Rede von Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble im Haus der Geschichte: „Deutschlands Rolle in der globalisierten Welt“ (Adenauer-Vortrag)
[Es gilt das gesprochene Wort.]
Im Anfang war Adenauer: So lautet der Titel einer einflussreichen Studie des jüngst verstorbenen Arnulf Baring über die Anfangsjahre der Bundesrepublik – eine Anspielung auf den sprichwörtlich gewordenen Einstiegssatz, den sein Historikerkollege Thomas Nipperdey für seine Darstellung der deutschen Geschichte seit 1800 gewählt hatte. Und auch wenn der erste Kanzler natürlich genauso wenig eine Erlösergestalt war wie Napoleon: ein großes Glück für dieses Land war er unbestritten. Dass wir auf 70 Jahre Bundesrepublik zurückblicken können – auf 70 Jahre Frieden, Freiheit, Demokratie und Wohlstand – daran hat Konrad Adenauer wesentlichen Anteil.
Die Stabilität und Kontinuität dieses Staates markieren einen fundamentalen Unterschied zu der von Brüchen, Kriegen und Katastrophen geprägten deutschen Geschichte im Jahrhundert zuvor. Die damals unter kritischen Augen der Alliierten gesetzten Grundpfeiler tragen bis heute: Grundgesetz, Föderalismus, soziale Marktwirtschaft nach innen. Nach außen der feste „Anschluss an den Westen“, der Adenauers tiefer, aus Erfahrung gewachsener Überzeugung entsprach, das enge deutsch-französische Verhältnis, die europäische Integration, das transatlantische Bündnis. Der erste Bundeskanzler erwies sich hier mit den Worten seines Biographen Hans-Peter Schwarz als entschiedener „politischer Neuerer“.
Selbst der epochale Fall der Berliner Mauer vor 30 Jahren hat die Grundfesten dieses Land nicht verrückt. Vielmehr hat die konsequente, gegen viele innenpolitische Widerstände durchgesetzte Politik der Westbindung das tragfähige Fundament für die „Einheit in Freiheit“ gelegt. Die einzige Art der deutschen Einheit, die Konrad Adenauer als erstrebenswert ansah, die aber spätestens mit dem Mauerbau kaum mehr möglich schien.
Die Geschichte hat ihm Jahrzehnte später Recht gegeben.
Es war das glückliche Zusammentreffen vieler historischer Faktoren, die zur überraschenden Implosion des Ostblocks und zur deutschen Wiedervereinigung geführt haben. Klar ist aber: Ohne das über Jahrzehnte gewachsene Vertrauen der Partner in die Verlässlichkeit der Bundesrepublik wäre damals kaum vorstellbar gewesen, was uns heute selbstverständlich erscheint: ein vereintes, souveränes, demokratisches Deutschland, fest verankert in einem geeinten Europa und im westlichen Bündnissystem.
Wenn Deutschland heute seine Rolle in der Welt sucht, dann im Rahmen der Leitplanken, die Adenauer gesetzt hat und die von den nachfolgenden politischen Generationen ausgebaut und gefestigt, manches Mal auch akzentuiert wurden. Etwa durch die neue Ostpolitik und den „Wandel durch Annäherung“, die auf die kommunistischen Gesellschaften langfristig von innen destabilisierend wirkten. Oder durch die Entscheidung der Bundesregierung 2003, sich nicht am Irakkrieg zu beteiligen, was die transatlantische Bindung an die USA lockerte. Aber im Grundsatz sind die Adenauerschen Leitplanken auch noch sieben Jahrzehnte später breiter politischer Konsens und werden höchstens an den äußeren politischen Rändern in Frage gestellt. Das ist bemerkenswert.
Denn die Welt hat sich fundamental gewandelt. Die Bipolarität des Kalten Krieges mit ihrer klaren Trennung von Freund und Feind ist abgelöst von einer neuen „Weltunordnung“. Zunehmende Globalisierung, beschleunigter technologischer Wandel und globale machtpolitische Verschiebungen gehen mit Ungewissheiten, Unberechenbarkeiten und diffusen Risiken einher.
Die Hoffnung, dass die freiheitliche Demokratie nach 1989 weltweit einen Siegeszug antreten würde, hat sich als Illusion erwiesen. Im Gegenteil: Selbst in einigen gefestigten Demokratien dreht sich das Rad der politischen Freiheit zurück.
