[Es gilt das gesprochene Wort.]
„Das Repräsentativsystem [befindet] sich gegenwärtig in einer schweren Krise.“ Diese Diagnose stellte der Staatsrechtler Gerhard Leibholz 1928. Das Hauptproblem sah er darin, dass die Abgeordneten von ihren Parteien abhängig seien, ihre Entschließungsfreiheit im Parlament verloren hätten und – Zitat – als „parteimäßig gebundene, partikulare Interessenvertreter“ Repräsentation unmöglich machten. Das gilt bekanntlich nicht als Ursache für den selbstzerstörerischen Weg, den der Weimarer Parlamentarismus in der Folge nahm. Leibholz’ Urteil verweist vielmehr auf eine Vorstellung der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie, die von der gesellschaftlichen Realität in der Massendemokratie überholt worden war. Aus dem Parteienkritiker Leibholz wurde später der einflussreiche Bundesverfassungsrichter, der Kritik am Parteienstaat als solchem für den „Ausdruck einer politisch wie verfassungsrechtlich nicht mehr zeitgemäßen Haltung“ hielt. Aber auch die sogenannte Parteienstaatslehre blieb nicht unwidersprochen.
Nicht nur die Perspektive des Betrachters der demokratischen Wirklichkeit verschiebt sich gelegentlich. Es ist die parlamentarische Demokratie selbst, die sich mit den Bedingungen, Möglichkeiten und Herausforderungen ihrer Zeit wandelt. Mit gesellschaftlichen Veränderungen, technologischen Entwicklungen und Verschiebungen der Machtverhältnisse in der Welt. Die bundesdeutsche Demokratie der Gegenwart ist nicht identisch mit jener aus den 1950er Jahren, obwohl sich am institutionellen Gefüge unserer Verfassungsordnung nichts Wesentliches geändert hat. Ob eine Persönlichkeit wie Konrad Adenauer heute Kanzler – oder auch nur Kanzlerkandidat – werden würde, ist durchaus zweifelhaft.
Wir haben uns in den vergangenen Jahren angewöhnt, den Begriff der Krise mitzudenken, wenn vom Zustand der Demokratie die Rede ist. Inzwischen lassen sich wahrscheinlich Regalmeter füllen mit Analysen und Kommentaren, die das Bild eines politischen Systems im Verfall zeichnen. Aber: „Demokratie ist Krise“, wie der britische Politologe David Runciman einmal zugespitzt formuliert hat. Ihre Krisen führen nicht automatisch in den Verfall, sondern sie wirken als Instrumente beständiger, notwendiger Anpassung an veränderte Rahmenbedingungen. Wir sollten unseren Fokus deshalb stärker auf die Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit der Demokratie richten. Immerhin blickt die Demokratie in ihrer modernen Variante auf fast 250 Jahre wechselvoller, aber erfolgreicher Geschichte zurück!
Die parlamentarischen Demokratie und ihre Institutionen haben sich in der Bundesrepublik über sieben Jahrzehnte bewährt. Sie haben die Herausforderungen der Nachkriegszeit bewältigt, im Kalten Krieg standgehalten, dem Terror der RAF getrotzt und die deutsche Einheit gestemmt. Auch in der Pandemie hat sich unsere demokratische Ordnung als handlungs- und funktionsfähig erwiesen – trotz des Korrekturbedarfs, der sichtbar wurde, etwa in der föderalen Balance oder bei unserem überbordenden Perfektions- und Verrechtlichungsdrang. Vor allem hat sich unsere Demokratie erneut lernfähig gezeigt: Das Parlament hat gesetzgeberisch nachjustiert, wenn das veränderte Pandemiegeschehen es erforderte – oder um Fehler zu beheben wie die erste, zu weitgehende Verordnungsermächtigung der Exekutive. Die Fähigkeit, sich selbst kritisch zu befragen und sich zu korrigieren: Das ist der entscheidende Vorzug der Demokratie gegenüber anderen politischen Herrschaftsmodellen. Er sichert ihre Anpassungsfähigkeit.
Dennoch mehren sich Zweifel und Unbehagen am Funktionieren unseres demokratischen Systems – nicht nur hierzulande und nicht erst seit der Pandemie. Bürger entziehen ihren Institutionen das Vertrauen – und übrigens auch ihren Mitbürgern. Sie verhelfen populistischen Vereinfachern in Parlamente und Regierungen oder wenden sich ganz vom öffentlichen Gemeinwesen ab. Soziologen sprechen von einem „unsichtbaren Drittel“, das sich in Politik und Gesellschaft kaum mehr wiederfindet und das auch kaum noch mitmacht.
