jeweils aus ihren Reihen gekommen wäre. Die Anträge wurden stets mit der Mehrheit der übrigen Fraktionen abgelehnt.
Seit 1990 Abgeordneter des Bundestages
Gregor Gysi war bereits Mitglied der ersten freien Volkskammer der DDR gewesen, die am 18. März 1990 gewählt worden war. Die Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS), deren Vorsitzender Gysi war, hatte 16,3 Prozent der Stimmen erzielt und war mit 66 von 400 Abgeordneten in die Volkskammer eingezogen. 144 dieser 400 Abgeordneten, zu denen auch Gysi gehörte, wurden mit dem 3. Oktober 1990, dem Tag des Beitritts der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes, in den Deutschen Bundestag entsandt.
Die erste gesamtdeutsche Bundestagswahl am 2. Dezember 1990 ergab 17 Sitze für die PDS, was für einen Fraktionsstatus nicht ausreichte. Die Abgeordneten mussten sich unter dem Vorsitz Gysis, der als Einziger ein Direktmandat im Wahlkreis Berlin-Hellersdorf – Marzahn errungen hatte, mit dem Gruppenstatus zufriedengeben und nannten sich Gruppe PDS/Linke Liste, in der folgenden Wahlperiode bis 1998 Gruppe PDS. 1998 reichte es für die PDS wieder zum Fraktionsstatus.
Intermezzo im Berliner Abgeordnetenhaus
Gysi, der bereits 1993 den Parteivorsitz abgegeben hatte, trat am 2. Oktober 2000 auch vom Fraktionsvorsitz zurück und schied am 1. Februar 2002 aus dem Bundestag aus, nachdem er am 21. Oktober 2001 mit 51 Prozent der Erststimmen im Wahlkreis Marzahn – Hellersdorf 5 ins Berliner Abgeordnetenhaus gewählt worden war. Er wurde am 17. Januar 2002 Bürgermeister und Senator für Wirtschaft, Arbeit und Frauen im Kabinett Wowereit, gab das Amt jedoch bereits am 6. August 2002 wieder auf.
2005 kandidierte er für die PDS im Wahlkreis Berlin-Treptow – Köpenick wieder erfolgreich für den Bundestag und übernahm zusammen mit Oskar Lafontaine den Fraktionsvorsitz. Nach der Fusion der Partei mit der Partei „Arbeit & soziale Gerechtigkeit – Die Wahlalternative (WASG)“ am 16. Juni 2007 zur Partei Die Linke trat Gysi nach der Bundestagswahl 2009 erneut den alleinigen Fraktionsvorsitz an, den er bis 12. Oktober 2015 innehatte. Seinen Wahlkreis gewann er in allen Wahlen bis 2025 jeweils direkt.
Moltke und Marx, Bismarck und Zetkin
Als Alterspräsident konnte Gysi am 25. März 2025 erstmals ohne Redezeitbegrenzung im Bundestag sprechen – seine Frotzeleien mit dem ehemaligen Bundestagspräsidenten Prof. Dr. Norbert Lammert über das Einhalten der Redezeit sind legendär. Rund 37 Minuten dauerte die Ansprache des 77-Jährigen. Vor der Sitzung hatte er der Wochenzeitung „Das Parlament“ angekündigt: „Es ist wirklich angenehm, nicht ständig auf die Uhr schauen und nach zwei Minuten abbrechen zu müssen. Aber keine Sorge, ich werde das nicht missbrauchen.“
Gysi erinnerte in seiner Rede unter anderem an den Alterspräsidenten des Reichstags von 1881 Helmuth Graf von Moltke, wandte sich dagegen, Straßen nicht nach Otto von Bismarck zu benennen, sprach sich für Clara-Zetkin-Straßen aus und empfahl, einer Universität den Namen von Karl Marx zu geben. Zum Nahost-Konflikt sagte er, Israel müsse „souverän, unabhängig und sicher sein und werden“. Aber auch die Palästinenser hätten ein Recht auf ein Zuhause.
Umsatzsteuersätze für Weihnachtsbäume
Gysi sprach von der Notwendigkeit, in einer Enquete-Kommission aufzuarbeiten, was in der Corona-Pandemie richtig und falsch gemacht wurde. Schulkinder sollten nicht früh, sondern erst nach der achten Klasse getrennt werden. Dem Bundestag riet er zu mehr Mut, um die besonders Reichen und die Konzerne steuerlich „angemessen und gerechter heranzuziehen“.
Er kritisierte fünf verschiedene Umsatzsteuersätze für Weihnachtsbäume und plädierte dafür, die Diversen ins Grundgesetz aufzunehmen, damit sie in ihren Grundrechten geschützt werden.
Entschuldigung bei Ostdeutschen als Ruck für innere Einheit
Die vollständige Einheit sei in Deutschland noch nicht hergestellt. Die Menschen im Osten hätten einerseits an Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit gewonnen, andererseits werde die DDR auf Staatssicherheit und Mauertote reduziert. Die damalige Bundesregierung habe sich bei der Herstellung der Einheit nicht für das Leben in der DDR interessiert.
„Übernommen hat man aus der DDR nur das Sandmännchen, das Ampelmännchen und den grünen Abbiegepfeil. Damit sagte man aber den Ostdeutschen, dass sie außer diesen drei Punkten nichts geleistet hätten. Wäre das andere übernommen worden, hätte die ostdeutsche Bevölkerung nicht ein solches Gefühl der Demütigung entwickelt“, betonte Alterspräsident Gysi. Eine Entschuldigung des künftigen Kanzlers „gäbe einen wirklichen Ruck bei der Herstellung der inneren Einheit“.
Europa als vierte Weltmacht
Wenn die Europäische Union wirklich funktionieren würde, so Gysi weiter, könnte sie seiner Meinung nach „eine Art vierte Weltmacht“ werden. Er bezweifle aber, „dass sich alle Mitglieder darauf einlassen werden“. Den Bundespräsidenten bat er, ein Gremium einzusetzen, das sich mit der Frage der Sicherung von Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit auseinandersetzt.
Gysi empfahl zudem, den Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai und auch den Frauentag am 8. März zu bundesweiten gesetzlichen Feiertagen zu machen. Er schloss mit den Worten: „Ich wünsche unserer Bevölkerung und uns einen lebendigen Bundestag, in dem ohne Beleidigungen, ohne Beschimpfungen, ohne Unfairness durchaus hart gestritten, diskutiert und entschieden wird, und ich wünsche uns einen Bundestag, der noch näher an die Menschen herantritt, die wir hier vertreten.“ (vom/02.04.2025)