Neue Mächte melden ökonomische und politische Geltungsansprüche an. China scheint dabei die lang gehegte Annahme zu widerlegen, dass der Freiheit des Marktes die Freiheit der Gesellschaft unweigerlich folgt.
Zugleich ziehen sich die USA – die einzig verbliebene Supermacht – aus der Rolle als globaler Ordnungsstifter zurück. Sie verfolgen ihre Interessen verstärkt außerhalb jenes multilateralen Institutionengefüges, das sie nach dem Krieg mit aufgebaut haben – und auf das Deutschland und die Europäische Union setzen.
Die Europäer stecken derweil in einer Dauerkrise. Sie verlieren demnächst – es hieß mal: übermorgen – eines ihrer größten und wichtigsten Mitglieder, erfahren an ihrer östlichen Grenze die Rückkehr von Krieg und gewaltsamer Grenzverschiebung und sind gespalten und blockiert durch den Trend zur Renationalisierung.
Die regelbasierte internationale Ordnung ist unter Druck – und das in einer zunehmend verflochtenen, interdependenten Welt, in der sich immer weniger Probleme allein im nationalen Rahmen lösen lassen. In der europäischen und internationalen Zusammenarbeit mehr denn je das Gebot der Stunde ist. Das Gebot politischer Vernunft.
Weil Ereignisse und Entwicklungen irgendwo auf der Welt unmittelbare Folgen für uns haben können – was übrigens auch umgekehrt so ist: Was wir tun oder eben unterlassen, wirkt sich anderswo in der Welt aus. Das gilt mit Blick auf den Schutz von Umwelt und Klima, mit Blick auf die Abermillionen Flüchtlinge und Migranten, auf Bürgerkriege und zerfallende Staaten, die Bedrohung durch grenzüberschreitenden Terrorismus und organisierte Kriminalität, mit Blick auf die Sicherung globaler Handelswege und Infrastrukturen.
Die Krise des Multilateralismus betrifft Deutschland in besonderem Maße. Denn kaum ein Land ist so stark mit der Welt vernetzt – und das bedeutet zugleich: angewiesen auf den Austausch von Gütern, Ressourcen und Daten mit anderen Staaten und Gesellschaften. Auf eine stabile, normengestützte globale Ordnung.
Mit der zunehmenden ökonomischen, politischen und sozialen Verflechtung wächst uns Verantwortung für die Welt zu. Nicht, weil wir Deutschen besser als andere wüssten, was gut für die Welt ist – auch wenn wir gelegentlich diesen Eindruck vermitteln. Sondern weil unser Wohl und unser Wohlstand am Rest der Welt hängen.
Mehr Verantwortung – das ist der außenpolitische Imperativ, seit die Bundesrepublik mit der Wiedervereinigung ihre volle staatliche Souveränität zurückerlangte. Wenige Tage vor dem Vollzug der deutschen Einheit erklärte Hans-Dietrich Genscher 1990 vor der UN-Generalversammlung ausdrücklich, dass das vereinte Deutschland nicht nach mehr Macht strebe, sich aber der größeren Verantwortung bewusst sei. „Wir werden diese Verantwortung in Europa und in der Welt annehmen“, versprach der damalige Außenminister.
Inzwischen wissen wir, wie ungemütlich es im Einzelfall sein kann, Verantwortung zu übernehmen. Die meisten von Ihnen haben die 1990er und 2000er Jahre miterlebt und erinnern sich an die schwierigen Entscheidungen, vor die die deutsche Politik gestellt war: Kosovo, Afghanistan, Irak. Außenpolitische Dilemmata, die manchmal der Entscheidung zwischen Pest und Cholera gleichen.
Wir sind noch immer verwöhnt von Frieden und Wohlstand. Über Jahrzehnte profitierte Deutschland von der Sicherheit und dem Schutz, den andere, namentlich die Vereinigten Staaten, uns garantierten.
Dass wir überhaupt zu entscheiden haben, ob deutsche Soldaten sich an militärischen Einsätzen im Ausland beteiligen, ist Ausdruck unserer veränderten Rolle im internationalen Gefüge. Und auch der veränderten Erwartungen unserer Bündnispartner.
