19.12.2024 2. Untersuchungsausschuss — Ausschuss — hib 887/2024

Zeugen berichten über Risiko-Abwägung beim AKW-Streckbetrieb

Berlin: (hib/LL) Der 2. Untersuchungsausschuss, der die staatlichen Entscheidungsprozesse zur nationalen Energieversorgung vor dem Hintergrund des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine untersuchen soll, hat am Mittwoch, nach der Befragung des Präsidenten der Bundesnetzagentur, Klaus Müller, noch zwei weitere Zeugen angehört: Gerrit Niehaus, Abteilungsleiter S „Nukleare Sicherheit, Strahlenschutz“ im Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz, sowie Volker Oschmann, Abteilungsleiter III „Strom“ im Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz.

Technische, rechtliche und Sicherheitsaspekte rund um die Fragen von „Laufzeitverlängerung“ und „Streckbetrieb“ der drei im Jahr 2022 noch betriebenen deutschen Atomkraftwerke standen im Mittelpunkt der Befragung des zweiten Zeugen. Schon bald nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine im Februar 2022 hätten sich Energiewirtschaft und zuständige Fachabteilungen in Ministerien und Behörden mit einer politisch-gesellschaftlichen Debatte über die Frage konfrontiert gesehen, ob ein Weiterbetrieb deutscher AKW dazu beitragen könne, eine mögliche Energieversorgungskrise abzuwenden, so Niehaus.

Die Betreibergesellschaften hätten dem in einer Telefonkonferenz im März 2022 ablehnend gegenübergestanden und Nachrüstungen und die Verantwortung für den Weiterbetrieb nicht übernehmen wollen. Die Atomwirtschaft habe sich bereits auf den Ausstieg eingestellt, Fachpersonal und Technik seien immer weniger verfügbar gewesen. Wirtschaftlich, technologisch und auch rechtlich sei die Frage der Atomenergie in Deutschland eigentlich erledigt gewesen, so der Ministerialbeamte.

Niehaus unterstrich, dass Sicherheitserwägungen und rechtsfeste Entscheidungen für seine Abteilung und sein Handeln stets die höchste Priorität gehabt hätten. Er unterstrich, dass seine Abteilung sich lediglich mit der nuklearen Sicherheit, nicht jedoch mit Fragen der Energieversorgungssicherheit, des Klimaschutzes oder der Preisgestaltung befasse.

Der Zeuge rief zudem den strengen rechtlichen Rahmen in Erinnerung, der aufgrund des Restrisikos der Atomenergie Regierung, Verwaltung, Parlament und Betreibern auf allen Ebenen klare Leitplanken für den Betrieb von Nuklearanlagen vorgebe: von der Gesetzeslage über den verfassungsrechtlich gewährten Schutz der Bürger und die Rechtsprechung bis hin zum Spielraum des Gesetzgebers, vom Beginn der zivilen Nutzung der Kernenergie in Deutschland bis zum Atomausstieg. Demnach sei „das Risiko der Nutzung der Atomkraft so groß, dass es nur für eine begrenzte Zeit hinzunehmen ist“.

„Der Abteilung S stand nie zu, diese grundlegende Risikobewertung der Atomkraft in Frage zu stellen“, so der Verwaltungsjurist. Innerhalb dieses Rahmens sei er der ihm von seinem und dem Bundeswirtschaftsministerium zugedachten Aufgabe nachgekommen, einem Gesetzesvorschlag zuzuarbeiten, der einen um dreieinhalb Monate gestreckten Leistungsbetrieb der drei verbliebenen AKW über den Bestandsschutz hinaus möglich machen sollte.

Schließlich habe man eine Abwägung der Rechtsgüter zu treffen gehabt, um die auslaufende Nutzung der Kernenergie noch um den Weiterbetrieb einiger Meiler um dreieinhalb Monate zu strecken: Wie schwer wiegt die Möglichkeit, dass vor dem Hintergrund von Gasknappheit und Strommangel flächendeckende Blackouts Menschenleben gefährden einerseits - und wie hoch ist das groß Restrisiko im Falle eines längeren Betriebs einzuschätzen andererseits?

Die drei AKW hätten „nicht dem laufenden wissenschaftlich-technischen Stand zur Schadensvorsorge entsprochen“, ein Nachrüsten so alter Anlagen sei ebenso wie die vorgeschriebene „periodische Sicherheitsüberprüfung“ in der kurzen Zeit nicht möglich gewesen. Seine Aufgabe sei gewesen, darauf hinzuweisen.

Unter Einbeziehung aller technischen Überlegungen und rechtlichen Vorgaben sei man zu dem Schluss gekommen, dass ein Weiterbetrieb von vor über drei Jahrzehnten gebauten AKW ein sicherheitstechnisch nicht hinnehmbares, hohes Risiko darstelle - ein angesichts der als „verschärft empfundenen Lage bei der Energieversorgung“ für dreieinhalb Monate verlängerter„Streckbetrieb“ aber möglich sei. So habe seine Abteilung eine „Gesetzesvorlage für einen befristeten Streckbetrieb vorgelegt“, mit dem die Bundesregierung am Atomausstieg habe festhalten, aber diese dreieinhalb Monate noch zugestehen können. „Wir haben uns schließlich entschieden, die Risikoerhöhung im Hinblick auf die Gefährdung anderer Rechtsgüter hinzunehmen, sagte der Zeuge.