Festrede von Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble zur Eröffnung des Hauses Unter den Linden der Staatsbibliothek zu Berlin
[Es gilt das gesprochene Wort]
Am 23. März 1914 berichtete das Berliner Tageblatt über die Einweihung der Königlichen Bibliothek: „Der Hof mit dem Kaiser an der Spitze, erwies seinen Glanz. Was irgend offiziell war und was zu Kunst und Wissenschaft amtliche und freiwillige Beziehungen hat, war im Festkleide. (…) Generalität, Diplomatie und Bureaukratie, Minister, wirkliche und minder wirkliche Geheimräte (…) und um sie nicht zu vergessen, die Präsidenten der Parlamente.“
Im Jahr der Pandemie muss die Wiedereröffnung der Bibliothek 107 Jahre später deutlich bescheidener ausfallen.
Immerhin: Ein Parlamentspräsident darf selbst unter den Bedingungen der Pandemie leibhaftig zugegen sein. Er ist es mit großer Freude.
Bibliotheken seien „Zentralorgan“ eines „geheimen Stoffwechsels zwischen Vergangenheit und Zukunft“, schreibt der Literaturwissenschaftler Peter von Matt. Dieser Gedanke spiegelt sich in der Architektur von H.G. Merz. Sie verbindet Alt und Neu organisch miteinander und legt die ursprüngliche Konzeption des Baus frei. Der Leser muss zum Buch hinaufsteigen – entlang einer Achse, die vom Portal Unter den Linden über den Brunnenhof, die Treppenhalle und das Vestibül in den Lesesaal führt. Hans Günter Merz spricht von der „Protokollstrecke“. Jeder Besucher spürt: Der Höhepunkt der Bibliothek ist das Buch!
1914 war das eine Selbstverständlichkeit. Und heute?
Als zu Beginn unseres Jahrhunderts der Neubau der Dresdner Staatsbibliothek eingeweiht wurde, gab sich das Feuilleton melancholisch: Die Bibliothek sei „nicht mehr ein Tabernakel der Kunst Gutenbergs“, sondern ein „schwermütiges Mausoleum, (eine) Grabkammer der Bücher.“ Damals wurden die ersten E-Books abrufbar. Wikipedia ging online, und Google kündigte an, die Bibliotheken von Harvard, Oxford und Stanford zu scannen. Die Weisen aus dem Silicon Valley versprachen, das Wissen der Welt für jeden verfügbar zu machen.
Originell war diese Vision gar nicht. Schon die sagenumwobenen Bibliotheken des Altertums fühlten sich ihr verpflichtet. Aber einige Bibliothekare packte die Existenzangst. Der amerikanische Autor Jon Thiem verglich die digitale Revolution sogar mit dem Bibliotheksbrand von Alexandria.
Mittlerweile ist die Apokalypse abgesagt. Die Benutzerzahlen von Bibliotheken kennen nur eine Richtung: nach oben. Bibliotheken werden weiterhin gebaut. Sogar in Alexandria – die dortige Neugründung hat unter anderem den Auftrag, historische Websites zu archivieren.
Auch im digitalen Zeitalter hat die Bibliothek eine Zukunft. Wie die Zukunft aussieht, darüber ist eine leidenschaftliche Debatte entbrannt. Rafael Ball, der Leiter der Universitätsbibliothek Zürich, fordert z. B.: „Weg mit den Büchern!“ Bibliophile wittern darin einen Angriff auf die Grundfesten unserer Kultur. Wenn die Bibliothek zum Internetcafé wird, sei der Untergang des Abendlandes nicht weit.
Wir sollten Debatten immer mit Maß führen. Das geht im Übrigen nicht nur Bibliothekare an.
Die Corona-Pandemie führt uns Chancen und Grenzen der Digitalisierung vor Augen. Dieser Festakt in der Form eines gestreamten Kammerspiels ist ein Beispiel für beides. So gut es ist, auf diesem virologisch unbedenklichen Weg zu Ihnen zu sprechen, schöner wäre es natürlich, hier im Lesesaal zusammen zu sein.
Bibliothekare mussten, im Gegensatz zu anderen Teilen der Gesellschaft, in der Pandemie kein Neuland betreten. Jahrelange Investitionen in E-Books, Lizenzen und die Digitalisierung von Altbeständen zahlen sich während des Lockdowns aus. Je länger er anhält, desto stärker zeigen sich allerdings auch die Grenzen einer rein virtuellen Bibliothek. Die allermeisten Inhalte sind noch nicht digital zugänglich – besonders in den Geistes- und Sozialwissenschaften, die den Sammlungsschwerpunkt der Staatsbibliothek bilden.