Sicherheit vor Deutschland war einst das zentrale Motiv der europäischen Integrationsbemühungen nach dem Krieg. Vor 30 Jahren – als die deutsche Einheit im Raum stand – herrschte selbst bei einigen unserer engsten Partner die Sorge vor einer deutschen Übermacht in Europa. Heute sehen wir uns dagegen von verschiedenen Seiten mit der Erwartung konfrontiert zu führen. Am eindrücklichsten appellierte mitten in der Eurokrise der damalige polnische Außenminister Radosław Sikorski an die deutsche Politik: Er habe inzwischen weniger Angst vor deutscher Macht als vor deutscher Untätigkeit. Ein Aufruf, der in seinem eigenen Land nicht unwidersprochen blieb und mit dem ein Dilemma verknüpft ist, auf das der Zeithistoriker Andreas Rödder hinweist: Der neue Ruf nach deutscher Führung bleibt gepaart mit der alten Angst vor deutscher Dominanz.
Deutschland ist seit 1990 in der Außenpolitik einen sehr weiten Weg gegangen. Aber dieser Weg ist noch nicht zu Ende. Und er bleibt beschwerlich.
Vor fünf Jahren forderte Joachim Gauck in einer vielbeachteten Rede vor der Münchner Sicherheitskonferenz die Deutschen auf, mehr internationale Verantwortung zu übernehmen. Er nahm vorweg, dass das als Chiffre für mehr Soldaten, mehr Geld und mehr Probleme verstanden werden würde. Und das wurde es größtenteils auch. Aber im Kern geht es um etwas Grundlegenderes: um unser Selbstverständnis, um unser Verständnis von der Welt, in der wir leben.
Wir sind das bevölkerungsreichste Land Europas. Die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt. Deutschland gehört zu den wohlhabendsten und stabilsten Ländern. Keine Großmacht, aber ein Land mit politischem und ökonomischem Einfluss.
Haben wir wirklich ausreichend begriffen, dass unsere Freiheit und unser Wohlstand nicht voraussetzungslos sind? Dass Deutschland keine Trauminsel ist, die mit der rauen globalen Wirklichkeit nichts zu schaffen hat? Sind wir bereit, unsere Macht einzusetzen, um zu schützen und zu fördern, was die Grundlage unseres Lebensmodells ausmacht? Und: zu welchem Preis?
Ich kann verstehen, dass bei unseren Partnern gelegentlich der Eindruck entsteht, Deutschland ducke sich weg. Wie jüngst bei der Debatte um die Sicherheit in der Straße von Hormus oder bei der Frage unseres Beitrags zur NATO. Nicht alles, was der US-amerikanische Präsident in die Welt hinausruft, entbehrt ja vollkommen der sachlichen Grundlage. Und bestimmte Optionen von vornherein auszuschließen, schwächt die eigene Verhandlungsposition, wie jeder Taktiker weiß – übrigens auch die von Partnern und Verbündeten.
Nach der Katastrophe von 1945 haben wir eine Kultur der Zurückhaltung geradezu verinnerlicht. Die pazifistische Grundhaltung der meisten Deutschen ist nicht nur sympathisch, sondern auch historisch nachvollziehbar. Auftrumpfen steht uns nicht, das gilt nach wie vor. Aber unsere Geschichte kann kein Feigenblatt sein. Sie darf nicht als Ausrede für Verantwortungslosigkeit dienen.
Wir sehen uns als Zivil- und Friedensmacht, die auf Selbsteinbindung und auf multilateralen Dialog setzt. Da haben wir vieles vorzuweisen. Wenn von unserem Beitrag zu Sicherheit und Entwicklung in der Welt die Rede ist, werfen wir zu Recht unsere Kompetenzen in die Waagschale – in der Konfliktprävention, in der Diplomatie, in der Entwicklungspolitik. Aber manchmal schauen wir vielleicht auch ein bisschen zu selbstverliebt in den Spiegel. Eine Tendenz „zur moralisch-kulturellen Selbsterhöhung“ wird uns nicht ganz zu Unrecht nachgesagt.
Die Ansprüche sind hoch: Eine Mehrheit will, dass Deutschland sich nicht nur für die eigene Sicherheit, sondern auch die seiner Verbündeten und bei der Terrorismusbekämpfung engagiert. Es soll sich weltweit gegen Umweltverschmutzung und Klimawandel und für den Schutz der Menschenrechte starkmachen. Aber wenn es um konkrete Maßnahmen geht, wird es schwieriger: Die Verteidigungsausgaben zu erhöhen, die Lebensverhältnisse in Entwicklungsländern zu verbessern oder Demokratisierungsprozesse in anderen Staaten aktiv zu unterstützen – all das findet sehr viel weniger Zuspruch. Und nach wie vor meinen die Deutschen mehrheitlich, ihr Land solle sich bei internationalen Krisen mit eigenem Engagement besser zurückhalten.
