„Die Stasi-Akten bezeugen das begangene Unrecht“ - Stasi-Unterlagen-Archiv Halle
Liebe Birgit Neumann-Becker,
liebe Alexandra Titze,
lieber Herr Dr. Langer,
meine sehr geehrten Damen und Herren,
am 17. Juni dieses Jahres habe ich das Amt der Opferbeauftragten für die SED Diktatur angetreten. Direkt an diesem Tag meldete sich ein Mann, Mitte 60, in meinem Büro.
Er erzählte von seinem Leben in der DDR. Von der Schulzeit, von seiner Ausbildung im Betrieb und von seiner damaligen Sehnsucht, einfach abzuhauen in die Freiheit. Eines Tages wurde er von der Stasi zum Gespräch geladen. „Zur Klärung eines Sachverhalts“. Er war schockiert davon, was der Vernehmer alles von ihm wusste. Dinge, von denen er sich sicher war, dass eigentlich nur die Familie davon wissen könnte. Für ihn ist die Geschichte damals gut ausgegangen. Er wurde noch vorsichtiger, als er es eh schon war. Aber es blieb für ihn bei diesem einen Gespräch.
In den 1990er-Jahren gehörte er zu den ersten Bürgern, die die Möglichkeit der Akteneinsicht nutzen. Bei der Akteneinsicht sah er die Berichte, die über ihn angefertigt wurden. All das intime Wissen, was der Staat sich über ihn angeeignet hatte.
Die Akteneinsicht war für ihn enorm wichtig. Er entschied sich jedoch damals bewusst, den Decknamen des IMs der über ihn berichtet hatte, nicht zu entschlüsseln. Zu groß, so beschrieb er es, war seine Angst, dass der IM sein eigener Bruder sein könnte. Diese Sorge begleitete ihn über mehr als zwei Jahrzehnte. Nach unserem Gespräch, entschied der Mann, einen Wiederholungsantrag zu stellen, um endlich doch herauszufinden, wer der IM gewesen ist. Die Auskunft kam zügig. Der IM war nicht sein Bruder, sondern ein Kollege im Betrieb. Nach mehr als drei Jahrzehnten hatte er Gewissheit über das, was ihm damals passiert ist.
Für mich steht diese Geschichte sinnbildlich für das, was die Stasi-Unterlagen seit rund 30 Jahren für unsere Gesellschaft leisten. Sie bringen Licht ins Dunkel. Die Stasi-Akten helfen dabei, aufzuklären. Manchmal sind die Erkenntnisse unerwartet, manchmal bitter oder – wie in diesem Fall – einfach erleichternd.
Aber die Akten sind für die Betroffenen mehr als reine Informationsträger.
Für die politischen Häftlinge sind die Stasi-Akten häufig Zeugen des begangenen Unrechts. In den Verfahren zur Rehabilitierung liefern die Akten meist die wichtigsten Belege für das was geschehen ist.
Die Täter schweigen. Aber die Akten sprechen.
Die letzten Monate waren besondere für das Stasi-Unterlagen-Archiv. Es ist eine Mammut-Aufgabe, zwei so große Behörden miteinander zu verschmelzen. Ich habe großen Respekt vor dieser Leistung, aber die Integration der Stasi-Akten in das Bundesarchiv ist weitaus mehr als eine Behördenfusion. Es ist gleichzeitig auch eine Zäsur. Ein Veränderung, an die viele sich erst gewöhnen müssen.
Wichtig ist es mir daher ganz besonders zu betonen: All das was für die Betroffenen wichtig ist, bleibt erhalten:
- Erstens: Das Gesetz, was den Zugang zu den Akten regelt. Ein Gesetz, dass die Persönlichkeitsrechte schützt und gleichzeitig aber Aufklärung für die Gesellschaft ermöglicht
- Zweitens: Die Beratung und die Akteneinsicht vor Ort an allen bisherigen Standorten wird es weiterhin geben.