Das rührt an den Kern unserer Demokratie: das Prinzip der Repräsentation. Jenes Prinzip also, das den historischen Erfolg der modernen Demokratie einst ausmachte: Erst Repräsentation ermöglichte politische Partizipation über Stadtstaaten hinaus in den sich entwickelnden Nationalstaaten. Erst dadurch konnte, so formuliert es Herfried Münkler, „die Demokratie in der Vorstellungswelt des Westens hegemonial werden.“ Repräsentation war für die Schöpfer der amerikanischen Verfassung auch die Antwort auf die religiöse, kulturelle, ethnische Vielfalt der Bürger. Zusammen mit den checks and balances sichert sie die Demokratie gegen ihre größte Versuchung: die „Tyrannei der Mehrheit“ in der Stimmungsdemokratie.
Die repräsentative Demokratie setzt das Volk und seine Vertreter in ein potentiell konfliktreiches Verhältnis: da ist der Wille des Wählers, aber auch die Eigenständigkeit des Gewählten und die Abhängigkeit des einen vom anderen. Dolf Sternberger sah genau in diesem wechselseitigen Spannungsverhältnis „das eigentlich vitale Geheimnis des Systems“. Für die Legitimität der repräsentativen Demokratie ist die Beziehung zwischen Repräsentierten und Repräsentanten jedenfalls zentral. Hier entscheidet sich, ob die parlamentarische Demokratie, wie wir sie kennen, Zukunft hat. Die Frage ist: Wie gelingt es uns, das Prinzip der Repräsentation zu behaupten?
Darauf gibt es keine einfachen Antworten in einer Gesellschaft, die sich pluralisiert, die bunter und individualistischer wird, die von der Globalisierung und vom beschleunigten digitalen Wandel herausgefordert ist, in der die Konflikte zunehmen und die Integrationskräfte von Parteien und Parlamenten schwinden.
Die Situation ist durch Widersprüche gekennzeichnet: Zwar sind die meisten Bürger Umfragen zufolge mit ihrer persönlichen Situation zufrieden, viele hadern aber dennoch mit dem Ist-Zustand unserer Demokratie. Die Forderungen nach Bürgerbeteiligung und direktdemokratischen Instrumenten mehren sich. Die schon vorhandenen Möglichkeiten sich zu beteiligen werden aber nur mäßig genutzt. Ein beachtlicher Teil der Bevölkerung hat sich von der Politik verabschiedet, zugleich beobachten wir andernorts eine hohe politische Mobilisierung. Und während die Appelle nach mehr gesellschaftlichem Zusammenhalt lauter werden, verhärten sich die Fronten im polarisierten Meinungsstreit. Wir erleben – um mit dem Politikwissenschaftler Philip Manow zu sprechen – zugleich eine Demokratisierung und eine Entdemokratisierung der Demokratie.
Nicht alles, aber vieles hängt mit der digitalen Kommunikation im vernetzten Raum zusammen. Internet und soziale Netzwerke ermöglichen neue Formen der Teilhabe und erleichtern es, sich einzubringen. Damit verband sich einst die Hoffnung, das politische Gleichheitsversprechen der Demokratie einzulösen: Jeder sollte sich beteiligen und mitdebattieren können. Aber mehr Teilhabechancen heißt nicht automatisch mehr Partizipation – und auch nicht zwangsläufig mehr Akzeptanz für die am Ende getroffenen Entscheidungen. Aus dem Traum einer besseren, einer „demokratischeren“ Demokratie ist inzwischen eine Herausforderung für das repräsentative Prinzip geworden.
Die algorithmengesteuerte Aufmerksamkeitsökonomie zementiert Teilöffentlichkeiten und spaltet unsere Gesellschaften. Fake News und Hate Speech, Verleumdungen und Verschwörungstheorien, Polarisierung und politische Gewalt – das alles gab es auch schon in vordigitaler Zeit. Aber Internet und soziale Medien dynamisieren und verstärken diese Phänomene gewaltig. Der Mord an Walter Lübcke hat das auf extreme, auf brutale Weise gezeigt. Gewalt, Hass und Hetze zersetzen die Grundlage der freien Gesellschaft: das zivilisierte Miteinander. Dass ein Bundestagskandidat seine Kandidatur zurückzieht, weil er und seine Familie angefeindet und bedroht werden, ist ein Menetekel. Das kann in der Konsequenz unsere Demokratie an der Basis untergraben.
Der neue „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ erschwert es den klassischen Medien, die Aufmerksamkeit der Vielen auf das Wesentliche zu lenken. Journalisten sind nicht mehr die exklusiven Mittler zwischen Weltgeschehen und Wohnzimmer. Der gemeinsam geteilte Erfahrungs- und Diskursraum schwindet. Wir verlieren die Gewohnheit, uns im kollektiven Gespräch über die wichtigen Fragen zu verständigen. Genau darauf ist die Demokratie aber angewiesen – besonders in der vielfältiger werdenden Gesellschaft.
