Laudatio von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas auf Charlotte Knobloch zum Preis der Deutschen Gesellschaft für deutsche und europäische Verständigung in Berlin
[Es gilt das gesprochene Wort]
Sehr geehrte, liebe Frau Knobloch,
sehr geehrter Herr Eisenach,
sehr geehrte Frau Bergmann-Pohl,
sehr geehrte Frau Kollegin Teuteberg,
sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,
sehr geehrter Herr Gesandter,
sehr geehrter Herr Klein,
sehr geehrte Damen und Herren!
„Am 9. November 1938 hat Deutschland das Tor zu Auschwitz aufgestoßen.“
Das sagten Sie, sehr geehrte Frau Knobloch, in Ihrer bewegenden Rede vom 27. Januar 2021 vor dem Deutschen Bundestag.
Ein besonders starker Satz, den ich heute auch im Bundestag bei meinen Worten zum 9. November zitiert habe.
Liebe Frau Knobloch,
als Sechsjährige erlebten Sie die Pogromnacht in München.
An der Hand Ihres Vaters flüchteten Sie. Vorbei an zerstörten Geschäften und an der brennenden Synagoge.
Sie mussten mitansehen, wie ein Freund Ihres Vaters aus seinem Haus gezerrt wurde.
Noch eine andere Passage Ihrer Rede hat sich mir eingeprägt.
Sie beschreiben die Trennung von Ihrer Großmutter.
Sie sagte Ihnen, sie gehe zur Kur.
Die neunjährige Charlotte wusste,
was das bedeutete.
Es war das erste Mal, dass die Großmutter nicht die Wahrheit sprach.
Am nächsten Morgen brachte Ihr Vater Sie in ein fränkisches Dorf.
Wo Sie unter falscher Identität den Nationalsozialismus überlebten.
Ihre Großmutter haben Sie nie wiedergesehen.
Es hat Jahrzehnte gedauert, bis Sie über Ihre Erlebnisse sprechen konnten.
Ich danke Ihnen, dass Sie die Kraft dazu gefunden haben.
Sehr geehrte Damen und Herren,
was wüssten wir heute vom Holocaust ohne die Zeitzeugen?
Eine Vorstellung vom Leid der Opfer haben wir nur dank der Berichte der Überlebenden.
Erst sie lassen uns erahnen,
was Menschen Menschen antun konnten.
Frau Knobloch,
Sie haben Zeugnis abgelegt:
in Ihrer Autobiographie,
in Ihren Interviews
und in Ihren eindringlichen Reden.
Ihre Erinnerungen sind ein Vermächtnis für unser heutiges Deutschland.
Eine Aufforderung an uns alle, das „Nie wieder“ mit Leben zu füllen.
Tag für Tag.
Auch über die Zeit nach dem Nationalsozialismus haben Sie oft gesprochen.
Über Ihr Leben auf den gepackten Koffern.
Sie träumten von Auswanderung. Verständlicherweise.
Kaum eine Jüdin, kaum ein Jude konnte sich damals ein Leben im Land der Täter vorstellen.
Sie hatten sogar ein konkretes Ziel: St. Louis, Vereinigte Staaten.
Angekommen sind sie dort nie.
Ein Glück für Deutschland.
Sie sind geblieben – wenn auch zunächst mit gepackten Koffern. Geblieben wegen Ihrer Kinder.
Sie begannen sich zu engagieren.
Sie bauten die jüdischen Gemeinden wieder auf.
Und allmählich auch das Vertrauen in Ihre Mitmenschen.
Sie übernahmen Verantwortung:
erst im Jüdischen Frauenbund,
dann in der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern,
schließlich im Zentralrat der Juden
und im World Jewish Congress.
Eine beeindruckende Karriere!
Sie sagen selbst:
„Ich half, wo ich gebraucht wurde.“
Diesen Geist haben Sie auch gelebt, als nach der Wiedervereinigung Zehntausende Jüdinnen und Juden aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland kamen.
Mit anderen Traditionen und anderen Prägungen.
Ihre Integration in die deutschen Gemeinden war eine enorme Herausforderung.
Von Ihnen können wir auch lernen, wie man solche Herausforderungen angeht.
Sie haben sich von unvermeidlichen Problemen und Konflikten nicht entmutigen lassen.
Stattdessen sagten Sie:
Das sind „tolle Leute“, die da kommen.
Und Sie haben Recht behalten: Besonders viele Kinder der damaligen Einwanderer sind heute erfolgreich in Kunst und Kultur, in den Medien und in der Politik.
Sie sind in der deutschen Öffentlichkeit wichtige jüdische Stimmen.