Wohlmeinend ließe sich daraus eine realistische Skepsis hinsichtlich der Erfolgsaussichten ablesen. Aber noch eher wohl eine Haltung, für die es die schöne Redewendung gibt: „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass.“
Heraushalten ist keine Option, jedenfalls keine tragfähige außenpolitische Strategie. Wir Europäer müssen mehr für unsere eigene Sicherheit tun – und das heißt auch: für die Sicherheit der Welt um uns herum. Für den Schutz der internationalen Ordnung, grundlegender Menschenrechts-normen und kritischer Infrastrukturen. Dazu gehört in letzter Konsequenz auch die Bereitschaft, militärische Gewalt anzuwenden. Zumindest müssen wir damit drohen können.
Im aktuellen „Spiegel“ macht der amerikanische Historiker Robert Kagan darauf aufmerksam, dass es allerdings nicht nur materielle Kosten produziert, als militärische Interventionsmacht die freie Weltordnung zu erhalten und die Gegenkräfte freiheitlicher Demokratien zu kontrollieren. Es hat auch einen moralischen Preis. Und diese Bürde zu tragen, stellt gerade die Deutschen vor große Herausforderungen.
Aber unsere Rolle als besonnener Mahner würde glaubwürdiger, wenn wir unsere geübte verteidigungspolitische Zurückhaltung mit den berechtigten Erwartungen unserer Partner und Verbündeten ausbalancierten. Denn allein wird Deutschland die Welt nicht zu einem besseren, sichereren Ort machen. Das geht nur gemeinsam mit den anderen Europäern und im transatlantischen Bündnis.
Letzteres hat sicher schon bessere Zeiten gesehen. Dass die Deutschen die USA derzeit als größte Gefahr für den Weltfrieden ansehen, dass sie unabhängiger von den Amerikanern sein wollen und sich stattdessen engere Beziehungen zu Russland und China wünschen, ist nicht nur angesichts der Entwicklung der deutsch-amerikanischen Beziehungen nach 1945 bemerkenswert. Dabei scheint in Vergessenheit zu geraten: Der Westen ist zwar auch eine Verteidigungsgemeinschaft, aber doch vor allem eine Wertegemeinschaft. Bei allen aktuellen Schwierigkeiten teilen wir mit den USA noch immer grundlegende normative Ideale und Prinzipien – anders als mit Putins Russland oder mit China. Und wir sollten uns nichts vormachen: Auf absehbare Zeit wird Deutschland, wird Europa für seine Sicherheit nicht ohne die USA auskommen.
Beginnen wir damit, die Welt so zu sehen, wie sie ist – und nicht, wie wir sie gerne hätten. Dazu gehört auch, dass wir unsere Werte, unsere Vorstellung zu leben, nicht zur Grundbedingung im Umgang mit anderen Staaten und Gesellschaften machen können. Die Welt wird sich in absehbarer Zeit nicht zu einem Abbild unserer Selbst verwandeln. Herfried Münkler plädiert zu Recht für eine „neue Bescheidenheit“ in unseren ethischen Ansprüchen an eine globale Ordnung.
Wenn wir die globalisierte Welt mitgestalten wollen, wenn wir bei der Lösung globaler Probleme vorankommen wollen, müssen wir auch mit Staaten und Regimen verhandeln, die unsere Werte nicht teilen. Die weltweite Migration können wir nur in Kooperation mit Staaten und Kräften in den Herkunfts- und Transitregionen bewältigen, an denen wir mit guten Gründen viel zu kritisieren haben. Der Bürgerkrieg in Jemen ist nur einzudämmen, geschweige denn zu beenden, gemeinsam mit Saudi-Arabien und dem Iran. Klimaschutz und Nachhaltigkeit werden sich ohne Einbindung der aufstrebenden Schwellenländer und ihrer Interessen nicht durchsetzen lassen.
