Zeuge: Warnungen aus Kabul zunächst nicht ernst genommen
Berlin: (hib/LL) Der 1. Untersuchungsausschuss (Afghanistan) hat am Abend des 14. März 2024 mit Jan Hendrik van Thiel, dem stellvertretenden deutschen Botschafter in Afghanistan im Sommer 2021, einen zweiten Zeugen befragt.
Als krisenerfahrener Diplomat habe die Aufgabe, als politischer Berater für das Einsatzführungskommando der Bundeswehr in Potsdam zu arbeiten und in Kabul eine Evakuierung der deutschen Botschaft vorzubereiten, zu ihm gepasst, erklärte der 59-Jährige. Bei der Bundeswehr habe er zu allen gemeinsamen Themen Zugang gehabt, so van Thiel. Als Leiter der Botschaft in Kabul sei es für ihn in erster Linie darum gegangen, diesen Außenposten auf das Endstadium vorzubereiten und aufzulösen sowie die Zentrale in Berlin möglichst realitätsgetreu in Echtzeit auf dem Laufenden zu halten.
Zu seinem Lagebild vor seinem Eintreffen in Afghanistan am 11. Juli 2021 habe gehört, dass der Doha-Prozess zur politischen Zukunft des Landes stagnierte und die afghanischen Sicherheitskräfte auf dem Rückzug, die Taliban dagegen auf dem Vormarsch gewesen seien. Zu der sich verschlechternden militärischen sei die schwierige sozio-ökonomische Lage des Landes und vieler Afghanen gekommen. Das Land war arm wie eh und je, berichtete der Botschafter.
Aus den einzelnen Provinzen, dem ländlichen Raum, von der Entwicklung in der Hauptstadt und einigen urbanen Zentren abgesehen, habe es für die Zentralregierung kaum Unterstützung gegeben, die politische Landschaft sei gespalten gewesen.
Dennoch hätten Sicherheitsexperten noch Anfang Juni 2021 gesagt: Es seien noch einige Monate Zeit, um das Land geordnet zu verlassen. Im Auswärtigen Amt habe der Eindruck vorgeherrscht, man könne auch nach dem Abzug der internationalen Streitkräftepräsenz auf ziviler Ebene so weiter machen, als sei nichts passiert, erklärte van Thiel. Viele Kolleginnen und Kollegen hätten die Augen vor dem sich abzeichnenden Zusammenbruch der afghanischen Republik, dem in zwei Jahrzehnten Aufgebauten, verschlossen.
Der für die Frage eines rein zivilen Weitermachens relevante Aspekt der Stärke und der Absichten der Taliban sei international, aber auch unter den deutschen Akteuren, darunter Auswärtiges Amt, Bundeswehr und Bundesnachrichtendienst, unterschiedlich bewertet worden, so van Thiel.
Der Zeuge schilderte eindringlich, wie unterschiedlich das Lagebild von den einzelnen Stellen während des Ablaufs der letzten Wochen im Juli und August 2021 eingeschätzt wurde und welche Auseinandersetzungen es darüber gab. Musste man Afghanistan überhaupt verlassen? Hatte man ausreichend Zeit, vielleicht noch ein halbes Jahr, drei Monate oder doch nur noch drei Wochen? Auch über die Stärke der afghanischen Streitkräfte gab es, etwa zwischen dem Bundesnachrichtendienst, dem Auswärtigen Amt sowie ihm bis zuletzt Meinungsunterschiede, wie der Zeuge betonte. Am Ende seien die positiven Einschätzungen dann innerhalb weniger Stunden revidiert worden.
Eindringlich schilderte der Zeuge die Krisenstabssitzung der verschiedenen deutschen Akteure in Kabul am 13. August 2021, die vor dem Hintergrund einer extrem angespannten Lage stattfand. Die Taliban hätten sich de facto seit Wochen in Kabul ausgebreitet, in der Stadt hätten sich ein bis zwei Millionen Flüchtlinge aufgehalten. Er habe sein Lagebild in dem Meeting in gesetzten Worten vorgetragen, so van Thiel. Danach habe die Vizepräsidentin des BND jedoch ein ganz anderes Bild der Lage gezeichnet, dem er offen widersprochen habe. Er sei daraufhin in der Sitzung nicht mehr zu Wort gekommen.
Die Botschaft auf den Ernstfall vorzubereiten habe er als vorrangige Aufgabe für seinen Einsatz in Kabul betrachtet, sagte van Thiel. Dazu habe er bereits in den Wochen vor seiner Abreise im Amt dafür geworben, nur noch krisenerfahrene Leute nach Afghanistan zu schicken, die Personalzahl schon einmal herunter zu fahren, sich über eine Evakuierung Gedanken zu machen und Listen von denjenigen zu erstellen, die ausgeflogen werden müssten. In der Befragung entstand das Bild, als habe der Zeuge mit dieser Haltung und seinen warnenden Briefings, E-Mail und in Meetings in seinem professionellen Umfeld als alarmistisch gegolten und immer weniger mit seinen Empfehlungen durchdringen können.
Er habe vor allem die Zentrale mit Fakten versorgt und in seinen Mails eine klare Sprache gesprochen, sagte van Thiel. Auf seine Ausführungen zur Gefahrenlage, etwa zur schwindenden Kampfkraft der afghanischen Armee, habe er keine Gegenargumente bekommen. Während er die Belange der Botschaft und des Botschaftspersonals an erster Stelle im Auge gehabt habe, sei der Betrieb in Berlin stets von einer Eigendynamik getrieben. Dort habe man nach eingeübten Glaubenssätzen gelebt, während es in Afghanistan ums Ganze gegangen sei. Die vorrückenden Taliban, ihre unklaren Absichten, seien eine nicht auszuschließende, wachsende Gefahr gewesen, unterstrich der Diplomat. Befreite Gefängnisse, mit den Taliban rivalisierende IS-Kämpfer und die grassierende organisierte Kriminalität verdüsterten den sicherheitspolitischen Horizont weiter.
Man habe das Gefühl gehabt, auf sich allein gestellt zu sein. Erst sehr späte habe die Zentrale einen Krisenstab eingerichtet, die Krisenstufe erhöht. Der Botschafter berichtete, wie er die Dinge vor Ort schließlich selbst in die Hand genommen und Dokumente verbrannt und Geräte zerstört habe, damit diese nicht den Taliban in die Hände fallen konnten. Konkrete Vorbereitungen einer Evakuierung seien getroffen worden. Auch ein offizielles Schreiben habe man schließlich an deutsche Staatsangehörige in Afghanistan versenden dürfen, in dem diese auf die schlechtere Sicherheitslage hingewiesen und zum Verlassen des Landes aufgefordert wurden.
Am 15. August sei aus dem Auswärtigen Amt die Anweisung gekommen, die Botschaft zu evakuieren sowie die Erlaubnis, dass man Ortskräfte nicht zurücklassen müsse. Alle hätten sich gegen Ende des Einsatzes schrittweise dem vor Ort allgemein akzeptierten Handlungshorizont angepasst, dass man Afghanistan bis zum 31. August verlassen müsse.