Zwei konträre Modelle zur Verkleinerung des Bundestages
Berlin: (hib/VOM) In der Wahlrechtskommission spitzt sich die Diskussion über die Möglichkeiten, den Bundestag zu verkleinern, auf zwei Modelle zu. Dies wurde am Donnerstagabend in der dritten Kommissionssitzung deutlich, in der es ausschließlich um Wege ging, das Parlament von seiner jetzigen Größe mit 736 Abgeordneten auf die Regelgröße von 598 Abgeordneten zurückzuführen. Das erste Modell hatten zunächst die Obleute der Ampelfraktionen eingebracht, zum zweiten Modell lag den Kommissionsmitgliedern nun ein Thesenpapier der Sachverständigen Bernd Grzeszick, Stefanie Schmahl und Rudolf Mellinghoff vor, von diesen als „echtes Zwei-Stimmen-Wahlrecht“, gelegentlich aber auch als Grabenwahlrecht bezeichnet. In ihrer letzten Sitzung vor der parlamentarischen Sommerpause am 7. Juli will die Kommission Eckpunkte formulieren, die dann in den Zwischenbericht münden, den die Kommission laut ihrem Auftrag bis Ende August vorlegen soll.
Beim „echten Zwei-Stimmen-Modell“ würde ein Teil der Mandate, zum Beispiel die Hälfte, von in den Wahlkreisen direkt gewählten Abgeordneten besetzt, jedoch unabhängig von den Zweitstimmenergebnissen. Der übrige Teil der Mandate würde entsprechend dem Zweitstimmenergebnis an Listenkandidaten vergeben. Ausgehend vom derzeitigen personalisierten Verhältniswahlrecht würde dieses Modell im Verständnis seiner Urheber eine Stärkung des Mehrheitsprinzips bedeuten, während das sogenannte Ampelmodell den Gedanken der Verhältniswahl stärker betonen würde. Das Grundprinzip dieses Modells lautet, dass es keine Direktmandate geben kann, die nicht vom Zweitstimmenergebnis gedeckt sind, und dass Wählerinnen und Wähler gegebenenfalls mit einer Ersatzstimme für einen anderen Direktkandidaten, der die Zweitstimmendeckung aufweist, dennoch dafür sorgen können, dass es keine „verwaisten“ Wahlkreise gibt.
Am Ende der dreistündigen Sitzung standen sich die Befürworter des einen und des anderen Modells argumentativ unversöhnlich gegenüber: „Die Situation ist da“, zitierte SPD-Obmann Sebastian Hartmann Konrad Adenauer. „Sie machen cherry picking, Sie haben das für sich beste und vorteilhafteste System ausgesucht“, hielt er der Unionsfraktion entgegen, die allerdings betonte, es handele sich um das Modell von drei Sachverständigen. Hartmann hob die „Bindung zweiter Stränge“ im Ampelmodell hervor, des Mehrheitswahlrechts und der doppelten Legitimation durch die Zweitstimmendeckung. Es sprach mit Blick auf das „echte Zwei-Stimmen-Modell“ von einem „Versuch durch die Hintertür“, das Wahlsystem umzustürzen, von einer Verzerrung und Beschränkung des Wählerwillens. Berechnungen hatten gezeigt, dass die Unionsparteien bei der Bundestagswahl 2021 bei Anwendung dieses Systems und hälftiger Aufteilung von Direkt- und Listenmandaten mehr Mandate erhalten hätten als die SPD.
Grünen-Obmann Till Steffen hielt das echte Zwei-Stimmen-Modell für „wenig in sich stimmig und zu Ende gedacht“. Eine Regierungsmehrheit müsse sich zum Prinzip machen, die Wahlchancen der Parteien nicht zu verändern. Wenn die Union jetzt diese Mehrheit hätte und das echte Zwei-Stimmen-Modell vorschlagen würde, wäre dies „ein Skandal“, so Steffen. FDP-Obmann Konstantin Kuhle assistierte: „Ist das normal, eine Reform zu machen, bei der eine andere Partei die Wahl gewonnen hätte?“ Kuhle sprach von einem „Paradigmenwechsel“ durch das echte Zwei-Stimmen-Modell, denn das jetzige Paradigma sei die Verhältniswahl.
Der CSU-Abgeordnete Alexander Hoffmann verteidigte das Modell indes. Es sei nicht festgefahren, lasse Spielräume und biete einen „Instrumentenkasten“ an. Dagegen hätten die Ampelfraktionen stets mit „Worst-case-Szenarien“ gegen das Modell argumentiert. Es bewahrheite sich die Befürchtung, dass der Union erklärt werden solle, weshalb der Ampelvorschlag das „allein Seligmachende“ ist. Die Schwäche des Ampelmodells liegt für Hoffmann in seiner Schwächung des Direktmandats. Für den Wähler sei die Erststimme entscheidend, bei der Zweitstimme nehme er eine strategische Ausgestaltung vor. Es gehe hier um Politikverdrossenheit. Hoffmann kritisierte die Ersatzstimmen-Regelung im Ampelmodell, die dazu führen könne, dass der Erststimmensieger - mangels Zweitstimmendeckung - nicht in den Bundestag einzieht, dafür vielleicht der Dritt- oder Viertplatzierte: „Das können Sie keinem Wähler erklären. Der Wähler weiß nicht mehr, was seine Stimme bewirkt.“
AfD-Obmann Albrecht Glaser brachte den Vorschlag ein, den Wählern ein Angebot zu machen, über Zweistimmen direkt in die starre Reihenfolge der Namen auf den Landeslisten der Parteien einzugreifen und damit das „Menü nicht so essen zu müssen wie es serviert wird“. Dies könnte die Selbstständigkeit von Abgeordneten gegenüber den Parteien zu stärken. Für Glaser wäre dies eine Stärkung des direktdemokratischen Elements, ohne im Übrigen das System der personalisierten Verhältniswahl verändern zu müssen.
Der Fraktionsvorsitzende der Linken, Dietmar Bartsch, der die Obfrau Petra Pau vertrat, erkundigte sich nach den Auswirkungen eines Ersatzstimmen-Systems auf die sogenannte Grundmandatsklausel, wonach eine Partei auch mit weniger als fünf Prozent der Zweitstimmen in den Bundestag einziehen kann, wenn sie mindestens drei Direktmandate erringt. Die Sachverständige Jelena von Achenbach meinte dazu, man müsse eine solche Klausel nicht in das Modell einbauen, könne es aus Akzeptanzgründen,aber tun. Der Sachverständige Robert Vehrkamp sprach sich dafür aus, die Grundmandatsklausel zu überdenken.
Zu Beginn der Sitzung gab die Ko-Kommissionsvorsitzende Nina Warken (CDU) bekannt, dass die Sachverständige Sophie Schönberger ihre Mitgliedschaft in der Kommission niedergelegt hat. Der Bundestag hat die aus 13 Abgeordneten und 13 Sachverständigen bestehende Kommission zur Reform des Wahlrechts und zur Modernisierung der Parlamentsarbeit am 16. März 2022 eingesetzt (20/1023). Sie soll in der parlamentarischen Sommerpause einen Zwischenbericht und bis Mitte kommenden Jahres einen Abschlussbericht mit Empfehlungen zur künftigen Begrenzung der Abgeordnetenzahl vorlegen.