Die Funktionslogik der digitalen Öffentlichkeit lässt wenig Raum für den demokratischen Streit und die mühsame Suche nach Ausgleich und Kompromiss. Sie befördert im Gegenteil die Neigung, die eigene Meinung absolut zu setzen. Sie verstärkt die Sehnsucht nach dem Unmittelbaren, nach klaren Entscheidungen, hier und sofort.
Über das Netz lässt sich ad hoc politisch mobilisieren und kollektives Handeln von vielen Einzelnen organisieren. Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen sagt: Die „vernetzen Vielen“ sind zu einer fünften Gewalt geworden. Selbst wenn sie in der Minderheit sind. So unterschiedliche Bewegungen wie Fridays for Future oder die Querdenker verdanken ihre Durchschlagkraft ihrer Online-Vernetzung und ihrer medialen Verstärkung. Die vermittelnden Instanzen, auf denen die repräsentative Demokratie beruht – Parteien, Parlamente, aber auch Gewerkschaften, Kirchen, Vereine – scheinen sie kaum mehr zu brauchen. Zugleich erhöht die „Partizipation ohne Repräsentation“ den Druck auf die demokratischen Institutionen. Die gestiegenen Partizipationserwartungen kollidieren nicht nur mit den Verfahren der Willensbildung und Entscheidungsfindung in der parlamentarischen Demokratie. Diese „Demokratisierung der Demokratie“ führt fast unweigerlich auch zu Enttäuschungen und gefährdet auf lange Sicht die Legitimation gewählter Abgeordneter, für alle verbindlich zu entscheiden.
Die Digitalisierung verändert die Rahmenbedingungen, unter denen das Soziale in die Politik vermittelt wird und umgekehrt. Ihre Folgen erschweren Repräsentation, sie machen sie aber keinesfalls überflüssig. Im Gegenteil. In einer „Gesellschaft der Singularitäten“ (Reckwitz) ist die repräsentative Demokratie wichtiger denn je! Das gilt umso mehr, als die zu regelnden Sachverhalte und zu lösenden Probleme in einer vernetzten, interdependenten Welt immer komplexer werden. Denn Repräsentation leistet, was auf keinem anderen Wege ausreichend gut gelingt: nicht nur die Vertretung mobilisierbarer Interessen, sondern der Ausgleich widerstreitender Interessen. Nicht nur fordern, sondern auch gestalten. Nicht nur entscheiden, sondern auch verantworten.
Deshalb müssen wir dafür sorgen, dass das repräsentative Prinzip besser funktioniert. Dass Bürgerinnen und Bürger sich besser vertreten fühlen und sich im demokratischen Prozess wiederfinden. Eine Aufgabe, die zuallererst bei den zentralen Repräsentationsinstanzen liegt: bei Parteien und Parlamenten.
Lässt sich die repräsentative Demokratie auf Bundesebene durch Formate der Bürgerbeteiligung sinnvoll ergänzen? Der Deutsche Bundestag hat zur Klärung dieser Frage Neuland beschritten und in dieser Legislaturperiode einen Bürgerrat beauftragt: Nach dem Zufallsprinzip ausgeloste Bürger befassten sich mehrere Monate lang mit Deutschlands Rolle in der Welt. Im Gegensatz zu Volksentscheiden handelt es sich beim Resultat des Bürgerrats nicht um eine stimmungsanfällige Momentaufnahme und auch nicht um eine schlichte Ja-Nein-Antwort auf eine komplexe Sachfrage. Bürgerräte können den politischen Prozess mit Bürgern rückkoppeln und die Legitimation von Repräsentation erhöhen. Gleichwohl haben sich Schwächen gezeigt: Obwohl die ausgelosten Bürger unsere Gesellschaft in sozialer und regionaler Hinsicht möglichst genau abbilden sollten, gelang es nicht, genügend Menschen mit niedrigem Bildungsabschluss für eine Teilnahme zu gewinnen. Geklärt werden muss zudem, wie sich die Ergebnisse nachvollziehbar in die parlamentarische Arbeit einbringen lassen. Nur wenn die Beteiligten sich ernstgenommen fühlen, kann Bürgerbeteiligung das Vertrauen in die repräsentative Demokratie stärken und mit neuen Impulsen beleben. Fest steht: Entscheiden kann am Ende nur das Parlament. Und fest steht auch, dass Bürgerräte kein „Allheilmittel“ für Defizite unserer parlamentarischen Demokratie sind.
