15.06.2023 | Parlament

Statement zum Jahresbericht 2023, Bundespressekonferenz

Das Bild zeigt eine Frau die eine Dokument in der Hand hält und schaut. Im Hintergrund sieht man eine blaue Wand mit der Aufschrift Bundespresse.

Die SED-Opferbeauftragte stellt ihren Jahresbericht 2023 in der Bundespressekonferenz vor. (© DBT / Team Zupke)

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

in den nächsten Tagen begehen wir den 70. Jahrestag des DDR-Volksaufstandes von 1953.
Wir denken an die Menschen, die Widerspruch und Widerstand übten und die für ihren Mut bitter bezahlen mussten.

Der 17. Juni widerlegt den Mythos, dass der Sozialismus im Osten Deutschlands ein Gesellschaftsmodell war, das gut begann und irgendwann auf die schiefe Bahn geriet.
Der 17. Juni führt uns schmerzhaft vor Augen, dass Einschüchterung, Repression und gelenkte Justiz eben von Anfang an Wesensmerkmale der Diktatur im Osten Deutschlands waren.

Vor ein paar Monaten nahm ich als SED-Opferbeauftragte an einem Bürgerdialog teil. Gegen Ende der Veranstaltung stand ein Mann im Publikum auf und ergriff das Wort.
„Warum, Frau Zupke, sind Sie und viele andere erst 1989 auf die Straße gegangen? Die Aufdeckung des Wahlbetrugs und sowas ist ja schön und gut. Aber ich wäre zur Mauer gezogen! Schon Jahre vorher hätte ich mich gewehrt!“

Ich muss gestehen, ich habe mich über diese Frage und sein Urteil über die DDR-Bürgerinnen und Bürger im ersten Moment sehr geärgert. Sich früher wehren? Mit einem Protestzug zur Mauer ziehen?

Ja, es gab sie. Die Vorkämpferinnen und Vorkämpfer der Demokratie und die Widerständigen, die gegen den Staat und Unterdrückung in der DDR aufgestanden sind – über alle Jahrzehnte hinweg! Viele von ihnen und ihre Familien gingen durch die Hölle oder bezahlten mit ihrem Leben. Wenn man genauer hinsieht, merkt man jedoch, dass die Frage, die dahinter liegt, durchaus ihre Berechtigung hat.

Warum gingen die Menschen nach 1953 erst wieder 1989 zu Tausenden auf die Straße und übten öffentlichen Protest? Warum haben sich scheinbar nur wenige Menschen in den Jahrzehnten davor gewehrt?

Ich bin überzeugt davon, dass die Auseinandersetzung mit dem 17. Juni 1953 uns dabei helfen kann, die SED-Diktatur und ihre Folgen besser zu verstehen. Zu verstehen, warum es Jahrzehnte brauchte, bis aus dem Widerstand Weniger eine friedliche Revolution wurde.

Der 17. Juni prägte die Herrschenden in der DDR.

Ihr Trauma war es für Jahrzehnte, dass das Volk sich erneut gegen das System erheben könnte. So fragte Stasi-Minister Erich Mielke seine leitenden Offiziere im August 1989 in einer Dienstbesprechung mit Blick auf Fluchtwellen und wachsende Proteste im Land: „Ist es so, dass morgen der 17. Juni ausbricht?“

Gleichzeitig hatte der 17. Juni 1953 auch eine tiefgreifende Wirkung auf die Menschen in der DDR. Die unerbittliche Härte, mit der gegen die Proteste vorgegangen wurde, sie wirkte über Jahrzehnte nach. Haben wir bisher genug vermittelt, was es bedeutet, in einer Diktatur zu leben? Und ganz besonders: Was es heißt, Opfer einer Diktatur zu werden? Haben wir aufgezeigt, wie lange die Folgen von Repression fortwirken? Und: Haben wir ein Bewusstsein dafür geschaffen, wie weit der Arm der Diktatur reichte?

Die Diktatur fand eben nicht nur hinter den Gefängnismauern von Hohenschönhausen oder in der Stasi-Zentrale statt. Die DNA der SED-Diktatur war die Durchdringung der Institutionen und der gesamten Gesellschaft.

