Rede von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas anlässlich der Verleihung des Margot-Friedländer-Preises 2022
[Es gilt das gesprochene Wort.]
Liebe Frau Friedländer!
Sehr geehrter Herr Schmitz-Schwarzkopf,
liebe Freundinnen und Freunde und Förderinnen und Förderer
der Schwarzkopf-Stiftung,
liebe Schülerinnen und Schüler,
sehr geehrte Damen und Herren,
es ist eine große Ehre für mich,
heute hier zum Margot Friedländer-Preis 2022 die Laudatio halten zu dürfen.
Wir haben gerade das beeindruckende Statement von zwei engagierten Mitgliedern der Jungen Jury gehört.
So viel Engagement ist heute keine Selbstverständlichkeit.
Viele Menschen fragen sich: Was kann ein Mensch allein schon ausrichten?
Angesichts der großen Probleme unserer Zeit.
Viele können sich nicht einmal vorstellen, dass sie etwas verändern können. Und resignieren.
Liebe Frau Friedländer,
wie für die engagierten Mitglieder der Jungen Jury und die Preisträgerinnen und Preisträger gilt für Sie ganz besonders:
Sie gehören nicht zu diesen Menschen!
Sie haben nie resigniert.
Sie zeigen, wie viel eine Einzelne bewirken kann.
Gegen Antisemitismus, Rassismus, Antiziganismus und andere Formen der Menschenfeindlichkeit.
Sie zeigen jungen – und auch älteren – Menschen: Es lohnt, sich für ein tolerantes Miteinander starkzumachen.
Sie zeigen, dass es auf jede und jeden von uns ankommt.
Überall im Land sprechen Sie mit Schülerinnen und Schülern.
Sie sprechen über Verbrechen, für die sich kaum Worte finden lassen.
Über Schmerzen, die nicht vergehen.
Über Verluste, die sich nicht wieder gutmachen lassen.
Sie erzählen Ihre Geschichte.
„Seid Menschen!“ fordern Sie immer wieder.
Sie wissen, was es heißt, wenn Menschen das Menschsein abgesprochen wird.
Sie haben erleiden müssen, dass Deutsche Jüdinnen und Juden ausgegrenzt und entrechtet, verfolgt, gequält und ermordet haben.
Sie gehören zu den wenigen, die den Holocaust überlebten.
1946 wanderten Sie mit Ihrem Mann Adolf Friedländer nach New York aus.
Erst nach seinem Tod begannen Sie, Ihre Erinnerungen aufzuschreiben.
2003 kehrten Sie zum ersten Mal zurück nach Deutschland.
Mit 88 Jahren sind Sie endgültig von New York nach Berlin gezogen - in die Stadt Ihrer Kindheit und Jugend und Ihres Untertauchens.
Hier haben Sie in diesem Monat Ihren 101. Geburtstag gefeiert.
Seit Ihrem mutigen Neuanfang in Berlin sind Sie unermüdlich unterwegs, um mit Menschen zu sprechen.
Sie hinterlassen tiefen Eindruck bei allen, mit denen Sie Ihre Geschichte teilen.
Auch ich bin sehr froh und dankbar, dass wir uns kennengelernt haben!
Mit Ihrer Lebensfreude, Ihrem Mut und Ihrer Kraft zur Versöhnung ermutigen Sie andere Menschen, für Toleranz und Menschlichkeit einzustehen.
Sie bewegen etwas, weil Sie Menschen bewegen.
„Mein Hiersein ist auch gut für Deutschland“ haben Sie einmal bescheiden in einem Interview gesagt.
Ich finde: Ihr Hiersein ist ein großes Glück für Deutschland!
Ich danke Ihnen von Herzen für Ihr Hiersein und Ihren Einsatz.
Sie halten das Erinnern lebendig und tragen es in die Zukunft.
„Ich spreche für die, die nicht mehr sprechen können“- sagen Sie.
Und das tut Not, sehr geehrte Damen und Herren,
Mehr als sechs von zehn Deutschen wollen sich nicht mit der deutschen Schuld am Holocaust befassen.
Laut der Leipziger Autoritarismus-Studie meinen 61 Prozent der Befragten: „Wir sollten uns lieber gegenwärtigen Problemen widmen als Ereignissen, die mehr als 70 Jahre vergangen sind.“ Zitat Ende.
Diese Zahlen stehen für eine Entwicklung, die uns zutiefst beunruhigen muss.
Antisemitismus ist kein Problem der Vergangenheit.
Antisemitismus findet sich nicht nur bei wenigen Radikalen am äußersten Rand.
Er findet sich auch in der Mitte unserer Gesellschaft.
Es schmerzt, das feststellen zu müssen.
Und gerade deswegen müssen wir alle Formen des Antisemitismus deutlich benennen.