Eine Wahlrechtsnovelle, die die Zahl der Mandate wirksam begrenzt und die Wahl insgesamt nachvollziehbarer macht, wäre in diesem Sinne ein Schritt in die richtige Richtung. Die Diskussion darüber wird absehbar nach der kommenden Wahl nicht abreißen. Richtig ist, dass die Ausgangslage komplex ist; das Verfassungsgericht ist daran nicht ganz unschuldig. Dennoch sollte ein Parlament, das aus guten Gründen so viel auf sich hält wie der Deutsche Bundestag, in der Lage sein, eine effektive, für alle akzeptable Lösung zu finden. Dass dies trotz aller Anstrengungen nicht gelungen ist, gehört zu den größten Enttäuschungen für mich in dieser Legislaturperiode.
Zu den besonders auffälligen Defiziten der Repräsentation zählt der geringe Anteil von Frauen – nicht nur im Deutschen Bundestag, sondern auch in Landesparlamenten und Kommunalvertretungen. Das hatte den Ruf nach verbindlichen Quoten zur Folge. Die in Thüringen und Brandenburg eingeführten Paritégesetze sind von den Verfassungsgerichten allerdings zurückgewiesen worden – aus gutem Grund. Unsere repräsentative Demokratie beruht auf der politischen Gleichheit aller Staatsbürger; sie abstrahiert – mit Ausnahme des Wahlalters – von all ihren Unterschieden. Das paritätische Wahlrecht würde mit diesem Grundsatz brechen. Konsequent zu Ende gedacht würde es einem identitätspolitischen Repräsentationsverständnis Vorschub leisten, wonach gesellschaftliche Gruppen am besten durch ihre eigenen Angehörigen vertreten werden: Zugewanderte durch Zugewanderte, Homosexuelle durch Homosexuelle, Behinderte durch Behinderte. Es wäre – wie Peter Graf Kielmansegg anmerkt – eine neue Art der Ständegesellschaft in Form von mehr oder minder subjektiv konstruierten Identitätskollektiven.
Wer Repräsentation mit Repräsentativität gleichsetzt, wird eine Fülle von eklatanten Abweichungen finden: in sozioökonomischer, in beruflicher, in regionaler, in kultureller Hinsicht. Nur in politischer Hinsicht nicht – zumindest ist das der Anspruch hinter der Idee der repräsentativen Demokratie. Abgeordnete vertreten die Repräsentierten nicht durch ihre Person, sondern durch ihre Politik.
Das Parlament muss keine exakte Spiegelwelt seiner Wählerinnen und Wähler sein. Aber die gewachsene Vielfalt unserer Gesellschaft sollte sich in der Volksvertretung wiederfinden – jedenfalls mehr als sie es derzeit tut. Der Weg dahin führt nicht übers Wahlrecht, sondern über die Parteien. Von ihrer Erneuerungskraft hängt die Zukunft der parlamentarischen Demokratie ab. Davon ob es ihnen gelingt, die vielfältigen Interessen, Meinungen und Konflikte in der pluralen Gesellschaft aufzunehmen, auszugleichen und zu bündeln. Also genau das zu leisten, was das Parteiengesetz von ihnen verlangt: „als lebendige Verbindung zwischen dem Volk und den Staatsorganen“ zu wirken. Das bedeutet, sich zu öffnen, Teilhabe zu fördern, aktiv ums Mitmachen zu werben – bei Frauen, aber ebenso bei Jüngeren, Ostdeutschen, Zugewanderten, Enttäuschten.
Parteien werden ihrer Rolle für die politische Willensbildung nur gerecht, wenn sie sich auf die individualisierte und digitalisierte Gesellschaft einstellen. Dabei können die Erfahrungen aus der Pandemie helfen, die die Parteien gezwungen hat, neue Wege zu gehen und die Möglichkeiten des Digitalen breiter zu nutzen. Es braucht neue Formen des Engagements, die den Wunsch nach Partizipation und das Prinzip der Repräsentation in Einklang bringen. Es muss darum gehen, die Mitglieder besser einzubinden, ohne die Verantwortung durch Mitgliederentscheide und Urwahlen an die Basis abzuschieben. Zumal wir längst die Erfahrung gemacht haben, dass basisdemokratische Mehrheiten nicht immer klügere Entscheidungen treffen als die gewählten Gremien. Die Idee der Beteiligung aller an allem mag sympathisch erscheinen. Das Beispiel der Piratenpartei hat aber die Grenzen innerparteilicher Basisdemokratie aufgezeigt; sie ist letztlich daran gescheitert. Eine andere Partei, bei der Basisdemokratie zur Gründungs-DNA gehört, geht gerade den umgekehrten Weg: Sie ließ ihre Vorsitzenden die Kanzlerkandidatur unter sich ausmachen und nur noch durch Delegierte bestätigen.
