Kontroverse um Mindestwahlalter bei Europawahlen
Berlin: (hib/LL) Ein Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP zur Absenkung des Mindestwahlalters für das aktive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament von derzeit 18 auf 16 Jahre (20/3499) ist am Montag bei einer öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Inneres und Heimat auf kontroverse Einschätzungen der Sachverständigen gestoßen.
Silke Ruth Laskowski, Professorin für Öffentliches Recht, Völkerrecht und Europarecht an der Universität Kassel, sagte, dass bereits 16-Jährige über eine ausreichende Urteils- und Einsichtsfähigkeit in ihr persönliches Handeln verfügen, zeigten zahlreiche Studien, auf die sich der Gesetzgeber zur Begründung einer Herabsetzung des Wahlalters stützen könne. Politisches Interesse und Engagement der Jugendlichen seien zudem in den letzten Jahren stetig gewachsen. Es bestehe daher „kein zwingender Grund mehr, 16- bis 18-Jährige von der Ausübung des aktiven Wahlrechts auszuschließen. Einer Änderung des Europawahlgesetzes stünden “keine verfassungsrechtlichen Argumente„ entgegen.
“Die Zeit des einheitlichen Wahlalters ab 18 liegt tatsächlich hinter uns„, sagte Thorsten Faas, Professor am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin. Man habe aktuell schon kein einheitliches Wahlalter mehr bei Kommunal- und Landtagswahlen in Deutschland. Politisches Interesse und Wissen in dieser Altersgruppe seien genauso hoch wie bei den Jahrgängen darüber. Die Wahlbeteiligung bei den 16- bis 18-Jährigen liege sogar über der der 20- bis 24-Jährigen. Man solle die Chance nutzen, die jungen Leute früh für das Thema Wahlen zu sensibilisieren und zu motivieren. “Aus politikwissenschaftlicher Sicht spricht wenig gegen eine Absenkung des Wahlalters.„
Dagegen konstatierte Bernd Grzeszick, Professor am Institut für Staatsrecht, Verfassungslehre und Rechtsphilosophie der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Jugendliche im Alter von 16 Jahren hätten noch keine entsprechende persönliche Reife, um ihnen das aktive Wahlrecht zu gewähren. Außerdem müsse eine Herabsetzung des Wahlalters auch eine Verschiebung der Grenze zwischen Jugend- und Erwachsenenstrafrecht nach sich ziehen. Blicke man über die nationalen Grenzen hinaus, so hätten die allermeisten Länder das Wahlalter auf 18 Jahre festgesetzt, entsprechend zum Eintritt in die Volljährigkeit.
Den Aspekt der persönlichen Reife unterstrich auch Eckart Klein, ehemals Inhaber des Lehrstuhls für Staats-, Völker- und Europarecht an der Universität Potsdam. Die Verfassung setze auf ein rationales Handeln des Staates. Daher beruhe die geltende Regelung auf der Annahme, dass das Erreichen eines bestimmten Alters eine ausreichende Lebenserfahrung mit sich bringe, die es dem wählenden Bürger erlaube, nicht nur einzelne Probleme zu erkennen, sondern es ihm ermögliche, daneben andere entscheidende Fragen in einen Gesamtzusammenhang zu bringen. “Das ist nicht gesichert in dieser Altersgruppe„ unter 18 Jahren.
Auch Stefanie Schmahl, Professorin für deutsches und ausländisches öffentliches Recht, Völkerrecht und Europarecht an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg, verwies darauf, dass eine “ganz überwiegende Zahl der EU-Mitgliedstaaten„ das 18. Lebensjahr als das Mindestalter für das aktive Wahlrecht sehe. Sie frage sich vor dem Hintergrund der Begründungen, die der Gesetzentwurf für eine Absenkung anführe, ob damit nicht der Weg gebahnt werden solle für eine Absenkung des Wahlalters auch bei Bundestagswahlen. Auf jeden Fall öffne man damit Tür und Tor, um auch die Volljährigkeitsgrenze in Frage zu stellen, die das Bürgerliche Gesetzbuch typisierend in nahezu allen Regelungsbereichen bei 18 Jahren sehe. “Man kann nicht das Wahlrecht als einzelnes herausgreifen.„ Eine Herabsetzung des Erwachsenenalters sei zudem entwicklungspsychologisch problematisch. Sie laufe dem Schutz des Kindeswohls zuwider.
“16- bis 17-Jährige haben keinen signifikant geringeren Wissensstand als die folgenden Kohorten„, sagte dagegen Herrmann Heußner, Professor für Öffentliches Recht und Recht der Sozialen Arbeit an der Hochschule Osnabrück. Es gebe keine Studie und auch entwicklungspsychologisch keine Argumente, die diesen Jugendlichen die nötige Reife absprächen. “Die Reife ist vorhanden.„ Die Schule habe zudem den Auftrag, die jungen Leute entsprechend zu befähigen.
“Das wirksamste Instrument, um junge Menschen stärker einzubeziehen„, sei die Gewährung des Wahlrechts, plädierte auch Wendelin Haag, Vorsitzender des Deutschen Bundesjugendrings, für eine Absenkung auf 16 Jahre. Rechtfertigen müssten sich diejenigen, die den 16- bis 17-Jährigen diese Form demokratischer Teilhabe vorenthalten wollten. Junge Menschen seien die Zielgruppe, die am längsten mit den Auswirkungen politischer Entscheidungen betroffen seien. “Sie sollten daher diese Entscheidungen jetzt mit bestimmen können.„ Zumal auf europäischer Ebene; Europa sei für die jungen Leute heute Lebensrealität.
Die Gewährung des Wahlrechts auch für 16- bis 18-Jährige, immerhin 1,4 Millionen Menschen in Deutschland, könne eine Hebelwirkung entfalten, meinte Shayan Mirmoayedi, Sprecher Öffentlichkeitsarbeit von JugendWählt: “Junge, die sich früh engagieren, werden später auch zur Wahl gehen.„ Es bedürfe sehr guter Gründe, das einzuschränken. Die Lehrpläne in Politik und Wirtschaft beispielsweise in der 10. Klasse der Hauptschule seien darauf ausgelegt, Grundlagen und Verständnis des politischen Systems und die Bedeutung politischer Partizipation zu vermitteln.
Wie sehr Wahlentscheidungen in allen Altersgruppen auch emotionalen Kriterien unterlägen, gab Jule Specht, Professorin am Institut für Psychologie der Humboldt-Universität Berlin, zu bedenken:.“Wahlentscheidungen unterliegen nicht nur rationalen Argumenten.„ Das gelte es zu bedenken, wenn man nach dem Zeitpunkt suche, an dem die Jugendlichen eine ausreichende persönliche Reife entwickelt hätten. Mit zunehmendem Lebensalter verliere außerdem das Alter als Kategorie an Aussagekraft. Die heutigen Jugendlichen legten zudem bessere kognitive Fähigkeiten an den Tag als frühere Generationen. Aus psychologischer Sicht lägen “keine stichhaltigen Argumente„ vor, die im Gesetzentwurf genannte Altersgruppe auszuschließen.