06.08.2021 | Parlament

„Nach 30 Jahren das Schweigen brechen“ – Frauen­zucht­haus Hoheneck

Es steht eine ältere Dame hinter einem Rednerpult und spricht zum Publikum.

Die SED-Opferbeauftragte, Evelyn Zupke, bei ihrer Rede auf dem Bundeskongress politisch verfolgter Frauen SBZ/DDR, 6. August 2021. (© UOKG/Eric Fresia)

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Schmidt,
lieber Dieter Dombrowski,
liebe Birgit Neumann-Becker
liebe Konstanze Helber,
liebe Carla Ottmann,
sehr geehrte Gäste,
und vor allem: liebe Hoheneckerinnen und Familien,


heute Nachmittag habe ich zum ersten Mal in meinem Leben das Frauenzuchthaus Hoheneck besucht. Ich habe die Zellen gesehen, die Verhörräume, den Freihof, die Wasser-/die Dunkelzellen. All die Orte an denen Tausende Frauen über Jahrzehnte massives Unrecht erlitten haben.


Das Grauen, das Sie und viele andere erleben mussten, das kann ich mit Händen greifen. Es berührt einen zutiefst, wenn man sieht, welches Leid Menschen antun können. Das alles im Namen einer Diktatur, in diesem Fall der Kommunistischen Diktatur!


Es erschüttert mich immer wieder, wenn ich Geschichten, wie die von Ihnen höre, sehe, lese. Ich habe auch bevor ich hierher kam und schon bevor ich SED-Opferbeauftragte war Bücher, Biografien gelesen, Zeitzeugengespräche von Hoheneckerinnen gesehen, von anderen und bin immer zutiefst berührt.
Auch wenn ich an diejenigen denke, die ihren Kindern und Familien grausam entrissen wurden und umgekehrt, einem ungewissen Schicksal entgegensehend, so erschüttert mich dies im Innersten und ich vermag kaum, es mir vorstellen, wie es ihnen damals ergangen ist.


Heute hier bei diesem Kongress sehe ich viele der Frauen, die im Frauenzuchthaus dieses Leid am eigenen Leib erlebt haben. Frauen, die zu Opfern wurden. Aber ich sehe und erlebe auch Frauen, die nicht mehr über das, was sie erlebt haben schweigen, sondern für Aufklärung und Wiedergutmachung kämpfen.
„Nach 30 Jahren das Schweigen brechen“.
Ein bezeichnendes Motto!


Gestatten Sie mir, dass ich Ihnen etwas erzähle:
Ich hatte eine Freundin, diese kam nach einem missglückten Fluchtversuch, schwanger, hier nach Hoheneck. Nach der Geburt wurde das Kind zu den Großeltern gegeben. Diese waren Parteigenossen und gaben es in die Wochenkrippe (ein anderes Kapitel DDR Geschichte). Vielleicht hat die Tatsache, dass die Großeltern Parteigenossen waren die Zwangsadoption erspart. Ich weiß es nicht, doch ich weiß, an diesem Ort ist es nicht nötig zu erklären, was dies alles bedeutete, sowohl für die Mutter, als auch für das Kind. Bis heute sind die traumatischen Erlebnisse nicht verarbeitet. Die Mutter konnte nicht oder kaum über das Erlebte, über das ihr widerfahrene Leid sprechen. Von diesem Leid war das Kind ganz unmittelbar betroffen, das kennen ganz viele von Ihnen und die traumatischen Erfahrungen wirkten weiter fort bis ins Erwachsenenleben und in eine, von Anbeginn, zerstörte Mutter-Kind-Beziehung.
DIESES Schweigen in der Familie hielt für immer an.
Ein, wie ich finde, exemplarisches Beispiel dafür, wie wichtig es ist, das Schweigen zu brechen.


Als ich das Amt der SED-Opferbeauftragten vor rund sechs Wochen angetreten habe, wurde ich von vielen Journalisten gefragt: Frau Zupke, 30 Jahre nach der Wiedervereinigung, braucht es denn wirklich noch ein solches Amt? Gibt es denn ernsthaft nach all den Jahren noch für die Opfer irgendetwas aufzuarbeiten? Ich sage: JA! Und nicht nur das eben genannte Beispiel ist ein starkes Votum dafür!
UND:
Schauen wir doch einmal ganz konkret auf die heutige Lage vieler Hoheneckerinnen, vieler von Ihnen. An Ihrem Schicksal und dem vieler anderer spiegelt sich für mich eindrücklich und ganz konkret wieder, an welchem Punkt wir 30 Jahre nach der Wiedervereinigung in der Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen in der DDR stehen.