Wie gut sich die Parteien künftig behaupten werden, hängt entscheidend von ihrer Fähigkeit ab, das richtige Personal zu rekrutieren. Auch die parlamentarische Demokratie braucht politische Führung – gerade angesichts einer zersplitterten Öffentlichkeit. Sie kann auf Repräsentanten nicht verzichten, die gegenüber ihrer Partei wie auch den Wählern den Anspruch erheben, die Richtung vorzugeben, Orientierung zu vermitteln, Mehrheiten zu erringen. Es braucht den Mut und den Willen, für das als richtig Erachtete einzutreten – auch gegen Widerstände. Und die Bereitschaft, am Ende die Verantwortung zu tragen. Einbinden und führen – beides müssen die politischen Parteien leisten. Für Parteien, die den Anspruch haben, Volkspartei zu sein oder zu werden, gilt das umso mehr.
Gerade sie, die Volksparteien, stehen unter großem Veränderungsdruck, nicht nur bei uns. Wir sollten sie dennoch nicht leichter Hand abschreiben. Volksparteien stiften Gemeinschaft, weil hier Menschen mit ganz unterschiedlichen Hintergründen, Erwartungen und Ansichten zusammenkommen. Sie verbinden Vielfältiges und Verschiedenes, manchmal auch Gegensätzliches. Und sie versuchen Antworten zu finden, die möglichst viele Bürger akzeptieren können – nicht nur bestimmte Gruppen.
„Die moderne Demokratie ist nur vorstellbar als Parteiendemokratie.“ Dieser Satz Hans Kelsens trifft nach allem, was wir wissen, auch auf die parlamentarische Demokratie der Zukunft zu. Eine charismatische Führungsperson wie Emmanuel Macron hat zwar eindrucksvoll bewiesen, dass Erfolg auch ohne eine Partei möglich ist. Aber spätestens wenn die Wahlerfolge ausbleiben, zeigt sich, dass die stabilisierenden Strukturen fehlen. Im schlechtesten Fall verstärkt das den Ruf nach dem starken Mann oder eben nach der starken Frau. Oder es endet auf den Stufen des Kapitols: im Angriff einer demagogisch aufgehetzten Minderheit auf die Institutionen.
Für politische Parteien gibt es keinen Ersatz, bislang zumindest. Auch soziale Bewegungen sind irgendwann darauf angewiesen, Personal in Parteien zu platzieren oder eine neue zu gründen. Jedenfalls wenn sie nicht nur Strohfeuer entfachen, sondern auch wirksam verändern und gestalten wollen. Wer erinnert sich noch an die Occupy-Wall-Street-Bewegung, die vor zehn Jahren weltweit Hundertausende zu Protesten mobilisierte? Erst Wahlen sichern Legitimität und Gestaltungsmöglichkeiten. Politisches Engagement braucht Nachhaltigkeit – nicht nur als Zielkategorie!
Die geschwundene Integrationskraft der Volksparteien hat Repräsentationslücken hinterlassen. Das hat den Raum für Populisten und politische Extreme geöffnet und neue Parteien ins Parlament geführt. Man kann das als Ausweis eines funktionierenden Parteiensystems lesen. Allerdings: Je mehr Parteien und Fraktionen es gibt, desto weniger werden Interessengegensätze intern verhandelt. Was aber innerhalb der Parteien an Interessenaggregation nicht gelingt, muss folgerichtig im Parlament geleistet werden. Insofern verwundert es nicht, dass die Mehrheits- und Kompromissfindung komplizierter und die Regierungsbildung langwieriger geworden ist.
Nach der vergangenen Wahl dauerte es Monate, um eine handlungsfähige Koalition zu bilden – es entstand ein politisches Vakuum, das nicht nur die Bürger nervte, sondern unsere europäischen Partner allein ließ. Das sollten wir uns nicht noch einmal leisten. Ich finde zum Beispiel: Für den Fall, dass die Bildung einer festen Regierungsmehrheit zu scheitern droht, sollten wir den Mut haben, auch einmal etwas Ungewohntes auszuprobieren: Wir sollten Minderheitsregierungen auf Bundesebene zumindest in Erwägung ziehen. Sie erscheinen dank den Vorgaben des Grundgesetzes in der politischen Praxis durchaus machbar, insbesondere wegen der starken Stellung des Bundeskanzlers, auch der Rolle des Bundesrates bei der Gesetzgebung, wo von der im Bundestag abweichender Mehrheiten eher die Regel sind.
Sie könnten eine Chance sein, den parlamentarischen Prozess zu beleben: Fest zementierte Koalitionsregierungen sorgen zwar für ein hohes Maß an Stabilität, aber sie können auch parlamentarische Initiativen lähmen. Wenn wir unbefangener mit der Möglichkeit wechselnder Mehrheiten umgingen, würden wir mehr Entscheidungen aus dem Parlament heraus zulassen. Diese wären nicht nur zweifelsfrei legitim, sondern könnten auch helfen, politische Blockaden zu lösen. Auf diese Weise wäre uns vielleicht eine vernünftige Reform des Wahlrechts in der zu Ende gehenden Legislaturperiode geglückt. Wir müssten dann allerdings auch lernen, bei abweichenden Mehrheiten nicht jedes Mal eine Regierungskrise zu beschwören. Auch unsere politische Kultur braucht Wandel und Erneuerung!
