14.06.2021 | Parlament

Rede von Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble zu „Chancen und Risiken neuer Kommunikationsmittel für die Öffentlichkeit und für die repräsentative Demokratie“ beim DLM-Symposium 2021

[Es gilt das gesprochene Wort.]

Anrede

„Man hatte plötzlich die Möglichkeit, allen alles zu sagen, aber man hatte, wenn man es sich überlegt, nichts zu sagen.“ 
Ein hartes Urteil. Es stammt von Bertolt Brecht und ist fast 100 Jahre alt. Damals hatte der Siegeszug einer ganz neuen Kommunikationstechnologie begonnen: Das Radio ließ Brecht von einem „ungeheuren Kanalsystem“ der Kommunikation träumen. Hörfunk sollte mehr sein als ein Distributionsmittel, um allen alles sagen zu können. Brecht stellte sich vor, dass die Zuhörer nicht nur passiv hören, sondern auch selbst sprechen und in Beziehung zueinander treten. Sich austauschen, debattieren. Und damit das öffentliche Leben und die Gesellschaft verändern. 
Die mediale Wirklichkeit hat inzwischen die Vision Brechts noch gewaltig übertroffen. Das Internet und die sozialen Medien sind mehr als ein Kommunikationskanal. Sie bilden ein gigantisches Netz, eine globale Plattform des Austausches, der Information – und leider auch der Desinformation. 
Die Digitalisierung verändert die Gesellschaft in fast allen Bereichen. Und das in atemberaubendem Tempo. Sie verändert die über Jahrzehnte gewachsene Medienlandschaft – die anstehende Reform des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und die lebhaften Debatten über die zukünftige inhaltliche Ausgestaltung und Struktur der beitragsfinanzierten Sender zeigen dies überdeutlich. Und sie verändert auch grundlegend das, was wir die Öffentlichkeit nennen. Für die Demokratie hat das unmittelbare Folgen.

Im längsten Teil meiner politischen Laufbahn galt noch die Formel Niklas Luhmanns: „Was wir über die Gesellschaft wissen, wissen wir durch Massenmedien.“ Dieser Satz gilt so nicht mehr – jedenfalls nicht ausschließlich. Die klassischen Massenmedien sind nur noch ein Akteur unter vielen. 
Fast alle sagen jetzt fast alles im Netz. 
Doch anders als sich das Brecht für das Radio vorgestellt hatte, wird im Internet nicht so sehr in Beziehung zueinander kommuniziert, sondern in alle Richtungen. Und wie es scheint – vorzugsweise nebeneinander, aneinander vorbei oder sogar gegeneinander. Viel zu selten dagegen: Miteinander.

Jede Innovation birgt – zumeist unvorhersehbare – Risiken und Folgen. Das gilt auch für die modernen Kommunikationsmittel. Mit dem Internet verband sich die Hoffnung auf höhere Transparenz und mehr Beteiligung. Es war das Versprechen einer gigantischen Demokratisierungsmaschine. 
Und es stimmt ja auch: Die Digitalisierung erleichtert, sich einzubringen. Sie ermöglicht neue Formen der Teilhabe. Online-Petitionen gehören inzwischen zum parlamentarischen Alltag. Der Bürgerrat zur Rolle Deutschlands in der Welt, mit dem der Deutsche Bundestag im Frühjahr diese Form der Bürgerbeteiligung erprobt hat, wäre als offline-Format in der Pandemie gar nicht erst zustande gekommen. Auch Parteitage, Bürgersprechstunden, Wahlkampfveranstaltungen lassen sich digital veranstalten. Wie wären wir in der Corona-Krise ohne Internet, ohne digitale Technologien zurechtgekommen? 
Mehr Teilhabechancen bedeutet aber nicht automatisch mehr Partizipation – und auch nicht zwangsläufig mehr Akzeptanz für die am Ende getroffenen Entscheidungen. Im Gegenteil: Internet und soziale Medien fordern das Prinzip der Repräsentation heraus. 
Die algorithmengesteuerte Aufmerksamkeitsökonomie im Netz zementiert Teilöffentlichkeiten, die nicht mehr zum Diskurs über das Gemeinsame zusammenfinden. Mitreden soll in den Internetblasen vornehmlich, wer der gleichen Meinung ist. Das ist das Gegenteil von einer demokratisch verfassten Öffentlichkeit, die darauf beruht, dass alle miteinander reden können: Menschen unterschiedlicher Meinungen, Interessen, Herkunft, über die Generationen hinweg, unabhängig vom sozialen Status. 