Für mich kann es daher keinen geeigneteren Tag geben als den Jahrestag des DDR-Volksaufstandes, um meinen Jahresbericht dem Deutschen Bundestag vorzulegen. Einen Bericht, in dem ich aufzeige, wie die Lage der Opfer heute ist und was Politik und Gesellschaft ganz konkret für die Betroffenen tun können.

Vieles hat sich für die Opfer der SED-Diktatur in den letzten Monaten positiv entwickelt:

  • Ich bin den Abgeordneten über die Fraktionsgrenzen hinweg dankbar für die breite Unterstützung für die Anliegen der Opfer und für meine Arbeit als SED-Opferbeauftragte.
  • Endlich haben wir einen konkreten Standortvorschlag für das Mahnmal für die Opfer des Kommunismus.
  • Einen Standort nicht irgendwo in Berlin, sondern direkt am Deutschen Bundestag, dem Herzen unserer Demokratie.
  • Die vom Bund geförderten Forschungsverbünde zu SED-Unrecht wurden verlängert. Dies ist nicht selbstverständlich in Zeiten eines sinkenden Forschungsetats.

Aber von diesen positiven Zeichen dürfen wir uns nicht täuschen lassen. 

Die Situation der Opfer ist weiterhin ernst. Und ich muss leider sagen, sie hat sich in den letzten Monaten nicht zum Guten entwickelt. Für mich ist der 70. Jahrestag des DDR-Volksaufstandes daher nicht nur ein Tag der Erinnerung an die Opfer.

Dieser Tag fordert uns regelrecht auf, etwas für die Menschen zu tun, die sich der Diktatur in den Weg gestellt haben.

Vier Dinge sind mir dabei besonders wichtig:

Erstens: Wir müssen die Betroffenen von SED-Unrecht besser vor prekären Lebensverhältnissen und Altersarmut schützen!

Schon vor drei Jahren hat die Brandenburger Landesbeauftragte eine Studie für ihr Bundesland vorgelegt. Danach lebt heute rund die Hälfte der SED-Opfer an der Grenze zur Armutsgefährdung. Neuere Studien aus den anderen Bundesländern zeigen, dass es den Opfern dort nicht besser geht. Für mich ist dies mehr als alarmierend!

Die Lebensmittelpreise sind im letzten Jahr um über 15 Prozent gestiegen. Ebenso sind es die Kosten für Strom, Heizkosten und Mieten. Die Opferrente aber und die Leistungen für beruflich Verfolgte sind seit Jahren auf gleichem Niveau festgefroren.

Um es drastisch zu formulieren: Während die Renten für Träger des SED-Regimes, sei es bei der SED oder der Stasi, in den letzten vier Jahren jedes Jahr im Schnitt um 4 Prozent gestiegen sind, wurden die Leistungen für die Opfer der SED-Diktatur nicht um einen Cent erhöht.

Mir ist bewusst, dass die Renten für die Staatsbediensteten und die Leistungen für die Opfer unterschiedliche Systeme sind. Es ist trotzdem aber ein Signal, was wir seit Jahren damit senden. Wir brauchen dringend die im Koalitionsvertrag vorgesehene Dynamisierung der Opferrente. Wir brauchen die Dynamisierung und eine Erhöhung.

Und: Wir brauchen ebenso dringend den Verzicht auf die Absenkung der Leistung für beruflich Verfolgte bei Renteneintritt. Nur so können wir die Opfer wirksamer vor Altersarmut schützen. 

Für all das brauchen wir keine komplizierten Gesetzesänderungen. Es sind kleine Stellschrauben in den bestehenden Gesetzen, an denen wir drehen müssen, mit großer Wirkung für die Betroffenen. Gleichzeitig brauchen wir den bundesweiten Härtefallfonds, um all den Opfern unbürokratisch helfen zu können, die sich in einer finanziellen Notlage befinden.

