Priorisierung unter den Ortskräften bei der Evakuierung
Berlin: (hib/CRS) Martin Jäger, der ehemalige Staatssekretär im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ), zeichnete ein differenziertes Bild bei der Aufnahme von Ortskräften aus Afghanistan. Die Ortskräfte der deutschen Institutionen in Afghanistan hätten den Erfolg des Aufbaus verkörpert und seien nach dem Vormarsch der Taliban im Sommer 2021 in großer Gefahr gewesen, sagte Jäger am Donnerstag bei der Anhörung im 1. Untersuchungsausschuss. Dennoch habe er eine pauschale Aufnahme abgelehnt, weil nicht alle gleichermaßen bedroht gewesen seien. Der Untersuchungsausschuss untersucht die Ereignisse zwischen der Unterzeichnung des Doha-Abkommens zwischen den USA und den Taliban im Februar 2020, mit dem der Abzug internationaler Truppen geregelt wurde, und der chaotischen Evakuierungsoperation am Flughafen Kabul im August 2021.
Der Diplomat betonte, im April 2021 mit der Ankündigung der Amerikaner im September des Jahres abzuziehen, sei jedem klar gewesen, was auf sie zukam. Daher sei in der Staatssekretärsrunde, in der sich Staatssekretäre aus allen Ressorts trafen, die sich mit dem Thema beschäftigten, darüber gesprochen worden, das Ortskräfteverfahren (OKV) praktikabel zu machen und zu beschleunigen. Dass immer neue Aspekte zu berücksichtigen gewesen seien, habe die Arbeit erschwert. So habe man beispielsweise überlegen müssen, wie mit den Mitarbeitern der Nichtregierungsorganisationen (NGOs) oder den Werkvertragsnehmern umgegangen werden sollte. Allerdings sei auch allen bewusst gewesen, dass es am Ende einen Punkt geben würde, nach dem das OKV mit Einzelanträgen nicht mehr funktionieren würde und ein pauschalisiertes Verfahren notwendig sei.
Seine Ablehnung einer pauschalen Aufnahme der Ortskräfte begründete der ehemalige Staatssekretär damit, dass alle Ortskräfte gleich behandelt werden müssten. Wenn, wie später geschehen, auch die Anträge der Ortskräfte der Bundeswehr oder der Bundespolizei rückwirkend Berücksichtigung fänden, die zwischen 2013 und 2019 gestellt worden sind, hätte es seiner Meinung nach schwierig werden können, den Ortskräften des BMZ oder des AA zu erklären, warum diese Regelung nicht auch für sie gelte. Dann wären jedoch so viele Personen aufnahmeberechtigt gewesen, dass das OKV nicht mehr praktikabel gewesen wäre.
Bereits im April habe das BMZ zusammen mit der Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) begonnen, die eigenen Ortskräfte auf eine eventuelle Evakuierung vorzubereiten. So seien sie zum Beispiel dazu aufgerufen worden, Reisepapiere zu beantragen, da viele Afghanen keine besessen hätten. Die GIZ habe bald begonnen, die Ortskräfte nach Kabul zu bringen. Besonders hervor hob Jäger die Rolle der Task Force, die im BMZ gegründet wurde. Diese sei am 9. August beschlossen und die Stellen seien sofort ausgeschrieben worden, sodass die Task Force während der Evakuierung sofort arbeitsfähig gewesen sei.
Jäger berichtete, dass während der militärischen Evakuierung der Kreis der Aufnahmeberechtigten auch für das BMZ erweitert wurde und die Zahl der Anträge stark angestiegen sei. Es sei schwer gewesen, die berechtigten Personen in den Flughafen zu bekommen, und auch die Flugkapazitäten seien nicht ausreichend gewesen. Daher habe man bei der Evakuierung die Personen priorisiert, die nach alter Regelung aufnahmeberechtigt waren und bereits Anträge gestellt hatten. Alle weiteren Anträge seien zwar entgegengenommen, aber später bearbeitet worden. Den Übergang von der Individual- auf Pauschalaufnahme in dieser Zeit bezeichnete der ehemalige Staatssekretär als einen „Sprung“. Das sei „eine ganz andere Welt“, sagte er.
Der damalige Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) habe in der heißen Phase, also in den Tagen der militärischen Evakuierung aus dem Flughafen Kabul, „eine operative Rolle übernommen“, erinnerte sich Jäger. Er habe viel Zeit in Gesprächen mit NGOs investiert und sei auch im Austausch mit dem Bundestag gewesen.
Abschließend führte der Zeuge nochmal zum Doha-Abkommen aus, dass ihn überrascht habe. Danach sei im BMZ diskutiert worden, was das für die Entwicklungszusammenarbeit (EZ) in Afghanistan bedeute. Beim BMZ sei man von zwei Szenarien ausgegangen: eine Regierungsbeteiligung der Taliban oder deren Machtübernahme. Vieles sei dabei davon abhängig gewesen, „ob man den Konflikt einhegen“ könnte. Zeitweise habe es Hoffnungen gegeben, sagte der Zeuge. Auch er habe gedacht, es könne mehr als eine Taliban-Herrschaft herauskommen.
Jäger verglich die damalige Situation mit der in den 1980er Jahren, nachdem die sowjetischen Truppen abgezogen worden waren. Damals habe die Regierung weiterhin die Städte kontrollieren können, bis die UdSSR ihre Finanzhilfe endgültig einstellte. Auch im Jahr 2021 habe die Regierung der afghanischen Republik eine Chance gehabt, unterstrich der Ex-Staatssekretär, dies hätte jedoch entsprechende westliche Unterstützung vorausgesetzt.
Das BMZ habe in Afghanistan immer mit Bedingungen gearbeitet, erläuterte Jäger. Im Verständnis des BMZ sei die Entwicklungszusammenarbeit kein Mittel der Außenpolitik, obwohl sie natürlich in die allgemeine Regierungspolitik eingebettet sei. Andererseits arbeite das BMZ immer mit Regierungen, führte er weiter aus. Auch im Falle einer Regierungsbeteiligung der Taliban hätte das Ressort nach Wegen gesucht, um diese Arbeit fortzusetzen, denn es gehe um die Unterstützung der Bevölkerung.