Wir sollten uns zudem ehrlich machen, was unsere wirtschaftlichen Interessen betrifft. Weil wir auf Rohstoffe, über die wir selbst nicht verfügen, auf sichere Handelswege, internationale Arbeitsteilung und Absatzmärkte angewiesen sind. Und das beeinflusst selbstverständlich unsere Politik. Alles andere wäre verantwortungslos. Zur Erinnerung: Für den Hinweis auf schützenswerte strategische Wirtschaftsinteressen ist ein früherer Bundespräsident derart unter öffentlichen Beschuss geraten, dass er zurückgetreten ist.
Eine realistische Politik bedeutet nicht, unsere Ideale aufzugeben oder zur Verhandlungsmasse zu erklären. Mit Heinrich August Winkler lautet die Frage auch nicht, ob der Westen eine Verantwortung für die Achtung der Menschenrechte in aller Welt trägt, sondern wie er dieser Verantwortung gerecht werden könne. Der Historiker plädiert für einen „normativ aufgeklärten Realismus“, der Handlungsspielräume und Alternativen in konkreten Situationen abwägt. Mit anderen Worten: eine Politik, die aus Notwendigkeit pragmatisch ist und aus Überzeugung an ihren normativen Zielen festhält. Das heißt auch, das unauflösliche Spannungsverhältnis zwischen dem Wünschenswerten und der Wirklichkeit auszuhalten. Lösungen zu akzeptieren, auch wenn sie nicht hundertprozentig unseren Vorstellungen entsprechen.
Es geht um unsere Ideale und um unsere Interessen. Um Frieden, Demokratie und universelle Menschenrechte und um eine stabile globale Ordnung mit sicheren Infrastrukturen und freiem Austausch. Beides bedingt sich gegenseitig. Da sollten wir uns moralisch auch nichts vormachen: Ohne ein grundlegendes Maß an Wohlstand und sozialer Sicherheit keine stabile Demokratie. So wie es ohne freiheitliche Demokratie keine dauerhaft erfolgreiche Volkswirtschaft gibt.
Deswegen braucht es gegenüber Staaten wie China oder Russland die richtige Balance von Zusammenarbeit in den vielen wirtschaftlichen und geopolitischen Fragen, die nur gemeinsam zu lösen sind, und Druck in Richtung Demokratie und Menschenrechte. Das ist auch mehr als nur Rhetorik. Die historische Erfahrung lehrt vielmehr, dass Veränderungen aus der Gesellschaft heraus kommen und dass Diktaturen äußere Einflüsse nicht vollkommen und auf Dauer unterdrücken können. Oft hat sich autokratische Macht als fragiler erwiesen, als vom Westen über Jahrzehnte angenommen. Nicht nur die DDR, auch der Arabische Frühling ist dafür ein Beispiel. Selbst wenn der Umsturz in der arabischen Welt in großen Teilen als gescheitert gelten muss: Die Werte des Westens machen Regime und Regierungen noch immer nervös, weil sie weiterhin attraktiv sind. Wir sehen das gerade wieder in Hongkong.
Im Idealfall lassen sich Werte und Interessen miteinander verknüpfen. Konrad Adenauer ist das auf kongeniale Weise gelungen. Indem er konsequent seinen normativen Idealen folgte – ein friedliches, geeintes Europa, die Aussöhnung mit Frankreich und die Einbindung in die westlichen Wertegemeinschaft – hat er zugleich deutsche Interessen realisiert: Souveränität wieder zu gewinnen und als gleichberechtigte Partner anerkannt zu werden. Er habe dafür – wie ihm die Opposition und nicht wenige Zeitgenossen damals vorwarfen – die deutsche Einheit „geopfert“. Ein Zielkonflikt, in dem Adenauer abwägen musste. Er tat das auf der Grundlage seiner klaren strategischen und normativen Prioritäten.
Unsere Priorität heißt Europa. Aus normativen Gründen ebenso wie aus wohlverstandenem Eigeninteresse. Zur europäischen Zusammenarbeit gibt es für uns Deutsche keine vernünftige Alternative. Souverän sein können wir in der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts nur gemeinsam. Umso dringender ist es, dass die europäischen Staaten den Anspruch und auch die Mittel entwickeln, um in der Welt zu agieren. „Weltpolitikfähig“, wie der scheidende EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker es genannt hat.
Wie weit die EU davon derzeit weg ist, dafür gibt es Belege zu Hauf: etwa die Uneinigkeit im Verhältnis zu Russland – siehe Nord Stream 2 –, oder das Scheitern einer gemeinsamen Erklärung zur Aufkündigung des INF-Vertrages zur atomaren Abrüstung durch Russland und die USA. Die Einstimmigkeitsregel in außenpolitischen Fragen, die jedem Staat de facto ein Vetorecht zuspricht, ist sicher wenig hilfreich. Es scheint hier aber nicht nur ein Umsetzungs-, sondern auch ein Erkenntnisproblem unter den Europäern zu geben.
