18.01.2021 | Parlament

Gemeinsamer Namensbeitrag
von Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble und dem Präsidenten der Französischen Nationalversammlung Richard Ferrand 150 Jahre nach der Proklamation des Deutschen Kaiserreichs: „Geteilte Erinnerungen - gemeinsame Zukunft!“

erschienen am 18. Januar 2021 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

„Frankreich und Deutschland sind im Wesentlichen ganz Europa“, schrieb Victor Hugo 1842 in seinem Werk Der Rhein. Die wechselvolle Geschichte unserer Nationen prägte den Kontinent. Heute braucht es mehr denn je unsere enge Partnerschaft, denn nur gemeinsam werden wir in der globalisierten Welt erfolgreich sein. Unsere Parlamente tragen dabei eine besondere Verantwortung. Mit der gemeinsamen Kammer, die in dieser Woche tagen wird, kommen wir ihr nach.

Die deutsch-französische Freundschaft wuchs über den Schlachtfeldern der Vergangenheit. Zu ihnen gehört der Krieg vor 150 Jahren, aus dem der deutsche Nationalstaat hervorging. Heute jährt sich die Proklamation Wilhelms I. zum deutschen Kaiser in Versailles. Der Kontrast an diesem 18. Januar 1871 hätte nicht größer sein können: Während sich im Prunk des Spiegelsaals die deutschen Fürsten versammelten, stand die französische Hauptstadt unter schwerem deutschen Beschuss. Die Pariser Bevölkerung litt unter Hunger, Krankheiten und Kälte, zermürbt von einer vier Monate währenden Belagerung.

Der 18. Januar, ein Schlüsselereignis der deutschen Geschichte, hatte folgenschwere Auswirkungen auf das deutsch-französische Verhältnis, das über Jahrzehnte hinweg vergiftet wurde. Frankreich, eingenommen und in Sedan gedemütigt, setzte auf Revanche gegenüber Bismarcks Reich. Die Mächtekonkurrenz führte in den Ersten Weltkrieg. 1919, erneut in Versailles, musste das besiegte Deutschland einen Vertrag mit harten Bedingungen und damit einhergehenden Reparationsforderungen unterzeichnen. Dies bereitete mit den Aufstieg des Nationalsozialismus, der nicht nur unsere beiden Länder in den Zweiten Weltkrieg stürzte.

Nationalismus, Pangermanismus und andere Ausschließlichkeitsansprüche hatten beiderseits des Rheins nichts als Dramen zur Folge. Kein Reich, keine Revanche: Wir haben uns für die Freundschaft entschieden und damit Frieden und Wohlstand für ganz Europa geschaffen. Die Geister der Vergangenheit ruhen lassen, um uns für die Zukunft zu wappnen, dies ist das wichtigste Anliegen der Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung.

Aufgeklärte Denker wie Victor Hugo oder nach ihm der Friedensnobelpreisträger Ludwig Quidde ergründeten lange vor unserer Zeit den Weg zur europäischen Einigung. Kaum einer unserer Vorfahren hätte sich jedoch vorstellen können, dass einmal ein Teil des deutschen und ein Teil des französischen Parlaments eine gemeinsame Versammlung bilden würden, um zusammen Beschlüsse zu fassen. Um über gemeinsame Strategien für eine europäische Innovationsunion zu beraten. Sogar über Wege zu einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, die sich nicht – wie in der Geschichte – im Aushandeln eines brüchigen Mächtegleichgewichts verliert. Die sich vielmehr darum bemüht, trotz unterschiedlicher Verfassungstraditionen und nationaler Rechtslagen, unterschiedlicher strategischer Prioritäten und verteidigungspolitischer Kulturen gemeinsame Interessen, Ziele und Strategien zu definieren, um eine vertiefte auch militärische Zusammenarbeit beider Staaten zu ermöglichen.

Die 2019 geschaffene Deutsch-Französische Parlamentarische Versammlung bietet genau diesen Raum, um die Sicht des ‚Anderen‘ besser zu verstehen. Um unser gemeinsames Handeln parlamentarisch anzubahnen.

Am Freitag tritt dieses weltweit einzigartige binationale Gremium wieder zusammen, pandemiebedingt in einer Videokonferenz. Die Kammer hat im vergangenen Jahr wiederholt bewiesen, auch so einen wichtigen Beitrag zur vertieften Zusammenarbeit leisten zu können. Das zeigte sich gerade zu Beginn der Pandemie, als unkoordinierte Grenzschließungen besonders die Landstriche rechts und links des Rheins trafen. Denn die Grenzregionen, um die Deutsche und Franzosen in der Geschichte so erbittert gestritten haben, sind im vereinten Europa längst pulsierende Lebensadern für Handel und Wirtschaft. Für die dort lebenden Deutschen und Franzosen findet der Alltag grenzüberschreitend statt.

Als gemeinsame Parlamentsversammlung haben wir uns erfolgreich dafür eingesetzt, dass sich Vergleichbares wie im März 2020 nicht wiederholt. Gemeinsam erarbeiten die Mitglieder der Kammer konkrete Vorschläge zur Verbesserung der deutsch-französischen und der europäischen Zusammenarbeit in der Pandemiebekämpfung; sie sollen am Freitag beschlossen werden.

Bei aller nachvollziehbaren Kritik am schleppenden Impfstart sind wir der Überzeugung, dass es die richtige Entscheidung der Regierungen war, einen europäischen und nicht bloß nationalen Weg einzuschlagen. Das Virus trifft uns alle, deshalb sollten auch alle Staaten gleichbehandelt werden. Europa erweist sich in der Krise als Solidargemeinschaft. Das sollten wir herausstellen und nicht zerreden.

Europa – das bedeutet für Frankreich und Deutschland beides: die freiwillige Übertragung nationaler Souveränitätsrechte und die Gewähr dafür, im globalen Wettbewerb überhaupt souverän zu bleiben. Die Europäer sind durch die Pandemie in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Aber die Zukunft wird auch in der EU wieder von Freizügigkeit und Mobilität geprägt sein. Im Zentrum der kommenden Sitzung der Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung stehen deshalb gemeinsame Verkehrsprojekte unserer Länder.

Ein europaweites Schienennetz ist Grundbedingung für die ökonomische und soziale Prosperität im gemeinsamen Binnenmarkt, für den Mobilitätsdrang der Bürgerinnen und Bürger. Die große Mehrheit der hundert Parlamentarier beider Länder spricht sich auch deshalb für den Ausbau einer Schnellverbindung Berlin-Paris aus – als längst überfällige Anbindung beider Hauptstädte und klimafreundliche Alternative zum Flugzeug. Die für 2023 angekündigte Nachtzugverbindung kann hier nur ein Anfang sein.

In den zwei Jahren seit ihrer Konstituierung hat die gemeinsame Kammer gezeigt, was sie zu leisten vermag. Jetzt ist der geeignete Zeitpunkt, um auch darüber nachzudenken, wie sich ihre politische Sichtbarkeit noch steigern und der direkte Austausch in offener Debatte weiter intensivieren lässt. Daran werden wir arbeiten, im Bewusstsein der uns gemeinsam gestellten Aufgaben und Herausforderungen – und im Wissen darum, wie viel Deutsche und Franzosen an Trennendem in der Geschichte überwinden konnten. Daraus wächst die Stärke, die wir brauchen, um vereint die Zukunft in Europa zu gestalten.

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