Allerdings zeigt sich beim Geld, wohin der Trend geht. Jeden zweiten Euro geben Bibliotheken mittlerweile für digitale Medien aus. Stellen wir also die Frage: Was, wenn es alle 12 Millionen Werke der Staatsbibliothek nur noch am Bildschirm gäbe?
Ich vermute: Die Leser würden den Aufstand proben und nach Büchern verlangen.
Aus Anlass dieser Festrede habe ich mich bei der Bundestagsbibliothek nach Digitalisierungspotenzialen erkundigt. Allzu forsch könne man da nicht vorgehen, bekam ich zur Antwort. Die Abgeordneten hingen am Papier.
Studien zeigen, dass Informationen auf Papier konzentrierter gelesen, leichter verstanden und besser erinnert werden. Der Bildschirm verführe zur Ablenkung, das Papier lade zur Vertiefung ein. Sagen die Leseforscher.
Aber wir wissen auch: Die Furcht vor dem Medienwandel gibt es schon so lange, wie es Medien gibt. Die Verbreitung der Schrift verhindere wirkliches Begreifen. Warnte schon Sokrates.
Entgegen einer verbreiteten Vorstellung vollzieht sich der Medienwandel nicht zwangsläufig als Verdrängungswettbewerb. Wir erleben die Bibliotheken als Gestalter der Digitalisierung. Die Staatsbibliothek führt vor, wie sich analoge und digitale Medien sogar ergänzen. Sie hat einen großen Teil ihrer Schätze in einer eigenen Abteilung digitalisiert – und auf diese Weise für ein weltweites Publikum erschlossen.
Zu den Schätzen der Staatsbibliothek gehört ein Exemplar der Gutenberg-Bibel. Wer die Ursprünge des Buchdrucks erforscht, kommt an dieser Bibel nicht vorbei. Der muss ihr Pergament, ihren Drucksatz und ihren Buchschmuck begutachten. Erlaubt ist das nur den allerwenigsten. Immerhin: Wenn demnächst das Bibliotheksmuseum öffnet, können die Besucher die Bibel im Tresorraum des Museums bewundern. Mit gebührendem Abstand.
Trotzdem muss der Laie nicht darauf verzichten, in der Bibel zu blättern, zu stöbern und sogar den Abrieb am Einband mit der Lupe zu inspizieren. Man muss nicht einmal in die Bibliothek kommen – am heimischen Computer kommt man der digitalen Bibel viel näher, als dies beim Original jemals möglich wäre.
Die Gutenberg-Bibel ist vielleicht eines der schönsten Bücher überhaupt. Sie ist mit Sicherheit eines der bedeutendsten. Sie steht am Beginn einer Medienrevolution, die das Wissen der damaligen Welt aus den Klosterbibliotheken befreite – und damit der Kritik aussetzte, die sich nun ihrerseits viel leichter verbreitete. Ohne Buchdruck, so der Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann, „wäre die Reformation ähnlich geendet wie alle vorreformatorischen ‚Ketzereien‘.“ Ohne Buchdruck keine Aufklärung, keine moderne Wissenschaft. Aber auch kein leichtes Spiel für Agitation und Propaganda.
Wissen ist bekanntlich Macht. Folglich trachten die Machthaber nach der Kontrolle über die Druckerpresse. Schon weniger Jahre nach ihrer Erfindung gründete das Bistum Mainz eine Zensurkommission.
Pressefreiheit ist eine Grundvoraussetzung für die freiheitliche Demokratie, für den „herrschaftsfreien“ Austausch von Meinungen und Argumenten, wie ihn sich Jürgen Habermas als das Ideal einer demokratischen Öffentlichkeit vorstellt. Doch selbst da herrscht keine absolute Freiheit. Ihre demokratische Funktion erfüllt die Öffentlichkeit nur, wenn in ihr die Standards der Vernunft gelten. Und wenn Verlage und Redaktionen filtern, was wie und wo veröffentlich wird – und was nicht. Nur so gelingt es, die Aufmerksamkeit eines zerstreuten Publikums zu bündeln und in anonymen Massengesellschaften einen Sinn für Gemeinsamkeit zu stiften.
In seiner Festrede 1914 nannte der damalige Generaldirektor Adolf von Harnack den neuen Bibliotheksbau eine „Burg der Wahrheit“. Bibliotheken dienen der Wahrheit, indem sie Veröffentlichungen filtern. Nach fachlichen Kriterien. Sie tragen somit Verantwortung für die Wissenschaft und die freiheitliche Gesellschaft.