Deutschland sollte sich mit ganzer Kraft für ein nach innen und außen handlungsfähiges Europa einsetzen. Nicht als europäischer Hegemon, wie immer mal wieder ins Spiel gebracht wird. Das ließe schon die Konstruktion der Europäischen Union nicht zu, in der aus guten Gründen kein einzelner Staat den anderen seinen Willen aufzwingen kann. Sondern weil wir durch unsere Lage, unsere Größe und nicht zuletzt durch unsere Geschichte eine besondere Verantwortung für das Projekt der europäischen Einigung tragen. Europa lässt sich nicht mit der Brechstange einigen. Vielmehr braucht es das Verständnis für die unterschiedlichen Perspektiven der anderen, die Bereitschaft zu Zugeständnissen und Kompromissen und am Ende den politischen Willen, aus einem europäischen Blickwinkel heraus zu konstruktiven Entscheidungen zu kommen.
Und es braucht Pragmatismus: Entscheidend ist nicht so sehr, ob wir im Rahmen des Gemeinschaftsrechts oder intergouvernemental vorankommen – sondern dass wir vorankommen. Dafür ist eine enge deutsch-französische Zusammenarbeit noch immer die beste Gewähr. Konrad Adenauer hat den deutsch-französischen Freundschaftsvertrag einmal als das „Hauptwerk“ seiner vierzehnjährigen Tätigkeit als Bundeskanzler bezeichnet. Zu Recht. Auch wenn der Vertrag nicht wie erhofft zum Kristallisationskern einer politischen Gemeinschaft in Europa wurde. Ohne die deutsch-französische Verständigung gäbe es das gemeinsame Europa vermutlich gar nicht. Und ohne den deutsch-französischen Motor stockt es im Europa der 27 noch weit mehr als im Europa der Sechs.
Deutschland und Frankreich haben ihr enge Kooperation in diesem Jahr mit dem Aachener Vertrag bekräftig und ausgebaut. Und unsere Parlamente gehen völlig neuartige Wege der Zusammenarbeit: Wir haben eine gemeinsame parlamentarische Versammlung geschaffen, die sich aus Mitgliedern von Assemblée Nationale und Deutschem Bundestag zusammensetzt und abwechselnd in Paris und in Berlin tagt. Die enge parlamentarische Kooperation soll helfen, Differenzen abzubauen und in zentralen politischen Standpunkten eine Übereinstimmung anzubahnen – auch mit Blick auf die Sicherheits- und Verteidigungspolitik.
Gerade in Sachen gemeinsamer Verteidigung ist gemeinschaftliches europäisches Handeln sinnvoll und notwendig. Eine schon etwas ältere gemeinsam geteilte Erkenntnis, die auf große Hindernisse stößt: unterschiedliche Verfassungstraditionen und nationale Rechtslagen, unterschiedliche strategische Prioritäten und verteidigungspolitische Kulturen. Nicht zuletzt eine unterschiedliche Geschichte. Was Polen und die baltischen Staaten mit Blick auf ihren großen Nachbarn im Osten besorgt, ist für den Westen ziemlich weit weg und hindert einige nicht daran, eng mit Russland in der Energiepolitik zu kooperieren. Die Lage in Libyen und dem Maghreb interessiert die Skandinavier sehr viel weniger als die Italiener und Spanier. Und was für die Franzosen zum nationalen Selbstverständnis zählt – militärische Stärke – lehnen die pazifistisch gesinnten Deutschen ab.
Für all diese unterschiedlichen Haltungen gibt es jeweils gute, nachvollziehbare Gründe. Aber wenn wir es ernst meinen mit der gemeinsamen europäischen Verteidigung, dann müssen alle Beteiligten bereit sein, die eigenen, althergebrachten Positionen zu hinterfragen und ein Stück weit davon abzurücken. Das gilt auch für uns Deutsche, etwa bei der Frage der Rüstungsexporte und beim Parlamentsvorbehalt. Wir müssen begreifen, dass es nicht allein um unsere innenpolitische Sicht geht, sondern auch um unsere Bündnisfähigkeit. Darum, dass nicht nur wir von unseren Partnern abhängen, sondern unsere Partner und Verbündeten umgekehrt auch von uns.