Die klassischen Medien verlieren dabei zunehmend ihre zentrale Filter- und Mittlerfunktion. Journalistisch aufbereitete Information und unreflektierte Äußerungen stehen nebeneinander – Wahrheiten, Halbwahrheiten, Unwahrheiten. So schwindet der gemeinsam geteilte Erfahrungs- und Diskursraum, in dem wir uns im kollektiven Gespräch über die wichtigen Fragen verständigen. Demokratische Willensbildung braucht aber die gemeinsame Kommunikation in einem öffentlichen Raum. Darauf ist die Demokratie sogar existentiell angewiesen – insbesondere in einer Gesellschaft, die immer vielfältiger wird! 
Die Funktionslogik der digitalen Öffentlichkeit lässt dagegen wenig Raum für den demokratischen Streit und die mühsame Suche nach Ausgleich und Kompromiss. Sie befördert die populistische Versuchung, den eigenen Willen mit dem der Mehrheit gleichzusetzen. Die Möglichkeit, sich direkt und vernehmbar im Netz zu äußern, scheint mit dem Anspruch einherzugehen, dass die eigene Meinung unmittelbar in politische Wirklichkeit umzusetzen sei. Das widerspricht nicht nur den Kernprinzipien der demokratischen Entscheidungsfindung, sondern führt unweigerlich zu Enttäuschung. Auf lange Sicht gefährdet das die Legitimation gewählter Repräsentanten, verbindliche Entscheidungen für alle zu treffen. 
Hinzu kommt: Die Blase im Internet befördert die Logik des „Wir-gegen-die“. Die Grenzen von Anstand und Respekt werden dabei vielfach gesprengt, es dominieren Hohn, Spott und Schmähungen. Zur Zielscheibe werden längst nicht nur prominente Bundespolitiker. Gerade in den Kommunen sind gewählte Repräsentanten Beleidigungen, Diffamierungen und Anfeindungen ausgesetzt. Und es bleibt nicht bei verbalen Grenzüberschreitungen. Kein Wunder, dass Kommunalverbände inzwischen vor verwaisten Rathäusern warnen, weil sich keine Kandidaten für kommunale Ämter finden. Auch gegenüber Journalisten mehren sich Übergriffe. Medienvertreter werden an ihrer Arbeit gehindert. 
In den legitimen Protesten, die wir während der Pandemie erleben, zeigt sich wie unter einem Brennglas, dass es vor allem darum geht, möglichst schrill seine Meinung zu äußern, und weniger um den Austausch von Argumenten. Genauso gilt aber, dass nicht jeder, der die Pandemie-Politik hinterfragt, ein Verschwörungstheoretiker ist. Nicht jeder, der sich wegen der Aufnahme von Flüchtlingen sorgt, ein inhumaner Fremdenfeind und nicht jeder, der die europäischen Klimaziele anzweifelt, ein sogenannter Klimaleugner. Wir müssen achtgeben, legitime Positionen nicht aus dem Diskurs zu drängen, weil dies Populisten und Demagogen Auftrieb verschafft und das Vertrauen in die repräsentative Demokratie schwächt. So entschieden sich die parlamentarische Demokratie gegen jegliche Angriffe auf ihre Regeln und Verfahren wehren muss, so offen muss sie für gegensätzliche Ansichten bleiben – solange diese nicht unseren grundlegenden Werten widersprechen. Uniformität kann kein Ziel der offenen Gesellschaft sein! 
„Jeder hat ein Recht auf seine eigene Meinung, aber niemand hat ein Recht auf seine eigenen Fakten“, soll der Historiker Arthur Schlesinger einmal pointiert formuliert haben. Er hat Recht. Aber auch „aus Fakten allein folgt keine Politik“, wie der Demokratieforscher Wolfgang Merkel jüngst in Richtung jener zu bedenken gab, die sich eine Verwissenschaftlichung der Politik wünschen. Es bräuchte sonst keine parlamentarische und auch keine andere Form der Demokratie. Welche Lösung in einer bestimmten Sache politisch vernünftiger ist als andere, ergibt sich nicht aus Wahrheiten, sondern aus Bewertungen und Abwägungen, die – wie die Pandemie anschaulich zeigt – häufig sehr schwer zu treffen sind. Und die immer schwieriger in der Öffentlichkeit zu vertreten sind, angesichts der Flut an Fake-News – zumal diese sich erwiesenermaßen schneller und weiter verbreiten als echte Nachrichten.