Die parlamentarischen Gestaltungsmöglichkeiten werden durch einen weiteren Trend gehemmt: die Verbürokratisierung des Regierens durch immer längere, immer detaillierte Koalitionsverträge – eine Praxis, die sich in dieser Form überhaupt erst in den 1980er Jahren etabliert hat. Eine Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung hat kürzlich ergeben, dass der Umfang der Koalitionsverträge seitdem um das Fünfzigfache angewachsen ist. An den Koalitionsverhandlungen sind zudem immer mehr Personen beteiligt, insbesondere mehr Parteifunktionäre ohne Bundestagsmandat und mehr Mitglieder von Landesregierungen. Auch fachspezifische Arbeitsgruppen, an denen Landesbeamte beteiligt sind, spielen eine größere Rolle. Diese Entwicklung reagiert auf gestiegene innerparteiliche Partizipationserwartungen und sichert Akzeptanz bei den Parteimitgliedern. Sie lässt sich zunehmend auch bei der Formulierung von Wahl- und Parteiprogrammen beobachten. Das ist wichtig und richtig.
Allerdings erfordert eine breitere Beteiligung nicht weniger, sondern mehr innerparteiliche Führung, um die Fülle der Einzelvorhaben unter einen Hut zu bringen, auch in finanzpolitischer Hinsicht. Tatsächlich – so das Fazit der Autoren – scheint aber zugleich das Verständnis für die Notwendigkeit politischer Führung brüchiger geworden zu sein. Ein Widerspruch, den die Parteien und insbesondere ihr Führungspersonal angehen müssen!
Die ausufernden Koalitionsverträge vermitteln nicht nur den irrtümlichen Eindruck, die Politik einer Legislaturperiode erschöpfe sich im Abarbeiten vorab getroffener Entscheidungen, die lediglich noch des parlamentarischen Plazets bedürfen. Sie haben handfeste Folgen: Sie verhelfen den Ländern zu mehr Einfluss auf die Bundespolitik, als ihnen nach den Grundsätzen unseres Föderalismus zusteht. Und sie engen mit ihren Detailfestlegungen den finanziellen und damit immer auch den gestalterischen Spielraum des Bundestages ein.
Wo alles vorab ausverhandelt, austariert und fixiert wurde, bleibt weniger Raum für demokratischen Streit. Das macht sich besonders bemerkbar bei großen Koalitionen und Mehr-Parteien-Bündnissen, die über das gesamte Spektrum der politischen Mitte reichen. Diese sind selbstverständlich legitim. Auf Dauer wirken sie sich aber problematisch aus, weil sie unterminieren, was die parlamentarische Demokratie so dringend braucht: den politischen Wettstreit – nicht zwischen den Extremen an den Rändern, sondern in der Mitte. Dort muss um alternative Politikentwürfe gerungen werden. In der politischen Mitte muss der Streit in der Sache ausgetragen werden. Unsere Gesellschaft ist nicht gespalten, weil wir streiten – sondern weil wir den Streit zu oft den radikalen Spaltern überlassen.
Wenn wir das Prinzip der Repräsentation stärken wollen, müssen wir uns um die große, strittige Debatte bemühen. In der Pandemie ist das dem Deutschen Bundestag und auch den Landtagen gelungen. Dabei geht es nicht allein um die verfassungsrechtlich unabdingbare Zuständigkeit des Parlaments als Gesetzgeber, sondern auch darum, durch den stellvertretend ausgetragenen, öffentlich geführten Streit Akzeptanz zu sichern für das, was die Mehrheit am Ende beschließt. Das soll dann auch leidenschaftlich sein.
Es ist paradox: Während die zunehmende gesellschaftliche und parteipolitische Vielfalt mehr Kompromissbereitschaft von den politischen Akteuren erfordert und den Bürgern mehr Verständnis für den komplizierten politische Willensbildung abverlangt, scheint die Verständigungsbereitschaft im öffentlichen Diskurs rapide gesunken zu sein. Eine jüngst erschienene Studie der Universität Münster beschreibt eine „doppelseitige Radikalisierung“ von sogenannten „Verteidigern“ und „Entdeckern“. Zwei Gruppen, die zusammen etwa ein Drittel der Bevölkerung ausmachen.
