Experten für Anerkennung des Völkermordes an Jesiden
Berlin: (hib/SAS) Tausende Jesiden sind durch Mitglieder der Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) verschleppt, versklavt und ermordet worden. Die Täter wurden bislang kaum belangt. In einer Anhörung des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe haben sich am Montag Sachverständige geschlossen für die Anerkennung der IS-Verbrechen als Völkermord ausgesprochen. Als solchen haben einzelne Staaten und internationale Organisationen wie die Vereinten Nationen die Taten des IS eingestuft - die Bundesregierung bis jetzt noch nicht. Im Petitionsausschuss des Bundestages war die Frage der Anerkennung bereits im Februar diskutiert worden. Anlass dafür war eine Petition, die der Co-Vorsitzende der Stelle für Jesidische Angelegenheiten in Berlin, Gohdar Alkaidy, eingebracht hatte.
Vor dem Menschenrechtsausschuss betonte Alkaidy noch einmal die große Bedeutung seines Anliegens: Die Anerkennung der Verbrechen als Völkermord sei das „zentrale Anliegen“ der Jesidinnen und Jesiden weltweit. Seit Jahrhunderten werde die religiöse Minderheit in ihrer Heimat diskriminiert, entrechtet und systematisch verfolgt. Der Überfall des IS im August 2014 auf die hauptsächlich von Jesiden bewohnte Region Shingal im Nordirak sei der Auftakt für einen Völkermord gewesen, in dessen Verlauf mehr als 5.000 Menschen auf „bestialische Weise“ ermordet und in Massengräbern verscharrt worden seien, so der Petent in seiner Stellungnahme. Laut UNITAD, dem Untersuchungsteam der Vereinten Nationen (VN) zu Verbrechen des IS, gebe es „klare und überzeugende Beweise“ dafür, dass die Verbrechen eindeutig einen Völkermord darstellten. Alkaidy appellierte eindringlich an die Abgeordneten, die „historische Chance“ zu nutzen und den Völkermord anzuerkennen.
Ähnlich äußerten sich auch Yilmaz Kaba, Vertreter des Zentralverbandes der Ezidischen Vereine in Deutschland und Irfan Ortac, stellvertretender Vorsitzender des Zentralrats der Jesiden in Deutschland: Gerade weil die Jesiden in Deutschland die größte Jesiden-Diaspora der Welt bildeten, trage Deutschland auch besondere Verantwortung. Eine mögliche Anerkennung des Völkermordes an den Jesiden durch die Bundesregierung bezeichnete Kaba als „wichtigen Schritt für den Schutz der Menschenrechte weltweit“. Ortac bat die Ausschussmitglieder, dem Bundestag eine Anerkennung als Völkermord zu empfehlen. Einen Frieden in der Region Shingal könne es ohne Gerechtigkeit nicht geben - und Gerechtigkeit sei wiederum ohne juristische Aufarbeitung nicht möglich, so der Experte. Jesiden forderten deshalb weltweit, die am Genozid Beteiligten vor Gericht zu stellen.
Florian Jeßberger, Professor unter anderem für internationales Strafrecht an der Humboldt-Universität zu Berlin, bestätigte, dass die IS-Verbrechen an den Jesiden in Shingal sich juristisch als Völkermord-Taten einordnen ließen. Er wies jedoch darauf hin, dass die Zerstörungsabsicht des Täters im Einzelfall nachzuweisen sei. Das Oberlandesgericht in Frankfurt am Main habe dies in einem Urteil 2021 getan: Der angeklagte IS-Terrorist sei unter anderem wegen Völkermordes, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt worden. Jeßberger hob hervor, dass die Taten des IS gegen die Jesiden auch als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bewertet werden könnten - das gelte insbesondere für die Verbrechen gegen jesidische Frauen und Mädchen, die verschleppt, vergewaltigt und in Sklaverei verkauft wurden, so der Strafrechtler. Durch diese juristische Bewertung könne die „geschlechtsbezogene und sexualisierte Dimension der Verbrechen zum Ausdruck gebracht werden“.
Christian Ritscher, Leiter von UNITAD, dem Untersuchungsteam der VN zu den Verbrechen des IS im Irak, verwies in seiner Stellungnahme auf den vor gut einem Jahr im Weltsicherheitsrat vorgestellten Abschlussbericht der Ermittlungsgruppe. Dieser komme zu dem „eindeutigen Ergebnis“, dass der gewohnheitsrechtliche Tatbestand des Völkermordes erfüllt sei. Dafür sprächen Akte, die unter anderem unter die Kategorien Massenexekutionen von Zivilisten, Versklavung und Missbrauch von jesidischen Frauen und Mädchen und Langzeitgefangennahmen von jesidischen Männern und Jungen fielen.
Jan Ilhan Kizilhan, Professor für Soziale Arbeit an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg, berichtete aus seiner Arbeit mit traumatisierten Opfern. Als Leiter des Instituts für transkulturelle Gesundheitsforschung habe er seit 2014 über 2.000 jesidische Frauen und Kinder gesprochen, die verschleppt, vergewaltigt und verkauft worden seien. „Das Grauen ist unvorstellbar“, sagte der Sachverständige. Die Geschichten der Opfer belegten zudem eine Verfolgung, die in ihrer Systematik an den Holocaust durch die Nazis erinnere, so der Psychologe. Die Jesiden hätten ein „kollektives Trauma“ erlitten.
Als Zeitzeugin trat Hakeema Taha in der Anhörung auf: Die junge Frau überlebte den Überfall durch IS-Terroristen auf ihr Dorf Kojo, kam nach ihrer Befreiung aus der IS-Gefangenschaft 2015 über ein Sonderkontingent nach Deutschland. Taha berichtete von dem Verlust ihrer Familie, Schlägen und Angst - und der Fassungslosigkeit darüber, dass frühere muslimische Nachbarn im Dorf den IS-Terror mitmachten: „Wir hatten keine Unterstützung.“
Düzen Tekkal, Gründerin des gemeinnützigen Vereins Hawar.help, der Frauen wie Hakeema Taha unterstützt, plädierte wie die auch anderen geladenen Sachverständigen für eine Anerkennung der IS-Verbrechen an den Jesiden als Völkermord. Die Genozid-Absicht sei gegeben, das hätten die Juristen in der Anhörung klar bestätigt. Das Grundsatzurteil des Oberlandesgerichts Frankfurt bezeichnete die Journalistin und Filmemacherin als „Meilenstein“. Zum ersten Mal sei der Straflosigkeit von Verbrechen gegen Jesiden ein Ende gesetzt worden. Deutschland habe sich „juristisch von der besten Seite gezeigt“. Dem müsse politisch gefolgt werden, forderte Tekkal: „Die Antwort kann nur sein, dass endlich anerkannt wird, dass der Genozid stattgefunden hat.“
Das Video zur Anhörung und die veröffentlichten Stellungnahmen der Sachverständigen auf bundestag.de: https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2022/kw25-pa-menschenrechte-880198