Liebe Frau Knobloch,
ich habe gelesen, dass eines Ihrer jüdischen Lieblingssprichwörter besagt:
Der Mann wurde aus der weichen Erde geformt, die Frau hingegen ist aus der harten Rippe geschnitzt.
Sie haben sich als Frau durchgesetzt.
In der Welt der Politik und Verbände.
Zu einer Zeit, als das in unserem Land keineswegs selbstverständlich war.
Auch davor habe ich großen Respekt.
Gerade weil ich weiß, was das bedeutet.
Frauen in Führungspositionen raten Sie, – ich zitiere – „ein gerüttelt Maß an Dickfelligkeit an den Tag (zu) legen.“
Sie mussten manche harte Debatte ausfechten.
Mit der deutschen Politik.
Mit Medien und Zivilgesellschaft.
Mit den Kirchen.
Sie haben auch die eine oder andere Enttäuschung wegstecken müssen.
Vor allem haben Sie aber viel bewegt.
Und viel erreicht.
Für Deutschland.
Für München – der dortigen Gemeinde stehen Sie seit fast 40 Jahren vor.
In Ihrer Autobiographie haben Sie geschrieben, dass der wichtigste Tag Ihres Lebens auf einen 9. November fiel.
Auf den 9. November 2006.
68 Jahre nach der Reichspogromnacht eröffneten Sie das Jüdische Gemeindezentrum am Münchener Jakobsplatz.
Mit einer jüdischen Schule und einem Kindergarten.
Mit dem Jüdischen Museum – und der Ohel-Jakob-Synagoge.
In München nennt man das Ensemble liebevoll Charlottenburg.
Sie haben jüdisches Leben zurück in das Herz Münchens geholt.
Wo es sichtbar ist.
Und Selbstbewusstsein ausstrahlt.
In Ihrer Rede zur Einweihung der Synagoge haben Sie den Satz gesagt:
„Ich habe meine Koffer ausgepackt.“
Ich wünschte, ich könnte meine Rede an dieser Stelle beenden.
Mit dem guten Gefühl, dass Deutschland wieder eine sichere Heimat für Jüdinnen und Juden ist.
Leider endet die Geschichte an dieser Stelle nicht.
Das Deutschland dieser Tage ist auch ein Land, in dem sich Ihre Enkelkinder nicht sicher fühlen.
Wie Sie, Frau Knobloch, in einem Interview berichtet haben.
In Gesprächen mit Jüdinnen und Juden höre ich immer häufiger den Satz mit der genau-gegenteiligen Bedeutung:
Unsere Koffer stehen bereit.
Ein Satz, der mich traurig macht.
Und ein weiterer Ansporn ist.
Jüdinnen und Juden müssen in Deutschland sicher sein.
Und sich sicher fühlen können.
Das gehört zum Selbstverständnis unseres Landes nach dem Holocaust.
Wir wissen aber auch: Der Antisemitismus war bei uns nie ganz verschwunden.
Sehr geehrte Damen und Herren,
Charlotte Knobloch kann von der Kälte berichten, die den Überlebenden im Nachkriegsdeutschland entgegenschlug.
Aber der Antisemitismus wurde tabuisiert.
Inzwischen wird das Tabu schwächer. Antisemitismus äußert sich wieder unverhohlen und unverschämt.
Wenn auch teilweise in neuer Form, getarnt als Kritik an Israel.
Der Judenhass zeigt sich gewaltbereit. Wie wir vor fünf Jahren in Halle erleben mussten.
Der Rabbiner der Synagoge sagte vor Kurzem:
„Nach 2019 dachten wir, dass es nur besser werden kann.“
Dann kam der 7. Oktober.
Auf deutschen Straßen wurde der Tod von Jüdinnen und Juden gefeiert.
Wohnungen wurden mit Davidsternen markiert, Brandsätze auf Synagogen geworfen.
Seitdem hört der Terror nicht auf:
Vor einigen Wochen wurden das NS-Dokumentationszentrum und das israelische Generalkonsulat in München zum Ziel eines mutmaßlichen islamistischen Anschlags.
Der Judenhass hat ein neues, schockierendes Ausmaß erreicht.
Das gilt nicht nur für Deutschland. Gerade erst heute Morgen sehen wir schockierende Bilder aus Amsterdam von unerträglicher Gewalt gegen israelische Fußballfans.
Die Behörden haben auf die antisemitischen Attacken reagiert – auch mit Verboten von Organisationen.
Der Deutsche Bundestag hat gestern den Antrag zum Schutz jüdischen Lebens und zur Bekämpfung von Antisemitismus beschlossen.