Zum einen haben wir viel erreicht:

  • Die Rehabilitierungsmöglichkeiten
  • Die mittlerweile erfolgte Anerkennung von Haftzeiten als Erziehungszeiten
  • Und schließlich auch, dass Orte wie Hoheneck von Orten des Unrechts zu Orten des Erinnerns und Aufklärens geworden sind.

Aber: Die heutige Lage der Hoheneckerinnen zeigt uns auch, wieviel noch vor uns liegt:

  • Für viele im Westdeutschland lebende Frauen ist der Zugang zu Beratung und Hilfe steinig und mit weiten Wegen verbunden. Wer über hunderte Kilometer mit dem Zug fahren muss, schreckt vor dem Besuch einer Beratungsstelle zurück
  • Viele Frauen kämpfen bis heute mit gesundheitlichen Folgeschäden ihrer Haft und der dort geleisteten Zwangsarbeit. Sie sind zu Recht ermüdet von dem teils jahrelangen Kampf, um Rehabilitierung und Wiedergutmachung
  • Und: Fast alle westdeutschen Firmen wie Quelle, die mit der Zwangsarbeit der Häftlinge jahrzehntelang gutes Geld verdienten, haben sich bis heute nicht zu ihrer Verantwortung bekannt.

Ich wünsche mir, dass wir 30 Jahre nach der Wiedervereinigung die Auseinandersetzung mit dem SED-Unrecht viel mehr als unsere gemeinsame, gesamtdeutsche Aufgabe begreifen. Viel mehr Bundesländer sollten dem Beispiel von Niedersachsen folgen und Beratungsstellen für die Opfer einrichten. Es darf nicht sein, dass der damalige oder heutige Wohnort über den Zugang zu Beratung und Hilfe entscheidet. Auch wenn wir eine Reihe von Instrumenten zur Entschädigung und Unterstützung geschaffen haben, fallen immer noch zu viele Opfer durch das Netz. Wir brauchen daher einen bundesweiten Härtefallfond, um im Notfall einfache, schnelle und unbürokratische Hilfe leisten zu können.


Die Gesundheit der Opfer rückt mit zunehmenden Alter immer mehr in den Mittelpunkt. Wir brauchen daher die Beweislastumkehr und ein besseres Begutachtungswesen bei den gesundheitlichen Folgeschäden und wir brauchen eine Entbürokratisierung der Reha-Verfahren. Dies hilft nicht nur den Opfern ganz konkret, es entlastet gleichzeitig auch die Ämter. Es darf nicht sein, dass Opfer Monate und teils Jahre und mehr auf Akteneinsicht und Behörden-Bescheide warten müssen.
Gerade hier an diesem Ort sage ich ganz deutlich: Wer, wie Quelle und andere Unternehmen von der Zwangsarbeit von politischen Häftlingen über Jahre profitiert hat, muss sich endlich seiner Verantwortung stellen. Juristische Ansprüche an die Firmen mögen verjährt sein. Der Anspruch aber der Gesellschaft auf einen transparenten Umgang auch mit den dunklen Kapiteln der Firmengeschichte hat kein Verfallsdatum. Ich als Opferbeauftragte werde alles dafür tun, diese Firmen in die Verantwortung zu nehmen.


Hoheneck steht für das Leid der Frauen. Tausende Hoheneckerinnen wurden Opfer einer unmenschlichen Diktatur. ABER: Die Hoheneckerinnen, SIE, sind nicht nur Opfer. Die Hoheneckerinnen; SIE, sind ebenso auch Heldinnen. Sie haben gekämpft für Freiheit und Selbstbestimmung. Nicht nur für sich persönlich, sondern insbesondere für ihre Kinder und auch für die Gesellschaft.


Wenn wir auf die DDR schauen, kommt mir dieser Blickwinkel oft zu kurz. Der Widerstand gegen das Regime begann nicht erst 1989. Ohne den jahrzehntelangen Kampf gegen die SED-Diktatur für den Menschen, wie auch SIE, die Hoheneckerinnen, einen hohen Preis zahlen mussten, hätte es die Friedliche Revolution im Herbst 1989 nicht gegeben. Gegenüber all diesen Menschen, wie den Frauen von Hoheneck, gegenüber IHNEN, empfinde ich eine tiefe Dankbarkeit und Hochachtung!
Mir ist als Teil der letzten Generation in der Widerstandsbewegung der Gang nach Hoheneck erspart geblieben.
Ich wünsche Ihnen weiterhin viel Kraft und Lebensmut!
Vielen Dank!