Wir dürfen Antisemitismus nicht hinnehmen – auch nicht den vermeintlich leisen
oder den als freie Meinungsäußerung getarnten.
Wir müssen gegen jede Form von Antisemitismus aufstehen.
Unabhängig davon, ob er als Schuldabwehr oder Israelkritik daherkommt,
bei Protesten von Corona-Leugnern
oder auf der Documenta.
Dieses Gift verbreitet sich und wirkt tödlich.
Antisemitismus bedroht und gefährdet Menschen in unserem Land.
2021 stiegen antisemitische Straftaten um 29 (!) Prozent an – auf einen Höchststand von 3.027 Straftaten.
Für 2022 hat das Bundeskriminalamt bis Oktober mehr als 1500 antisemitische Straftaten erfasst. Das sind im Schnitt fünf antisemitische Straftaten am Tag.
Jede einzelne dieser Taten ist eine Schande für unser Land.
Es ist eine Schande, wenn jüdische Einrichtungen beschossen werden
- wie vor wenigen Tagen in Essen.
Es ist eine Schande, wenn Gedenkstätten mit Hakenkreuzschmierereien versehrt werden
– wie im Oktober die KZ-Gedenkstätte Buchenwald.
Es ist eine Schande, wenn der Rabbiner der jüdischen Gemeinde Potsdam hier in Berlin angegriffen und beschimpft wird
– wie im September.
Unser Staat muss mit aller Konsequenz gegen diese Hasstaten vorgehen und die Täter bestrafen.
Wir müssen Jüdinnen und Juden schützen.
Sie müssen sich in Deutschland sicher fühlen können.
Ein Gefühl der Sicherheit und der Zugehörigkeit braucht mehr als konsequente Strafverfolgung der Täter.
Wir alle tragen Verantwortung für ein friedliches und respektvolles Miteinander.
Dafür braucht es ein Bewusstsein für die Gefahr des Antisemitismus in der Gesellschaft.
Dafür braucht es Wissen um die Geschichte.
Und Sensibilität für das, was geschehen kann.
Weil es geschehen ist .
Unsere Vergangenheit wird nie bewältigt sein.
Es kann keinen Schlussstrich unter das Menschheitsverbrechen der Shoa geben.
Im Gegenteil: Je weiter die Shoa zurückliegt, desto wichtiger wird das aktive Erinnern.
Wir müssen das Bewusstsein für das Leid der Opfer und die Singularität der Verbrechen wach halten.
Wir haben nicht „ausgelernt“ aus der Geschichte. Und das werden wir auch nie.
Der Ukrainekrieg führt uns vor Augen, dass unsere Erinnerung noch viele blinde Flecken hat.
Am 8. Mai war ich mit meinem ukrainischen Amtskollegen Ruslan Stefantschuk in Babyn Jar.
Wir haben gemeinsam der im Holocaust ermordeten Kinder, Frauen und Männer gedacht.
Etwa anderthalb Millionen Jüdinnen und Juden wurden in der Ukraine ermordet – ein Viertel aller Opfer des Holocaust.
Die meisten wurden erschossen.
Immer wieder müssen wir uns fragen:
Wie konnte geschehen, was geschehen ist?
Josef Schuster schrieb am 9. November in der Süddeutschen Zeitung:
„Es wird eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe sein, die Erinnerung an die Shoah zu bewahren und mit der Gesellschaft weiterzuentwickeln.“
Erinnerung muss offen sein für neue Formen, denn unser Land verändert sich.
Immer weniger Zeitzeugen können ihre Geschichte selbst erzählen.
Wie Erinnerung weitergegeben werden kann, zeigt der Verein der Zweitzeugen.
Auch Sie sind diesem Verein aktiv, liebe Frau Friedländer.
Den Schülerinnen und Schülern sagen Sie immer:
„Ich bin zurückgekommen, um mit euch zu sprechen. Euch die Hand zu reichen und euch zu bitten, dass ihr die Zeitzeugen sein werdet, die wir nicht mehr lange sein können.“
Immer mehr Menschen in unserer Einwanderungsgesellschaft haben keine familiären Berührungspunkte mit den Verbrechen des Holocaust.
Für sie ist oft nicht klar, warum sie sich mit der deutschen Geschichte beschäftigten sollen.
Zumal sie selbst oft Ausgrenzung und Rassismus erleben.
Sie brauchen eigene Zugänge zur Erinnerungskultur. Oder vielmehr:
Wir müssen unsere Erinnerungskultur weiterentwickeln, um auch ihren Fragen und Erfahrungen gerecht zu werden.
Burak Yilmaz - ein Pädagoge aus meiner Heimatstadt Duisburg mit türkisch-kurdischen Wurzeln – hat das zu seiner Aufgabe gemacht.