Wir haben diese verhärteten Fronten auch in der öffentlichen Diskussion über die Pandemie erlebt. Wer die Maßnahmen verteidigte oder noch schärfere Beschränkungen forderte, wurde angefeindet – und ebenso derjenige, der die Pandemie-Politik in Zweifel zog. Für eine differenzierte Haltung, für das Anhören der anderen Meinung blieb wenig Raum. Schon in den 1980er Jahren beobachtete der Philosoph Hermann Lübbe die Neigung, die moralische Integrität des Gegenübers anzuzweifeln, statt seiner Argumentation zu widersprechen. Empörung ersetzt aber nicht das politische Argument und die notwendige Auseinandersetzung. Nicht jeder, der die Pandemiemaßnahmen hinterfragt, ist ein Verschwörungstheoretiker, nicht jeder, der sich wegen der Aufnahme von Flüchtlingen sorgt, ein inhumaner Fremdenfeind und nicht jeder, der die europäischen Klimaziele anzweifelt, ein sogenannter Klimaleugner. Wir sollten achtgeben, legitime Positionen nicht aus dem Diskurs zu drängen, auch nicht unter Geltendmachung von Moral oder Identitäten – die sich bekanntlich schlecht verhandeln lassen. So entschieden sich die parlamentarische Demokratie gegen jegliche Angriffe auf ihre Regeln und Verfahren wehren muss, so offen muss sie für gegensätzliche Ansichten bleiben. Sie braucht ein maximales Maß an Duldsamkeit gegenüber anderen Meinungen – solange diese nicht den grundlegenden Werten widersprechen.
Dass laut einer aktuellen Umfrage 44 Prozent der Befragten den Eindruck haben, sie könnten ihre Meinung nicht frei äußern, ist deshalb ein besorgniserregender Befund. Immer mehr Themen werden als heikel empfunden. Das Recht auf Meinungsfreiheit ist bei uns ganz sicher nicht bedroht. Aber bedrohlich ist, wenn immer mehr Menschen einen steigenden Konformitätsdruck spüren und deshalb lieber schweigen. Der freie öffentliche Austausch ist eine zentrale Legitimationsgrundlage freiheitlicher Demokratie. Wo dieser Diskurs verzerrt und verengt oder auch wohlmeinend in politisch besonders korrekter Sprache geführt wird, öffnet sich der Raum für Populisten, die sich die wachsende Entfremdung der Bürger von der Sphäre der Politik und des öffentlichen Sprechens zunutze machen. Auch öffentliche-rechtliche Medien sollten dies im Blick haben. Eine Spaltung der Gesellschaft droht nicht nur aus der äußersten rechten Ecke – auch wenn der Genderstern und rassistische Hassparolen ansonsten nichts gemein haben.
Politik lässt sich nicht durch Moral ersetzen – und auch nicht durch Wissenschaft. „Aus Fakten allein folgt keine Politik“, gibt der Demokratieforscher Wolfgang Merkel in Richtung jener zu bedenken, die sich eine Verwissenschaftlichung der Politik wünschen. Wahrheit, so Merkel, „ist kein Legitimationsmodus der Demokratie.“ Sonst bräuchten wir keine parlamentarische und auch keine andere Form der Demokratie.
In der Pandemie erleben wir die Suche nach wissenschaftlicher Erkenntnis gerade hautnah mit. Auch Virologen und Epidemiologen sind sich nach wie vor nicht in allen Punkten einig – man denke nur an die Debatte über den Beitrag von Kindern und Schülern zum Infektionsgeschehen. Abgesehen davon, dass wir noch immer zu wenig gesicherte Erkenntnisse über das Virus haben, weil die Faktenlage nicht eindeutig ist: Nur der Wissenschaft zu folgen, hieße demokratische Verfahren zu suspendieren. Keine noch so gute wissenschaftliche Politikberatung entbindet uns von der Pflicht, Kompromisse und Mehrheiten zu finden. Alles andere bedeutete zugespitzt, wofür der Schriftsteller Thomas Brussig öffentlich plädierte: „Mehr Diktatur wagen“.
Welche Lösung richtiger ist als eine andere, ergibt sich eben nicht allein aus Fakten, sondern aus Bewertungen – und die unterscheiden sich naturgemäß. Alles andere wäre das Ende des Politischen. Legitimität erzielt die Demokratie nur durch beides: sachgerechte Lösungen in schwierigen Abwägungsprozessen und deren Entscheidung in verfassungsrechtlich gesicherten Verfahren der Mehrheitsentscheidung.