Für viele Betroffene ist dieser Übergang der Stasi-Unterlagen in die Verantwortung des Bundesarchivs kein leichter. Diese Sorgen sollten wir ernst nehmen. Umso wichtiger ist es, dass wir Ängsten und Befürchtungen gemeinsam aktiv entgegentreten und zeigen, dass die Integration des Stasi-Unterlagen-Archivs in das Bundesarchiv ein Gewinn sein kann. Ein Gewinn für die Gesellschaft, ein Gewinn für die Forschung. Aber besonders: Ein Gewinn für die Opfer und ihre Angehörigen.
Ich möchte dafür werben, dass wir die Vorteile die dieses gemeinsame Dach bietet, noch stärker nutzen. Zwischen 1949 und 1989 haben 3,5 Mio. Menschen die DDR gen Westen verlassen. Viele von ihnen setzen sich erst jetzt mit ihrer Biografie näher auseinander. Oft bei Renteneintritt, oder weil Kinder und Enkel danach fragen.
Das überarbeitete Stasi-Unterlagen-Gesetz eröffnet erstmals die Möglichkeit für Beratung und Akteneinsicht auch an den westdeutschen Standorten des Bundesarchivs. Ein riesiger Fortschritt für die Opfer. Hier haben die Abgeordneten des Bundestages und ganz besonders die Vorsitzende des Kulturausschusses Katrin Budde, auch gegen manche Widerstände, die Interessen der Opfer ganz klar in den Mittelpunkt gestellt.
Ich wünsche mir für die Betroffenen in Westdeutschland, dass zu Beginn des neuen Jahres erste Beratungstage in Bayreuth, Freiburg und Koblenz stattfinden. Erstmals liegen die Stasi-Akten und die Haft-Akten, sowie weitere DDR-Bestände, unter einem gemeinsamen Dach. Ich wünsche mir, dass die Opfer in Zukunft alle für sie relevanten Unterlagen mit nur einem Antrag erhalten. Die Stasi-Akten und die Haft-Akten.
Ein Antrag – alle Akten.
Die Außenstellen des Stasi-Unterlagen-Archivs liegen mir besonders am Herzen. Es sind gerade diese Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die den direkten Draht zu den Opfern haben. Bei den Beratungsgesprächen in den Außenstellen, aber ganz besonders auch bei Beratungstagen in den Regionen. Hier bildeten sich, vor Corona, oft regelrecht Schlangen von Menschen, die einen Antrag auf Akteneinsicht stellen wollten. Für die Betroffenen wünsche ich mir, dass diese Beratungen in der Nach-Corona-Zeit im gleichen Maße wieder angeboten werden.
Auch die Außenstellen – so sieht es das neue Gesetz vor – werden sich verändern. Hierfür braucht es tragfähige Konzepte und vor allem starke Partner. Ermutigen wir die Länder und Kommunen, dass sie ihren Beitrag leisten, indem sie Gedenkstätten ausreichend fördern und zusätzlich Beratungsangebote für die SED-Opfer schaffen. Nutzen wir die nächsten Jahre, um insbesondere mit den Landesbeauftragten gemeinsam tragfähige Konzepte für alle zukünftigen Standorte zu entwickeln. Hier zählt für mich Gründlichkeit vor Schnelligkeit. Die Begleitung dieser Entwicklung sehe ich hier in Sachsen-Anhalt bei Birgit Neumann Becker in sehr guten Händen.
Eines habe ich in meinen ersten drei Monaten im Amt ganz deutlich gemerkt: In der Auseinandersetzung mit dem SED-Unrecht kommt der Forschung eine Schlüsselrolle zu. Ohne fundierte Forschungsergebnisse ist es schwer, die notwendige Unterstützung für die Opfer durchzusetzen.
In den vergangenen Jahren gab es im Stasi-Unterlagen-Archiv eine Akzentverschiebung hin zur quellenkundlichen Forschung, mit dem Ziel, das Archiv für die Forschung lesbarer zu machen. Diese Akzentverschiebung wirkt tief in die Wissenschaftslandschaft hinein.