Heute sehen wir uns mit einer neuen Medienrevolution konfrontiert. Und einer neuen Herausforderung: der ungefilterten Freiheit im Internet. Jeder kann schreiben und die Meinung jedes anderen kommentieren. Viele versprachen sich davon eine Demokratisierung der Öffentlichkeit.
Die Euphorie ist Ernüchterung gewichen. Und der Erkenntnis: Auch grenzenlose Freiheit wird immer selbstzerstörerisch. Eine ungefilterte Öffentlichkeit verliert ihre kritische Funktion. Wenn die Logik von Likes und Followern professionelle Filter ersetzt, ist sie immer weniger in der Lage, die gesellschaftliche Aufmerksamkeit auf Relevantes zu fokussieren. Der Blick aufs Gemeinsame droht verloren zu gehen.
Schlimmer noch: Wenn alles veröffentlicht werden kann, hat scheinbar auch alles gleiche Gültigkeit. Ein Problem, mit dem sich Wikipedia lange herumgeschlagen hat. Mittlerweile ist offenkundig, dass totaler Offenheit nicht unbedingt mit Qualität einhergeht. Wikipedia hat Filter eingeführt und sich damit von ihrer ursprünglichen Philosophie entfernt. Große Teile des Internets haben eine andere Entwicklung genommen. Dort verbreiten sich Verschwörungstheorien rasant und setzen etablierte Wissensvermittler – sogar die Wissenschaft selbst – unter Druck.
Dabei geht es keineswegs nur um die finstersten Winkel des Netzes. Wer den Begriff „Impfen“ bei YouTube eingibt, wird bereits nach zwei Klicks mit Theorien über die „massengenetische Veränderung der Menschheit“ konfrontiert. Wer dagegen den Katalog der Staatsbibliothek bemüht, dem wird als erster Treffer eine Stellungnahme des Deutschen Ethikrats angezeigt: „Impfen als Pflicht?“ Fragezeichen.
YouTube gehört bekanntlich zum selben Konzern wie Google. Beide sind Aktionären verpflichtet, nicht der Allgemeinheit. Googles Suchmaschine ist nur so lange frei, wie das kommerziell sinnvoll ist. Seine Algorithmen sind das bestgehütete Geheimnis im Silicon Valley. Hinzu kommt: Im angeblich freien Internet ist das Wissen auf bedenkliche Weise konzentriert, teils monopolisiert. Wer sagt, dass nicht eines Tages Konzerne eine politische Agenda verfolgen könnten?
Twitters Entscheidung, einen Präsidenten der Vereinigten Staaten von seiner Plattform zu verbannen, führt uns vor Augen, wie mächtig die sozialen Netzwerke geworden sind. Und wie schmal der Grat sein kann zwischen redaktioneller Verantwortung und politischer Zensur. Die internationale Gemeinschaft darf diese Gratwanderung nicht den Monopolisten überlassen, nicht denen im Silicon Valley und nicht den Staatsmonopolisten. Das ist die große Herausforderung für unsere Vorstellungen von freiheitlich-rechtstaatlicher Demokratie, über die schon die alten Griechen vor 2 ½ Jahrtausenden nachgedacht und die wir hier im Westen seit Erfindung des Buchdrucks durch Gutenberg entwickelt haben.
Artikel 5 unseres Grundgesetzes verbrieft das Grundrecht, „sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten.“ Der Auftrag, der sich daraus für Bibliotheken ergibt, wandelt sich mit den Anforderungen der Zeit. Früher galten Bibliotheken als Informationsmonopolisten. Heute ist es ihre Aufgabe, kommerzielle Informationsmonopole zu verhindern. Gerade in einer digitalisierten Öffentlichkeit brauchen wir neutrale und verlässliche Institutionen, die Wissen dokumentieren, zugänglich machen – und ja, auch filtern! Und die Leser in die Lage versetzen, Informationen kritisch zu bewerten.
Liebe Leserinnen und Leser,
wir befinden uns hier am Höhepunkt der Protokollstrecke, die H.G. Merz durch Um- und Neubauten freigelegt hat: im modernisierten Lesesaal. Im Herzen der Bibliothek, wo es auch im 21. Jahrhundert noch Bücher gibt.
Der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges würde sich hier wohlfühlen. Er bekannte einmal, er stelle sich das Paradies als eine Bibliothek vor.
Ab heute hat das Paradies wieder eine Berliner Adresse: Unter den Linden 8.