Mit einer breiten Mehrheit.
Endlich!
Sehr geehrte Damen und Herren,
manchmal höre ich:
Der Antisemitismus wird nie ganz verschwinden.
Umso wichtiger ist, dass die große Mehrheit unserer Gesellschaft das nicht hinnimmt.
Und Zivilcourage zeigt.
Der 7. Oktober markiert daher einen tiefen Einschnitt.
Nicht nur für die Jüdinnen und Juden, sondern für das Miteinander aller in unserem Land.
Zu viele haben sich weggeduckt.
Als ob der Hass auf unseren Straßen sie nichts anginge.
Das war beschämend.
Aus Gesprächen weiß ich: Viele Jüdinnen und Juden haben damals das Gefühl verloren, dazuzugehören.
Auch mich haben die Fragen umgetrieben:
Warum schweigen so viele?
Warum organisieren oft Jüdinnen und Juden die Protestmärsche gegen
Antisemitismus?
Wo bleibt der Aufschrei der vielen?
Die Solidarität, das Mitgefühl?
Stattdessen war und ist zu hören:
Ja, aber Israel…
Dabei geht es nicht um Israel
Es geht um Deutschland.
Es sind deutsche Kinder, die sich nicht mehr in Schulen trauen.
Es sind unsere Nachbarinnen und Nachbarn, die angefeindet und bedroht werden.
Es ging und es geht um Hass auf Menschen in unserer Mitte.
Kein Aber!
Michel Friedman sagte vor Kurzem, Judenhass sei das „Fieberthermometer der Demokratie“.
Wie recht er hat!
Wo Hass um sich greift, trifft er alle.
Nicht nur antisemitische Vorfälle sind sprunghaft angestiegen.
Auch die anti-muslimischen Straftaten haben sich im Jahr 2023 mehr als verdoppelt.
Es gibt einen gefährlichen Anstieg politisch motivierter Gewalt.
Die Hälfte der Einsatzkräfte von freiwilligen Feuerwehren hat bereits Gewalt im Einsatz erlebt.
Menschen werden attackiert, wenn sie anderen Menschen helfen möchten.
Wir müssen feststellen: Unsere Gesellschaft radikalisiert sich.
Ich bin mir sicher: Uns allen hier im Raum macht das große Sorgen.
In unserem Land macht sich ein Klima breit, das unsere Gesellschaft spaltet – in ein Wir und die Anderen.
Und es gibt politische Kräfte, die die Spaltung der Gesellschaft ausnutzen und weiter anheizen.
Und die unsere Demokratie verächtlich machen.
Beschleunigt wird die Radikalisierung durch den Wandel der Öffentlichkeit:
Die etablierten Medien haben ihre „Gatekeeper“-Funktion verloren.
Und in den sozialen Medien hört man alle Stimmen – und die verrücktesten sind meistens die lautesten.
Hass und Hetze, rechtsextreme und islamistische Ideologien breiten sich in Windeseile aus.
Die Politik hat das Problem mehrheitlich erkannt. Immer stärker werden die Plattformbetreiber in die Verantwortung genommen.
Aber ich sage ganz offen: Ich wünsche mir noch strengere Regeln und noch mehr Konsequenz bei der Umsetzung.
Ich wünsche mir gleichzeitig mehr Kreativität bei allen Parteien und Organisationen, die für einen respektvollen politischen Wettbewerb eintreten.
Lasst uns die sozialen Medien für die Demokratie nutzen!
Das Spalterische macht auch vor der Diskussion um Antisemitismus nicht halt.
Da wird mit dem Finger gezeigt, Antisemiten sind oft die Anderen:
die Rechtsextremen,
die Linksextremen,
die Postkolonialisten.
Oder pauschal „die“ Muslime.
Ich sage klar: Jede Form von Antisemitismus ist gefährlich und menschenverachtend.
Keine darf ignoriert oder verharmlost werden.
Aber ich bin überzeugt: Das Fieber des Antisemitismus senken wir nur gemeinsam.
Indem wir zusammenhalten.
Vor allem braucht es die Bereitschaft, den Antisemitismus auch bei sich selbst zu erkennen.
Frau Knobloch, Sie wurden vor einem Jahr gebeten, Fragen aufzulisten, die jede und jeder sich einmal stellen sollte.
Ich gebe einige Fragen gern an uns alle: War ich genervt, als bei der Documenta ein halbes Jahr lang nur über Judenhass diskutiert wurde?
Rolle ich mit den Augen, wenn der Zentralrat der Juden vor Antisemitismus warnt?