In seinem Buch „Ehrensache. Kämpfen gegen Judenhass“ beschreibt er, wie eine Auseinandersetzung mit der Shoa für junge Muslime gelingen kann.
Er hat das Projekt „Junge Muslime in Auschwitz“ gegründet – und dadurch Tabus gebrochen, Schweigen überwunden und Vorurteile entlarvt.
Erinnerung muss lebendig gehalten werden.
Hier leistet die Zivilgesellschaft bereits sehr viel. Zahlreiche Organisationen fördern das Bewusstsein für die Verbrechen der Shoa und die Verantwortung für ein respektvolles Miteinander.
Einige dieser Menschen sind heute hier im Saal. Ich danke Ihnen von Herzen für Ihr Engagement!
Um diesen Einsatz zu würdigen und zu unterstützen, verleiht die Schwarzkopf-Stiftung Junges Europa heute zum siebten Mal den Margot-Friedländer-Preis.
Und außerdem den Ralph-Bendheim-Preis.
Jedes der 60 eingereichten Projekte drückt für mich aus, was Burak Yilmaz so formulierte:
„Der Kampf gegen Judenhass ist nicht vergebens, eine gerechtere Zukunft ist möglich. Es liegt in unserer Hand, diesen Wandel zu vollziehen.“ Zitat Ende.
Diese vielfältigen Perspektiven auf die Verbrechen der Shoa zeigen, wie lebendiges Gedenken gelingen kann.
Sie beantworten die Frage: „Was kann ich persönlich gegen Antisemitismus tun?“
Die Schülerinnen und Schüler begeben sich auf Spurensuche an ihren Schulen und ihren Heimatorten.
Sie stellen so biographische Bezüge her.
So wird Geschichte begreifbar und das Bewusstsein um die eigene Verantwortung gestärkt.
Sehr geehrte Damen und Herren,
die ausgezeichneten Projekte möchte ich Ihnen gerne kurz vorstellen:
In Bamberg recherchiert eine Projektgruppe zum Schicksal neun jüdischer Schülerinnen und Schüler, die 1930 am heutigen Franz-Ludwig-Gymnasium eingeschult wurden.
An der Kerpenschule in Illingen beschäftigt sich eine Projektgruppe mit dem Boxer Rukeli Trollmann, einem Sinto, der von den Nationalsozialisten ermordet wurde.
Und mit dem Pfarrer Arnold Fortuin, der während des 2. Weltkriegs Sinti gerettet hat.
In Kiel erforscht ein Projekt der RBZ Wirtschaft in einem interaktiv-historischen Stadtrundgang das jüdische Leben in der Landeshauptstadt.
Vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg.
An der Ernst-Göbel-Schule im Odenwald erarbeiten Schülerinnen und Schüler einen Stadtplan mit zentralen Orten jüdischer
Geschichte. Mit QR-Codes machen sie selbst erstellte Podcasts zugänglich.
Der Ralph-Bendheim-Preis geht an ein Projekt der Gesamtschule Waldbröl in Nordrhein-Westfalen. Die Schülerinnen und Schüler bauen – inspiriert von der graphic novel „Maus“ von Art Spiegelman - Holzaufsteller von Mäusen und Katzen. Über QR-Codes sollen Informationen von verfolgten und ermordeten jüdischen Familien in Waldbröl zugänglich werden.
Ich gratuliere allen Preisträgerinnen und Preisträgern sehr herzlich.
Für Ihre Projekte wünsche ich Ihnen viel Erfolg und danke Ihnen sehr für Ihr Engagement.
Und ich danke allen, die heute nicht ausgezeichnet werden können. Auch Ihnen wünsche ich alles Gute für Ihre Projekte und möchte Sie ermutigen: Bitte bleiben Sie so engagiert, Ihre Arbeit ist unschätzbar wertvoll.
Danken möchte ich den 12 Mitgliedern der Jungen Jury. Sie haben bei der Vorauswahl ein beeindruckendes Engagement gezeigt. Und das unter Pandemiebedingungen. Sie haben an Schulungen und Workshops teilgenommen und eigene Auswahlkriterien erarbeitet.
Einen großen Dank möchte ich auch an die Schwarzkopf-Stiftung Junges Europa und die Freundinnen und Freunde, Förderinnen und Förderer der Stiftung aussprechen. Ihre Arbeit stärkt politisches Bewusstsein und Verantwortung in unserer Gesellschaft.
Liebe Frau Friedländer,
sehr geehrte Damen und Herren,
es ist gut, dass es diesen wichtigen Preis gibt.
Umso mehr freue ich mich jetzt auf das Video der Preisträgerinnen und Preisträger.
Vielen Dank!