In den letzten Jahren wurden durch eine Förderung des Bundesforschungsministeriums vierzehn Forschungsverbünde zum SED-Unrecht eingerichtet. Diese stärken die Erforschung der SED-Diktatur. Aber: Sie sind zeitlich befristet. Die Forschung zum SED-Unrecht braucht jedoch eine langfristige, ja dauerhafte Perspektive.
Der Bundestag hat sich in einem Beschluss in 2019 dazu bekannt, die Forschung über die Diktaturen des 20. Jahrhunderts in Deutschland und Europa zu stärken. Er beauftragte die Bundesregierung, die Schaffung eines eigenen Forschungszentrums für dieses Thema zu prüfen, als Ergänzung zu den bestehenden Forschungseinrichtungen. Diese Prüfung sollte zügig angegangen werden, damit Archiv und Wissenschaftslandschaft auch weiterhin ineinandergreifen können.
Es muss nicht immer ein Forschungszentrum in Berlin sein. Die Forschungsverbünde haben aus meiner Sicht eindrucksvoll gezeigt, wie durch die Vernetzung von Universitäten in den Regionen, Archiven, Gedenkstätten ja sogar Opferverbänden ein Ansatz verfolgt werden kann, der direkt in Bildung und Beratungspraxis wirkt.
Die Gesetznovelle im letzten Jahr stand im Zeichen der Integration des Stasi-Unterlagen-Archivs in das Bundesarchiv. Mit all seinen Aufgaben und Standorten. Ich werbe dafür, dass wir die kommenden Jahre nutzen, um auch den gesetzlichen Rahmen zum Aktenzugang behutsam weiterentwickeln.
Besonders am Herzen liegen mir dabei die Angehörigen. Die steigenden Zahlen der Anträge durch Angehörige von Verstorbenen zeigt, wie wichtig Stasi-Unterlagen hier als Quelle sind. Diese Auseinandersetzung der nächsten Generationen mit dem SED-Unrecht möchte ich weiter fördern. In vielen Fällen scheitern jedoch die Angehörigen mit ihren Anträgen. Gemeinsam sollten wir prüfen, wie wir die Hürden senken können, damit noch mehr Familien das Stasi-Unterlagen-Archiv als Quelle zur Aufarbeitung der eigenen Geschichte nutzen können.
Auch für die Forschung würde ich mir eine Erweiterung des Zugangs wünschen. Wir brauchen das Stasi-Unterlagen-Archiv nicht nur, um über die Staatssicherheit und die Herrschaftsmechanismen in der SED-Diktatur zu forschen. Die Akten werden auch immer wichtiger als Quelle, um den Alltag in einer Diktatur zu beschreiben.
Das Stasi-Unterlagen-Archiv ist ein Symbol der Friedlichen Revolution.
Für die nächste Dekade wünsche ich mir, dass wir das Stasi-Unterlagen-Archiv auch noch stärker als ein Symbol der Deutschen Einheit begreifen. Im Stasi-Unterlagen-Archiv sind die staatliche Repression und der Freiheitswille der Menschen dokumentiert. Die Stasi-Unterlagen geben Zeugnis davon, wie sehr die Menschen sich nach der Einheit gesehnt haben. Die tausenden Briefe, die von Ost nach West und von West nach Ost gingen. Die Fluchtversuche der DDR-Bürger und die westdeutsche Fluchthilfe. Der Häftlingsfreikauf. Die Unterlagen geben aber auch Auskunft über auch die dunklen Kapitel, wie beispielsweise die Häftlingszwangsarbeit für westdeutsche Firmen und die inoffiziellen Mitarbeiter in westdeutschen Ministerien und Behörden.
Glauben sie mir, das Stasi-Unterlagen-Archiv ist gesamtdeutscher als es manchem lieb ist.
Dieses besondere Archiv ist nun Teil unseres nationalen Gedächtnisses. Nutzen wir es in Ost wie West als Instrument zur Aufklärung über Diktatur. Die Sicherung der Akten ist ein Geschenk der Friedlichen Revolution an unsere heutige demokratische Gesellschaft. Sein Erhalt und seine Nutzung ist unser gesamtdeutscher Auftrag.
Vielen Dank!