Hinzu kommt: Die gigantischen Datenmengen, die sich kommerziell, aber eben auch politisch verwerten lassen, ermöglichen gezielte Desinformation, um das Vertrauen in demokratische Institutionen zu untergraben. Um Wahlen zu beeinflussen. Für einige Akteure ist das offenkundig zu einem Instrument ihrer Außenpolitik geworden.
Ganze Armeen von Trollen und Bots versuchen, die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Das Problem falscher Onlineidentitäten ist enorm. Allein bei Facebook gab es nach Unternehmensangaben in den ersten neun Monaten 2020 rund 4,5 Milliarden Fake-Accounts, die entdeckt und gelöscht wurden. 
Politische Desinformationskampagnen sind keine Erfindung unserer Zeit. Sie haben aber durch den grenzüberschreitenden Einsatz Künstlicher Intelligenz eine neue Dimension bekommen. Die modernen Kommunikationsmittel machen Manipulationen nicht nur einfacher, sondern effizienter und schwer nachvollziehbar.

Der Blogger Sascha Lobo sprach bereits 2016 provokativ vom „Ende der Gesellschaft durch Vernetzung“ und der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen setzt „Vernetzung“ mit „Verstörung“ gleich. Doch wie nach dem Zerfall des Ostblocks kein Ende der Geschichte eintrat, so sind heute apokalyptische Szenarien in Bezug auf die neuen Kommunikationsmittel nicht angebracht. Die technologische Revolution ist keine Naturkatastrophe, und die Gesellschaft ist nicht Opfer. Wir müssen keine Angst vor der Technologie haben, aber wir müssen immer neu lernen, vernünftig mit ihr umzugehen. 
Es geht vor allem um die verantwortliche Gestaltung der digitalen Transformation. Für die Politik heißt es: Sie muss die notwendigen Rahmenbedingungen dafür schaffen. Das ist eine Querschnittsaufgabe, die gerade auch die gesellschaftlichen Auswirkungen der Digitalisierung im Blick haben sollte. 
Für die Medien heißt es: Sie müssen ihre Stärken pflegen, die journalistische Sorgfalt wahren. Nur so werden sie sich gegenüber der stetig wachsenden Konkurrenz im Netz behaupten können. Konstruktiver Journalismus recherchiert, filtert und ordnet ein, was geschieht oder gerade nicht passiert. In einer informationsüberfluteten Welt schafft er die Basis dafür, dass die Medienkonsumenten eigene Schlüsse ziehen können. Das ist das Gegenteil von Schulmeisterei oder Missionierung. Qualitätsjournalismus erläutert die Komplexität politischer Prozesse und Entscheidungen, trennt Bericht und Kommentar. Vor allem: Wichtiges von Unwichtigem. Auch wenn Personalfragen häufiger interessanter erscheinen als Sachfragen. 
Für Politik und Medien gilt gleichermaßen – Aufmerksamkeit ist ihre Währung, Glaubwürdigkeit ihr wichtigstes Kapital. Daher müssen wir uns alle der Verantwortung für eine zivilisierte Streitkultur stellen. Denn die Technologie ist das Werkzeug – die Inhalte, die wir mit Hilfe der digitalen Medien erzeugen und in die virtuelle Welt entlassen, machen den Unterschied! Wir brauchen heute mehr denn je eine Kultur des Zuhörens. Die Bereitschaft, den Blickwinkel des jeweils anderen mitzudenken. Ins Gespräch zu kommen. Nicht von vorneherein auszuschließen, dass der Andere Recht haben könnte. Und wir müssen uns viel mehr darum bemühen, den „Anderen“ überhaupt zu erreichen. Vor allem brauchen wir wirkungsvolle Antworten darauf, wie wir gesellschaftliche Gruppen, die sich längst nur noch aus Quellen informieren, die gar kein Interesse am demokratischen Diskurs in Deutschland haben, zurückholen in unsere Öffentlichkeit. Das ist nicht nur, aber gerade im Wahljahr von hoher Relevanz. 
Wahlkampfzeiten sind im Idealfall Hochzeiten der offenen Gesellschaft wie sie Karl Popper postulierte. Deren Fundament ist der Respekt vor der Freiheit des Denkens und des Redens. Wir brauchen strittige Auseinandersetzungen in der Sache – mit Argumenten, respektvoll, ohne erhobenen Zeigefinger und ohne moralische Überheblichkeit, die jede Argumentation erstickt. Die Demokratie ist ohne alternative Politikentwürfe nicht denkbar. Und niemand ist in Besitz der unteilbaren Wahrheit.
Was uns – ob in der Politik oder in der Medienwelt – nicht passieren sollte, ist die Brechtsche Paradoxie der Kommunikation. Sie ist da, wenn im großen Hintergrundrauschen von Daten, Meinungen, Informationen und Pseudoinformationen die Zuhörerinnen und Zuhörer niemanden finden, der etwas Substantielles zu sagen hat.