Worte von Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble vor Eintritt in die Tagesordnung zur Wahl Paul Löbes zum Reichstagspräsidenten vor 100 Jahren
[Es gilt das gesprochene Wort]
Vor 100 Jahren, am 25. Juni 1920, wählte der Reichstag der Weimarer Republik Paul Löbe zu seinem Präsidenten. Die Wahl war sichtbarer Ausdruck des gesellschaftlichen und politischen Umbruchs: Zum ersten Mal stand ein Sozialdemokrat an der Spitze der Volksvertretung; zum ersten Mal entstammte der oberste Repräsentant des Parlaments der Arbeiterschicht.
Paul Löbe erwies sich als Glücksfall für die junge deutsche Demokratie. Er konnte integrieren, weil er im politischen Kontrahenten nicht den Feind sah, sondern den Andersdenkenden, der im Ringen um die beste Lösung denselben Anspruch auf Gehör hat. Fast über die gesamte Dauer der ersten deutschen Demokratie stand Paul Löbe dem Reichstag vor: bis zum Sommer 1932, bis das Amt des Reichstagspräsidenten in die Hände der Nationalsozialisten fiel.
Wir lesen heute die Geschichte der Weimarer Republik meist von ihrem Scheitern her. Aber die Geschichte hätte – auch im Falle der ersten deutschen Demokratie – einen anderen Ausgang nehmen können. Paul Löbe hat dafür aus Überzeugung gekämpft. Nicht Defizite der Verfassung machte er im Rückblick für das Abgleiten in die Diktatur verantwortlich, sondern das, woran jede Demokratie über kurz oder lang scheitern muss: ein Mangel an Demokraten.
Als Paul Löbe sich nach dem Krieg als Mitglied des Parlamentarischen Rates und Alterspräsident des ersten Deutschen Bundestages für den politischen Neubeginn engagierte, mahnte er immer wieder Duldsamkeit gegenüber anderen politischen Überzeugungen im Parlament an. Zugleich aber, so schrieb er es den Kolleginnen und Kollegen ins Stammbuch, „müssen wir die Energie aufbringen, die nötig ist, um diejenigen abzuweisen, die den demokratischen parlamentarischen Boden, auf dem wir stehen, unterwühlen.“
Paul Löbe hat die parlamentarische Kultur dieses Landes nachhaltig geprägt, besonders das Amt des Parlamentspräsidenten. Er bewies, dass man zugleich ein allseits anerkannter, unparteiischer Präsident sein kann und Abgeordneter mit klarer parteipolitischer Zugehörigkeit.
Der parlamentarische Stil hat sich verändert. Aber die Aufgaben der Volksvertretung bleiben: Debattieren, Kontrollieren, Entscheiden – und sich bei allen Differenzen der gemeinsamen Verantwortung bewusst sein.
Dass auch der Reichstag der Weimarer Republik eine Wahlrechtsreform auf der Agenda hatte und damit erfolglos blieb, erwähne ich hier nur am Rande. Die Schuld lag jedenfalls auch damals nicht bei dessen Präsidenten.
Paul Löbe verkörperte den Reichstag der ersten deutschen Republik – als herausragende Persönlichkeit des deutschen Parlamentarismus halten wir die Erinnerung an ihn wach.