Das unlängst angekündigte deutsch-französische Abkommen über gemeinsame Regeln für Rüstungsexporte ist deshalb ein wichtiger Schritt.
Und deshalb ist auch der Gedanke, der dem Vorschlag der Bundesverteidigungsministerin für eine internationale Schutzzone in Nordsyrien zugrunde liegt, richtig. Denn es steht außer Frage, dass die zugespitzte Situation in unserer unmittelbaren Nachbarregion europäische und damit deutsche Sicherheitsinteressen massiv berührt. Schon deshalb können wir uns nicht guten Gewissens darauf beschränken, den Konfliktparteien Mahnungen von der Seitenlinie aus zuzurufen, oder bloß zuschauen, wie die Türkei und Russland gemeinsam ihren Machtbereich ausweiten. Wenn es in unserem ureigenen Interesse liegt, selbst wirksam Einfluss zu nehmen, dann erfüllt sich unsere Wahrnehmung von Verantwortung im Übrigen auch nicht darin, Ideengeber für eine überfällige europäische Initiative zu sein. Dann müssten wir Deutschen bereit sein, selbst einen Beitrag vor Ort zu leisten. Materielle und moralische Kosten übernehmen.
Der aktuelle Konflikt ist nur das jüngste Beispiel dafür, was die deutsche Politik erwartet: unbequeme Debatten und unpopuläre Entscheidungen. Das Interview mit Robert Kagan ist im Übrigen auch deshalb so interessant, weil es verdeutlicht, dass diese Debatten für manche Partner und Freunde auch alte Stabilitätsfragen innerhalb Europas berührt. Sie gilt es sich ebenso bewusst zu halten, wie es jetzt darum geht, strategische Interessen zu definieren, außenpolitische Zusammenhänge immer wieder zu erklären und die Deutschen von der Notwendigkeit zu überzeugen, dass wir uns in der Verteidigungspolitik noch weiter werden bewegen müssen. Auch gegen Widerstände. Mit anderen Worten: Es braucht politische Führung.
Es gibt dazu eine schöne, wenn auch nicht zweifelsfrei belegbare Anekdote über den ersten Bundeskanzler: Als sein Regierungssprecher Felix von Eckardt ihn vom Vorhaben der Wiederbewaffnung abbringen wollte mit dem Hinweis, 75 Prozent der Bevölkerung seien dagegen, soll Adenauer trocken entgegnet haben: „Dann kommt ‘ne Menge Arbeit auf Sie zu.“
Sicherlich: Die Bedingungen für politische Führung haben sich massiv verändert. Der Bundestag macht in der Außenpolitik mehr Mitsprache geltend. Zivilgesellschaftliche Organisationen erwarten, angehört und beteiligt zu werden. Und der öffentliche Diskurs lässt sich in Zeiten von Internet und sozialen Netzwerken kaum mehr strukturieren und moderieren. Ob eine Persönlichkeit wie Konrad Adenauer sich heute in der Politik durchsetzen würde, ist alles andere als sicher. Aber was Führung heute mindestens so nötig hat wie zu Beginn der Bundesrepublik, ist Mut und Entschiedenheit.
Das als richtig und notwendig Erkannte auch bei Gegenwehr durchzusetzen, bei den Zielen und Grundprinzipien klar, beim Weg und bei der konkreten Ausgestaltung hingegen flexibel zu sein – dafür steht Konrad Adenauer. Selbstgewiss gab er 1954 in einem Interview zu Protokoll: „Die Außenpolitik der Bundesregierung ist konsequent und einfach; sie ist eine Politik auf weite Sicht. Spätere Geschlechter werden uns dankbar sein, dass wir uns nicht haben irremachen lassen.“
Dankbar können wir sein – und irremachen sollten wir uns auch heute nicht. Selbst wenn strategisches Handeln in der sich immer schneller wandelnden Welt schwieriger geworden ist. Umso mehr braucht es Weitsicht, Konsequenz und Flexibilität. Damit Deutschland seine Rolle in der Welt von heute und morgen bestmöglich wahrnimmt – als Mitglied eines starken Europas, als verlässlicher und verantwortungsvoller Partner im westlichen Bündnis. Als Streiter für eine regelbasierte internationale Ordnung und eine friedliche, freiheitliche Welt.