Rede von Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble zur Begrüßung des UN- Generalsekretärs António Guterres
[Es gilt das gesprochene Wort]
Herr Bundespräsident! Frau Bundeskanzlerin! Herr Bundesratspräsident! Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichts!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren!
Sehr geehrter Herr Generalsekretär!
Unser Land erfährt seit vorgestern weitreichende Einschränkungen. Die Pandemie zwingt dazu, auf persönliche Begegnungen fast gänzlich zu verzichten – umso mehr, Herr Guterres, wissen wir Ihren Besuch zu schätzen! Ich danke Ihnen im Namen des ganzen Hauses für die Ehre, die Sie uns erweisen.
Wir wissen bereits heute, dass uns die vielfältigen Krisen, die uns in den letzten zwölf Monaten so beispiellos gefordert haben, auch im kommenden Jahr beschäftigen werden. Unter den Herausforderungen war die Pandemie zwar neu, und sie traf uns weitgehend unerwartet. Sie hat aber wie all die anderen drängenden Probleme auch – die fortschreitende Erderwärmung, der Verlust an Artenvielfalt, der wachsende Hunger, die weltweiten Migrationsbewegungen – mit der zunehmenden Verflechtung der Welt zu tun. Wir erfahren gerade schmerzhaft, was Globalisierung auch heißt.
Deshalb könnte es keinen besseren Abschluss der parlamentarischen Arbeit vor der Weihnachtspause geben, als uns mit dem Generalsekretär der Vereinten Nationen darauf zu besinnen, dass wir diese Herausforderungen auch nur als Weltgemeinschaft bewältigen können. Dass wir bei allen nationalen Aufgaben unseren Blick weiten müssen für die vielfältigen globalen Krisen; und dass wir bei allem existentiellen Leid und Einschnitten in unser Alltags- und Wirtschaftsleben nicht aus den Augen verlieren dürfen, wie sehr Menschen in anderen Weltregionen auf unsere Hilfe angewiesen sind.
Vor 75 Jahren, nach der Erfahrung des von Deutschland entfesselten Zweiten Weltkriegs, wagten die Gründer der Vereinten Nationen einen mutigen Schritt. Sie gaben der von Krieg und Zerstörung gezeichneten Welt ein Instrument an die Hand, das sie ziviler machen, den Frieden dauerhaft sichern und der internationalen Zusammenarbeit einen stabilen Rahmen geben sollte. Nicht das Recht des Stärkeren, so die Vision, sondern eine an universellen Werten orientierte Friedenspolitik sollte fortan gelten.
Wer im Wissen um die Natur des Menschen realistisch blieb, warnte vor überzogenen Erwartungen. „Die UNO wurde nicht gegründet, um uns den Himmel zu bringen, sondern um uns vor der Hölle zu bewahren“: Diese Bemerkung des früheren Generalsekretärs der Vereinten Nationen Dag Hammarskjöld verdeutlicht, dass die gute Absicht sich an irdischen Realitäten reibt.
Wie hoch die Reibungsverluste sind, erleben wir umso stärker, als sich die Welt zuletzt in rasantem Tempo ins Gegenteil der angestrebten Ordnung verkehrte. Sie ist unübersichtlicher, unsicherer und fragiler geworden. Die Staatengemeinschaft, die diesen Namen angesichts nationaler Alleingänge wichtiger Mächte kaum mehr verdient, kann allerdings nur wirkungsvoll handeln, wenn ihre Mitglieder bereit sind, Verantwortung nicht nur für sich, sondern für alle zu übernehmen.
Weil in Zeiten der Globalisierung alles mit allem zusammenhängt.
Der Gründungsimpuls für die Vereinten Nationen galt der Friedenssicherung. Sie ist angesichts von Kriegen und bewaffneten Konflikten noch immer von zentraler Bedeutung. Aber unter den Bedingungen der Globalisierung und der digitalen Vernetzung sind längst komplexe Probleme hinzugetreten, die sich vor 75 Jahren niemand ausmalen konnte. Die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und ökologischen Entwicklungsziele, die wir uns als Antwort darauf gesetzt haben, können einander widersprechen, sogar kollidieren: Wir wollen den Hunger bekämpfen und gleichzeitig die klimaschädlichen Gase einer extensiven industriellen Landwirtschaft reduzieren. Genauso müssen wir uns eingestehen, dass der Lockdown, der unsere Gesundheit schützen soll, mit seinen Auswirkungen auf die Weltwirtschaft und die globalen Lieferketten Menschen in anderen Teilen der Welt ihrer Lebengrundlage beraubt.
Das Dilemma begleitet uns – und trotzdem darf es uns nicht davon abhalten, ungelöste Probleme gemeinschaftlich anzugehen.
Funktionieren wird das nur in einem gestärkten multilateralen Rahmen. Sie, verehrter Herr Guterres, fordern ihn als Generalsekretär der Vereinten Nationen immer wieder ein. Und Sie heben dabei die Europäische Union als eines der beiden – wie Sie sagen – „größten Friedensprojekte unserer Zeit“ besonders hervor. Aber bringen wir Europäer wirklich genug Kraft auf? Verschwenden wir sie nicht zu oft? Die Energie etwa, die derzeit in die Verhandlungen um den Brexit fließt, bräuchte es, um eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik voranzubringen. Um unseren Beitrag zu einer vernünftigen, nachhaltigen Flüchtlings- und Asylpolitik zu leisten. Um uns für die konsequente Umsetzung der Pariser Klimaziele einzusetzen. Kurz: Um uns weniger um uns selbst zu drehen, sondern unsere Verantwortung für unsere Nachbarschaft und in der Welt wahrzunehmen.
In der Politik berufen wir uns gern auf die Charta der Vereinten Nationen – aber selten genug handeln wir danach. An diesem Widerspruch hängt mehr als die Feststellung, unseren Ansprüchen nicht immer und nicht ausreichend gerecht zu werden. Im globalen Wettstreit der Systeme werden Demokratien ganz besonders daran gemessen, ob sie ihren proklamierten Werten selbst gerecht werden.
Das sollte ein starkes Motiv unseres Handelns sein!
Herr Generalsekretär, ich darf Sie bitten, nun zu uns zu sprechen.