25.11.2022 | Parlament

Abschluss des Projektes „Heimerziehung in DDR-Spezialheimen“

Das Bild zeigt eine Frau die in ein Mikrofon spricht.

Grußwort der SED-Opferbeauftragten bei der Abschlusstagung des BMBF-Forschungsverbundprojektes „Heimerziehung in Spezialheimen der DDR“ in den Räumen der Gedenkstätte Berliner Mauer. (© DBT / Team Zupke)

Grußwort der SED-Opferbeauftragten bei der Abschlusstagung des BMBF-Forschungsverbundprojektes „Heimerziehung in Spezialheimen der DDR“ in den Räumen der Gedenkstätte Berliner Mauer. 

Liebes Team der Gedenkstätte,

liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Forschungsverbundes, liebe ehemalige Heimkinder, die heute gekommen sind, liebe Gäste,

im September fand nach zwei Jahren Pandemie-Pause zum ersten Mal wieder der Tag der Offenen Tür im Bundestag statt. Als SED-Opferbeauftragte stellte ich dort meine Arbeit vor. Nach einem Podiumsgespräch kam eine Frau an unseren Stand und sprach uns an. „Die Überwachung durch die Stasi und das, was in den Gefängnissen und auch an der Mauer passiert ist, das war schrecklich“, sagte sie. „Das war unmenschlich. Die armen Menschen, die so etwas erdulden mussten. Aber die Sache mit den Jugendwerkhöfen, insgesamt mit den Heimen, das war so wie in jedem anderen Land auch. Glauben Sie mir, im Jugendwerkhof war niemand ohne Grund.“

Auch wenn mir bewusst war, dass immer noch viele Menschen in dieser Richtung denken, überraschte es mich, mit welcher Entschiedenheit sie auf die DDR-Heimerziehung blickte. Dass die DDR eine Diktatur war, stand für sie nicht in Frage. Die DDR-Heimerziehung aber, das war für sie etwas völlig anderes.

Es gab NICHT zwei DDRen, eine der Diktatur und eine der `normalen` Institutionen

Es ist eine Sichtweise, welche wir auch über 30 Jahre nach dem Ende der DDR noch immer häufig finden. Es ist als, ob es zwei DDRen gegeben hätte: Die DDR der Diktatur, der Einheitspartei, der Stasi. Und eine zweite DDR: Die der Menschen und der „normalen“ Institutionen. Es ist, als wenn man einen Strich ziehen würde, durch die Gesellschaft und auch durch die Institutionen.

Mir ist es daher wichtig, es immer wieder zu betonen: Die Diktatur fand eben nicht nur hier an der Grenze oder hinter den Gefängnismauern von Hohenschönhausen statt. Die DNA der SED-Diktatur war die Durchdringung der Institutionen und der gesamten Gesellschaft.

Nicht alles, was im Erziehungssystem der DDR passiert ist, war kriminell. So wie in anderen gesellschaftlichen Bereichen auch, wurden aber auch diese Institutionen als Instrumente der Repression genutzt.

Diese Durchdringung des DDR-Erziehungssystems haben Sie sich als Forschungsverbund zu Ihrem Thema gemacht. Sie haben dabei auf Strukturen und auf die Menschen geblickt. Mit Ihrer Forschung bringen Sie weiter Licht in einen Bereich, der viel zu häufig noch im Schatten liegt.

Dieser Schatten, diese häufig vorhandene Unkenntnis in unserer Gesellschaft über die Verhältnisse in den Spezialheimen, hat weitreichende Folgen für die Betroffenen:

Viel zu lange mussten die Jugendwerkhöfler und Heimkinder warten, bis auch für sie Verbesserungen bei den Rehabilitierungen eintraten. Häufig fühlten und fühlen sie sich als Opfer zweiter Klasse.

Auch heute haben es die ehemaligen Heimkinder bei der Anerkennung ihrer verfolgungsbedingten Gesundheitsschäden besonders schwer. Wie kann einen der Aufenthalt in einer „ganz normalen“ Jugendhilfe-Einrichtung krank machen?

Mit solchen Fragen sehen sich Betroffene bis heute konfrontiert.