Der Härtefallfonds steht im Koalitionsvertrag. Für die Ausgestaltung des Fonds habe ich der Bundesregierung bereits im Herbst ein konkretes Konzept vorgelegt. Es ist ein Konzept, das auf der jahrelangen Arbeit der Landesbeauftragten mit ihren jeweiligen Länderfonds aufbaut. Ich habe kein Verständnis dafür, dass mehr als 17 Monate nach Regierungsbildung die Zuständigkeit für die Aufsetzung des Fonds zwischen den Ministerien noch immer nicht geklärt ist. Bei diesem für die Opfer so wichtigen Projekt muss jetzt endlich der Startschuss fallen.

Die Richtung stimmt! Aber wir müssen das Tempo erhöhen!

Zweitens: Wir brauchen ein neues System zur Anerkennung von verfolgungsbedingten Gesundheitsschäden! Über Jahre schon kämpfen die Opferverbände, die Landesbeauftragten und viele in der Politik dafür, dass die Anerkennungsquoten bei den Anträgen von SED-Opfern auf Beschädigtenversorgung endlich besser werden. Wie es sich für die Opfer anfühlt, im jetzigen Anerkennungssystem zu scheitern, durfte ich bei einer Betroffenen aus Baden-Württemberg erleben.

Als junge Frau entschied sie sich, nach langem Ringen, die DDR zu verlassen und stellte einen Ausreiseantrag. Dass sie einer Freundin im Westen von ihrem Wunsch berichtete, wurde ihr zum Verhängnis. Für „Ungesetzliche Verbindungsaufnahme“ wurde sie zu 20 Monaten Haft verurteilt. Einschüchterungen, Zwangsarbeit, Demütigungen, ja sogar Zwangsuntersuchungen durch einen Frauenarzt musste sie auf ihrem Leidensweg durch die DDR-Gefängnisse ertragen. Schließlich wurde sie aus dem Gefängnis entlassen und konnte ein halbes Jahr später ausreisen. Angekommen im Westen, ließen sie die traumatischen Erlebnisse aus der Haft nicht los. Mit den Jahren wurde es sogar immer schlimmer. Panikattacken, Schlaflosigkeit und Angstzustände wurden zu Begleitern ihres Alltags.

2006 stellt sie ihren ersten Antrag auf Anerkennung eines Haftfolgeschadens - und scheiterte. Über Jahre kämpfte sie weiter und zog vor die Gerichte. Nach acht Jahren, 2014, gab es endlich Licht am Ende des Tunnels. Im Rahmen eines Vergleiches wurde ihr schließlich ein niedriger Grad der Schädigung zugesprochen und damit der Zugang zu Leistungen gewährt.

Endlich ein Teilsieg für die Betroffene, würde man denken. Drei Jahre später, 2017, jedoch, bekam sie erneut Post vom Amt. Bei erneuter Überprüfung des Schädigungsgrades habe man festgestellt, hieß es in dem Schreiben, dass andere, aktuellere Ereignisse in ihrem Leben sich negativ auf ihre Psyche ausgewirkt haben müssten. Ihre Scheidung und der Verkauf des Eigenheims seien die Hauptursachen für ihre psychischen Probleme und nicht die Monate in den Gefängnissen einer Diktatur. Der Grad der Schädigung wurde wieder auf nullgesetzt und der Zugang zu den Leistungen verwehrt. Seitdem kämpft die Betroffene weiter. Sie kämpft nicht nur darum dringend benötigte Leistungen zu erhalten. Sondern sie kämpft vor allem um Gerechtigkeit und auch um ihre Glaubwürdigkeit.

Für mich ist dieses Beispiel symptomatisch. Bundestag und Bundesrat haben in den letzten 30 Jahren Prüfungen für Verbesserungen und einzelne Veränderungen am bestehenden Anerkennungssystem beschlossen. Leider führte keine dieser Bemühungen zum Erfolg. Heute müssen wir uns eingestehen, dass das bisherige Anerkennungssystem gescheitert ist.

Was wir brauchen, ist eine Neuorientierung weg von der Ermessensentscheidung des einzelnen Sachbearbeiters!

Was wir brauchen, ist ein Verfahren, bei dem anhand klar definierter Kriterien entschieden wird.