Wenn ich das Wort Antisemitismus höre, sind die Bilder in meinem Kopf dann nur Schwarz-Weiß-Fotos?
Meine Damen und Herren,
der Antisemitismus ist ein Phänomen in der Mitte der Gesellschaft.
Wir brauchen mehr Aufklärung und müssen die Auseinandersetzung suchen - gerade mit jungen Menschen, deren Weltbilder noch nicht zementiert sind.
Und das müssen wir auch endlich mit der nötigen Konsequenz angehen.
An dieser Stelle wird häufig nach den Schulen gerufen.
Und ja: Mich besorgt, wenn ausgerechnet das Fach Geschichte mit immer weniger Stunden unterrichtet wird.
Und ja: Gerade an den Schulen wird Vielfalt gelebt und Zusammenhalt eingeübt.
Wir müssen die Lehrkräfte auf antisemitische Vorfälle schon in der Lehramtsausbildung vorbereiten.
Und Sie im Unterrichtsalltag mit Beratungsangeboten unterstützen.
Bei der Sensibilisierung für Antisemitismus in der Schule ist es entscheidend, die Jugendlichen mit ihren Erfahrungen ernst zu nehmen.
Das schafft Vertrauen – und hilft, Empathie für andere zu entwickeln.
So befähigen wir sie, antisemitische Haltungen selbstkritisch zu hinterfragen.
Es gibt Projekte, die ein solches Vorgehen erprobt haben.
Mit Erfolg.
Daran müssen wir uns orientieren.
Nicht nur an einzelnen Schulen, sondern im ganzen Land.
Und an positiven Erfolgsgeschichten – wie die einer 10. Klasse der Gretel-Bergmann-Gemeinschaftsschule aus Marzahn-Hellersdorf.
Die Schülerinnen und Schüler haben mir handschriftliche Briefe geschickt, in denen sie sich nach der Gedenkveranstaltung für die Opfer des Nationalsozialismus am 31. Januar 2024 intensiv mit dem Holocaust auseinandergesetzt hatten.
Ich habe den Schülerinnen und Schülern undder Lehrerin im persönlichen Gespräch mitgegeben: Unser Land braucht so engagierte Menschen wie Sie!
Meine Damen und Herren,
2023 zeigte die Memo-Jugendstudie: Viele Jugendlichen haben zwar große Wissenslücken – aber auch ein großes Interesse, sich mit der Zeit des Nationalsozialismus auseinanderzusetzen.
Und zwar mehr als andere Altersgruppen, und unabhängig von der Herkunft ihrer Familien.
Das stimmt mich zuversichtlich.
Frau Knobloch,
als Zeitzeugin sind Sie viel an Schulen.
Auch Sie berichten, dass Sie auf viel Wissbegierde treffen.
Umso wichtiger ist Ihr Einsatz!
Sie haben stets den Dialog gesucht.
Mit den Kirchen.
Auch mit den deutschen Muslimen.
Auch in den Tagen und Wochen nach dem 7. Oktober.
Im November 2023 waren Sie zu Gast bei der Türkischen Gemeinde in Bayern.
An jenem Abend haben Sie eine Laudatio gehalten – auf Landespolitikerinnen und -politiker, die sich um Integration verdient machen.
Es war eine kleine Veranstaltung,
bei der Sie eine große Rede gehalten haben.
Eine Rede über das Miteinander.
Ich zitiere:
„Wer hier lebt und unsere Werte teilt, wer seine Meinung sagt und keinen Hass verbreitet, wer seinen Weg geht, ohne den seiner Mitmenschen zu schmälern – der muss hier Heimat finden können, ganz egal wann und wo er betet.“
Zitatende.
Liebe Charlotte Knobloch,
in Ihrer Autobiographie findet sich ein Motto Ihrer Großmutter. Es lautet:
„Nicht nachlassen zwingt alles.“
Sie wollte damit sagen:
Wer nicht lockerlässt, kann alles erreichen.
Frau Knobloch,
Sie haben ein Leben lang nicht nachgelassen, sich für das Miteinander in unserem Land einzusetzen.
Dafür zeichnen wir Sie heute aus.
Lassen auch wir nicht nach,
uns gemeinsam mit Charlotte Knobloch zu engagieren.
Für Zusammenhalt in unserem Land.
Für ein Deutschland über das jüdische Familien sagen:
Hier brauchen wir keine Koffer,
weil sich Menschen schützend vor uns stellen.
Liebe Charlotte Knobloch,
ich gratuliere Ihnen aus ganzem Herzen zum Preis für deutsche und europäische Verständigung.
Herzlichen Glückwunsch!