Und wir merken es auch bei den Begriffen, die in Zusammenhang mit den Spezialheimen verwendet werden. Obwohl es sich um politisch motivierten Freiheitsentzug handelte, fällt es bis heute vielen Menschen schwer, davon zu sprechen, dass Kinder und Jugendliche „inhaftiert“ waren.

Mit Ihrer Forschung und ganz konkret mit dieser Tagung wirken Sie diesen falschen Bildern entgegen. Und was mich als Opferbeauftragte besonders freut ist, dass Sie die Betroffenen in den Mittelpunkt gestellt haben. Gerade mit Blick auf die Biografien der betroffenen Kinder und Jugendlichen wird der Charakter dieser Einrichtungen deutlich.

Freiheit und Selbstbestimmung wurden überall verwehrt

Von der Initiativgruppe Gedenkstätte Jugendwerkhof Torgau e. V., dem ausrichtenden Verbundpartner des Forschungsprojektes, finde ich, wurde der Ort für Ihre Abschlusstagung wirklich passend gewählt. Dieser Ort – die ehemalige Grenze – steht in einer Verbindung zu den Jugendwerkhöfen und Spezialkinderheimen, die häufig nur auf den zweiten Blick sichtbar wird.

Der Drang nach Freiheit und Selbstbestimmung. Er war der Antrieb vieler junger Menschen zur Flucht, Flucht über die innerdeutsche Grenze oder über die Berliner Mauer. Der Drang von Kindern und Jugendlichen nach Freiheit und Selbstbestimmung war gleichzeitig der Feind der repressiven DDR-Heimerziehung. Diesen Drang zu brechen, war Aufgabe dieser Einrichtungen.

So war es auch bei Dieter Brandes.

Dieter Brandes wurde kurz nach Kriegsende in Frankfurt (Oder) geboren. Bis ins Jugendalter lebt er in unterschiedlichen Kinderheimen. Im Juni 1964, Dieter Brandes ist 17, versucht er, in den Westen zu flüchten. Seine Flucht scheitert und er wird in den Jugendwerkhof im Sömmerda eingewiesen. Ziel ist die Umerziehung, damit er sich endlich anpasst. Ende des Jahres wird er entlassen und zieht zu seinem Vater und seiner Stiefmutter nach Frankfurt. Dort nimmt er eine Arbeit als ungelernter Betonbauer auf. Ein Jahr später wagt er erneut die Flucht. Sein Ziel ist seine leibliche Mutter, die mittlerweile in Hamburg lebt. Am späten Abend des 9. Juni 1965 wird er, keine 400 Meter von hier, beim Versuch die Sperranlagen zu überwinden von den Grenzsoldaten entdeckt und schließlich niedergeschossen. Dieter Brandes ist nicht sofort tot. Eine Kugel hat seinen Brustkorb zertrümmert und seine Lunge schwer verletzt. Als er nach der Versorgung der Wunde im Volkspolizei-Krankenhaus wieder zu sich kommt, stellt sich heraus, dass er querschnittsgelähmt ist. In den darauffolgenden Monaten verschlimmert sich sein Zustand.  Schließlich erliegt er sechs Monate später den Folgen seiner Verletzungen.

Vom Kinderheim über den Jugendwerkhof bis zu den tödlichen Schüssen auf ihn an der Berliner Mauer: Freiheit und Selbstbestimmung blieben Dieter Brandes ein Leben lang verwehrt.

Sein Schicksal führt uns schmerzhaft vor Augen, dass die Diktatur ihr Gesicht eben nicht nur wie hier an der Bernauer Straße durch Mauer und Stacheldraht zeigt. Die Diktatur zeigt ihr Gesicht ebenso auch in der repressiven Heimerziehung.

Ich wünsche mir, dass wir als Gesellschaft, so wie wir die Mauer klar als brutales Instrument der Diktatur sehen, mit gleicher Klarheit auch auf die Jugendwerkhöfe und Spezialheime blicken.

Mit Ihrer Forschung legen Sie die Strukturen des DDR-Erziehungssystems weiter offen und treiben die dringend notwendige Aufklärungsarbeit weiter voran.

Als SED-Opferbeauftragte des Bundestages bin ich Ihnen hierfür – und ich denke, ich spreche auch für die vielen zehntausenden Betroffenen - besonders dankbar.


Vielen Dank!

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