Das gilt auch für ein weiteres, existenzielles Thema: Dass wir dem Klimawandel entgegenwirken müssen, lässt sich nicht ernsthaft bezweifeln. Das entlässt uns aber nicht aus der Pflicht, über den besten Weg zu streiten, gegenläufige Interessen auszugleichen und Mehrheiten zu überzeugen. Wer Ziele und Mittel absolut setzt, bringt sie gegen das demokratische Prinzip in Stellung. Das hat übrigens auch das Bundesverfassungsgericht in seinem bemerkenswerten Beschluss zum Klimaschutzgesetz nicht getan. Es hat im Gegenteil betont, dass auch der Klimaschutz keinen unbedingten Vorrang gegenüber anderen Belangen genießt und mit anderen Verfassungsrechtsgütern und Verfassungsprinzipien in Ausgleich gebracht werden muss.
Gleichwohl scheint das Gericht mit diesem Urteil einer Entwicklung zu folgen, die der Rechtsphilosoph Florian Meinel als grundsätzliche Verschiebung im Gefüge der drei Gewalten beschreibt: Die Rechtsprechung, so sein Befund, gehe von einer indirekten zu einer sehr viel direkteren Steuerung des parlamentarischen Regierungssystems über. Die Verfassungsrichter hätten zwar die Rechte des Parlaments gegenüber der Regierung immer wieder gestärkt, gleichzeitig hätten sie dem Gesetzgeber aber seit einigen Jahren immer detailliertere Vorgaben gemacht und so seine Gestaltungsspielräume verengt.
Wo aber die politischen Gestaltungsmöglichkeiten schwinden, wird es irgendwann auch am Gestaltungswillen fehlen. Die Verlagerung von politischen Entscheidungen in die Sphäre des Verfassungsrechts trägt zur „Entdemokratisierung der Demokratie“ bei: Wenn die gewählten Repräsentanten selbst immer weniger entscheiden, weil der Spielraum für Entscheidungen fehlt oder weil sie Entscheidungen vorsorglich an die Verfassungsrichter delegieren, leidet die Legitimität des politischen Systems.
Zur freiheitlichen Demokratie gibt es keine Alternative. Jedenfalls keine, die sich mit unseren Werten verträgt. Allerdings gilt sie nicht mehr unhinterfragt als das bessere Modell. Die Demokratie muss sich beweisen – auch im Wettstreit mit autoritären Staats- und Gesellschaftsmodellen, die mit einem Effizienzversprechen für sich werben, ohne auf Freiheit und Menschenrechte, auf rechtsstaatliche und demokratische Prinzipien Rücksicht zu nehmen.
Die größte Herausforderung liegt vielleicht darin, dass wir dazu neigen, die Demokratie als gegeben, als selbstverständlich anzusehen. Das ist sie nicht. Demokratien verändern sich, passen sich an – aber sie können auch enden, wie gerade wir Deutsche wissen.
Bereits Kant war überzeugt, dass die republikanische Verfassung nicht nur als einzige „dem Recht der Menschen vollkommen angemessen“ ist, sondern auch „die schwerste zu stiften, vielmehr noch zu erhalten“ sei. Dabei ahnte er noch nicht, in welcher Weise einst Globalisierung und Digitalisierung der freiheitlichen Demokratie zu schaffen machen würden. Nachlässig, bequem oder gleichgültig zu werden, können wir uns nicht leisten. Aber wir haben allen Grund, zuversichtlich und mutig zu sein. Gerade angesichts der Erfahrungen aus den vergangenen anderthalb Jahren. Gerade angesichts der ungebrochenen Anziehungskraft von Freiheit, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit, die sich zuletzt eindrucksvoll in Hongkong und Belarus gezeigt hat.
Die Zukunft ist keine Zwangsläufigkeit. Es liegt an uns. Wir können den Wandel, der aus den veränderten Rahmenbedingungen der Politik entsteht, nicht rückgängig machen. Wir können der Komplexität unserer Wirklichkeit nicht ausweichen. Aber wir können – und müssen! – diesen Wandel mitgestalten. Dafür braucht es Visionen der Zukunft, über die wir streiten und entscheiden müssen. Die gewaltige Herausforderung, Nachhaltigkeit und Klimaschutz mit Freiheit, Wohlstand und sozialem Ausgleich zu verbinden, ist insofern eine Chance: Wenn wir uns Großes vornehmen, Kräfte mobilisieren und innovative Lösungen entwickeln, um die Zukunft zu gestalten.
Die Institutionen unserer Demokratie, ihre Verfahren, ihre Kommunikationsformen werden sich verändern. Wer weiß: Der Bundestag wird vielleicht eines Tages nicht nur online tagen, sondern mit Abgeordneten, die als Hologramme auftreten. Aber das Wesentliche ist: Dass das Parlament ein Ort der Bündelung und Fokussierung auf die großen Herausforderungen bleibt, zu denen auch künftig neue dazu kommen werden. Ein Ort der leidenschaftlichen Debatte, an dem gewählte Repräsentanten stellvertretend für die Repräsentierten demokratisch legitimierte Entscheidung treffen und das Prinzip der Repräsentation mit Leben erfüllen.