Mit meinem Jahresbericht lege ich daher dem Bundestag einen ganz konkreten Vorschlag für eine grundlegende Gesetzesänderung vor. Mein Vorschlag hat sich bewährt. Er orientiert sich an der Einsatzunfallverordnung im Bereich des Soldatenrechts. Hier hat man vorgemacht, wie anhand von klar definierten Kriterien die Kausalität zwischen dem schädigenden Ereignis und dem heutigen psychischen Gesundheitsschaden vermutet wird. Für Opfer der SED-Diktatur können wir die schädigenden Ereignisse klar benennen und belegen. Sei es politische Haft oder seien es Zersetzungsmaßnahmen. Ebenso klar kennen wir die heutigen Krankheitsbilder, wie z.B. die Posttraumatische Belastungsstörung.

Ich wünsche mir, dass das, was der Bundestag vor Jahren aus Gründen der besonderen Fürsorge für die Soldatinnen und Soldaten möglich gemacht hat, dass das der Bundestag auch für die Opfer der SED-Diktatur auf den Weg bringt. Die Zusage, die das wiedervereinigte Deutschland vor über 30 Jahren den Opfern der SED-Diktatur im Einigungsvertrag gemacht hat, diese Zusage, dass die Opfer des SED-Unrechts-Regimes rehabilitiert und entschädigt werden, sie gilt für mich auch nach über 30 Jahren unverändert. Diese Zusage drückt für mich die besondere Fürsorge aus, die die Politik und wir als Gesellschaft gegenüber den Opfern haben.

Drittens: Wir brauchen eine Stärkung von Aus- und Fortbildung zu SED-Unrecht für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Ämtern und Behörden. In 2021 hat der Bundestag beschlossen, die Auseinandersetzung mit dem SED-Unrecht in die Richter-Ausbildung aufzunehmen – die Länder beginnen gerade, diese Vorgabe umzusetzen. Für mich ist das ein ganz wichtiges Signal!

Mein Blick richtet sich aber nicht nur auf angehende Richterinnen und Richter, sondern ganz besonders auch auf das bestehende Personal in den Ämtern und Behörden. 

Um in Deutschland entscheiden zu dürfen, wie eine Verkehrsinsel bepflanzt wird, braucht man in der Regel eine mehrjährige Fachausbildung. Um wiederum über Anträge von Betroffenen von SED-Unrecht wiederum entscheiden zu dürfen, wird in den Ämtern kein Fachwissen vorausgesetzt. In meinem Jahresbericht werbe ich daher für eine Fortbildungsoffensive.

Mir geht es dabei nicht um monatelange Fortbildungen, sondern um die komprimierte Vermittlung von Fachwissen zu den Formen der Repression und den Folgen für die Betroffenen. 

Viertens und letztens: Die Forschung zu SED-Unrecht braucht feste und dauerhafte Strukturen! Wie erwähnt, bin ich dem Bundestag dankbar für die Verlängerung der Forschungsverbünde. Die Förderung ist jedoch nur befristet. Und gilt auch nur für einen Teil der bisherigen Projekte.

Um die Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur langfristig in der Forschung zu sichern, braucht es dauerhafte Strukturen in unserer Hochschullandschaft. Es braucht eine feste Einbettung in Forschung und Lehre.

Wir haben in Deutschland rund 15 Lehrstühle und Professuren für bayerische und fränkische Landesgeschichte. Aber, wir haben nicht einen einzigen Lehrstuhl zur Geschichte der DDR und der Geschichte des Kommunismus. Hier sehe ich die Länder in der Verantwortung.

Zum 70. Jahrestag des DDR-Volksaufstandes gedenken wir der Opfer des 17. Juni 1953. Wir würdigen all die Menschen, die in über 40 Jahren SED-Diktatur für Freiheit und Selbstbestimmung gekämpft haben. Viele von ihnen mussten hierfür einen hohen Preis zahlen. Gleichzeitig setzen wir uns ein für all die Opfer der SED-Diktatur und versuchen, ihr Leid zu lindern.

An die Opfer der SED-Diktatur erinnern und die Betroffenen heute unterstützen!

Das ist für mich die Botschaft, die vom 17. Juni hier und heute ausgehen kann.


Vielen Dank!