Parlament

Ansprache des Bundestagspräsidenten während der gemeinsamen Plenarsitzung zu „50 Jahre Élysée-Vertrag“

Es gilt das gesprochene Wort!

Sehr geehrter Herr Präsident der Republik,
sehr geehrter Herr Bundespräsident,
Frau Bundeskanzlerin,
Herr Premierminister,
Herr Präsident des Senats,
Herr Bundesratspräsident,
Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichts,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
verehrte Gäste!

Auch im Namen des Präsidenten der Assembleé Nationale, Claudé Bartolone, begrüße ich Sie alle herzlich zu der gemeinsamen Sitzung des Deutschen Bundestages und der französischen Nationalversammlung im Reichstagsgebäude in Berlin aus Anlass des 50. Jahrestages des Élysée-Vertrages vom 22. Januar 1963.

50 Jahre Élysée-Vertrag, 50 Jahre Deutsch-Französische Freundschaft: Wer ein Gespür für die Bedeutung von fünfzig Jahren in der jüngeren europäischen Geschichte hat, kann das nicht nur für eine runde Zahl, ein beliebiges Ereignis halten. Das vergangene halbe Jahrhundert markiert vielmehr eine grundlegende historische Wende in den Beziehungen unserer Länder, in der Geschichte Europas. Deshalb begrüße ich besonders gerne auf der Ehrentribüne den Präsidenten des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, und zahlreiche weitere Mitglieder als Repräsentanten aller in der Union vereinten Europäer.

Wir freuen uns über die Teilnahme vieler Ehrengäste; stellvertretend für alle nenne ich Richard von Weizsäcker, Hans-Dietrich Genscher und Rita Süssmuth.

Vor zehn Jahren sind unsere beiden Parlamente auf Einladung unserer französischen Freunde in Versailles zusammengetroffen - eine große Geste der Überwindung der wechselseitigen historischen Kränkungen von 1871 und 1919, die jeweils mit dem Namen Versailles verbunden sind.

Heute tagen wir in Berlin, der Hauptstadt des wiedervereinigten Deutschland, dessen staatliche Einheit es ohne die Aussöhnung zwischen unseren beiden Ländern nicht geben würde, und haben uns längst an einen Zustand des dauerhaften Friedens, der Freundschaft und Zusammenarbeit in einer Europäischen Union demokratischer Staaten gewöhnt, die die meisten Menschen in unseren Ländern längst für eine schiere Selbstverständlichkeit halten, weil sie in ihrer persönlichen Biographie nie andere Verhältnisse als diese kennengelernt haben.

1963 war die erste Nachkriegsgeneration noch nicht einmal volljährig. Konrad Adenauer und Charles de Gaulle schlossen den Vertrag – ich zitiere aus ihrer „Gemeinsamen Erklärung“ – „in der Überzeugung, daß die Versöhnung zwischen dem deutschen und dem französischen Volk, die eine Jahrhunderte alte Rivalität beendet, ein geschichtliches Ereignis darstellt, daß das Verhältnis der beiden Völker zueinander von Grund auf neu gestaltet“. Adenauer wurde wenige Jahre nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71 geboren. Wie er erlebten mehrere Generationen von Deutschen und Franzosen in der gleichen Zeitspanne von 50 Jahren zwei Weltkriege mit verheerenden Folgen für beide Länder. Heute ist das Verhältnis der beiden Völker zueinander von Grund auf neu gestaltet. So wie Europa sich in der Vergangenheit auf die alte, immer wieder aufbrechende Rivalität zwischen Deutschland und Frankreich einstellen musste, so kann und muss es sich für die Zukunft auf die Partnerschaft und Zusammenarbeit dieser beiden großen Nachbarländer verlassen.

Wer die Bedeutung von 50 Jahren Freundschaft zwischen zwei Ländern ermessen will, die in Europa über Jahrhunderte hinweg als Dauerrivalen oder gar als Erbfeinde galten, der sollte sich an die geradezu beschwörenden Worte von Winston Churchill unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg erinnern: „Der erste Schritt zu einer Neuschöpfung der europäischen Völkerfamilie muss eine Partnerschaft zwischen Frankreich und Deutschland werden“, sagte Churchill in seiner berühmten Rede 1946 in Zürich an die akademische Jugend Europas. Frankreich und Deutschland sind dieser damals ebenso kühnen wie weitsichtigen Aufforderung eines großen britischen Premierministers gefolgt.

Als der Élysée-Vertrag 1963 geschlossen wurde, wussten wir, dass eine neue Etappe in der Geschichte der Deutsch-Französischen Beziehungen beginnen würde. Heute wissen wir noch besser als damals, welche Bedeutung die deutsch-französische Aussöhnung und Freundschaft nicht nur für das Verhältnis unserer beider Länder, sondern für Europa im ganzen bekommen sollte.

Für die Zukunft Europas bleibt die deutsch-französische Verständigung unverzichtbar, gerade weil diese beiden Länder eben nicht gleiche, sondern durchaus unterschiedliche Interessen, Traditionen und Vorstellungen haben.

In jeder langjährigen stabilen Beziehung gibt es Phasen der Leidenschaft und solche der Vernunft. Im Augenblick befinden sich unsere beiden Länder eher in einer Phase der leidenschaftlichen Vernunft als der romantischen Verliebtheit. Dass muss kein Nachteil sein. Unsere Nachbarn in Europa und unsere Partner in der Welt können mit der Normalisierung der Beziehungen zwischen uns und ihnen sehr gut leben – besser als jemals zuvor in der europäischen Geschichte.

Heute verbinden wir die Feier einer fünfzigjährigen Freundschaft und Zusammenarbeit mit einem Appell an die Jugend Europas. An ihnen, den jungen Franzosen und Deutschen, die heute zur Schule gehen oder zur Universität, die in Betrieben und Unternehmen eine möglichst gute Berufsausbildung erhalten, liegt es, was aus diesem großen Vermächtnis in der Zukunft wird. Dafür steht auch die beispiellose Erfolgsgeschichte des deutsch-französischen Jugendwerks, das erfreulicherweise immer häufiger und immer stärker auch junge Leute aus den mittel- und osteuropäischen Ländern sowie den Mittelmeerstaaten in die gemeinsamen Programme und Aktivitäten einbezieht. So auch bei dem dreitägigen Jugendforum, das mit 150 Teilnehmern seit Sonntag hier in Berlin stattfindet! Ich begrüße die Delegation dieses Jugendparlaments zu unserem Festakt im Plenarsaal des Deutschen Bundestages.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, verehrte Gäste,

für die heutige Generation sind die engen freundschaftlichen Bande und die Freizügigkeit in ganz Europa völlig normal, selbstverständlich sind sie nicht. Sie sind es nicht vor der wechselhaften Geschichte beider Völker – und sie sind es in den internationalen Beziehungen auch heute nicht. Albert Camus, der große französische Autor, an dessen 100. Geburtstag wir in diesem Jahr erinnern, hat einmal gesagt: „L'homme n'est rien en lui-même. Il n'est qu'une chance infinie. Mais il est le responsable infini de cette chance“ – „Der Mensch ist nichts an sich. Er ist nur eine grenzenlose Chance. Aber er ist der grenzenlos Verantwortliche für diese Chance.“

Das ist ein schönes Motto für die nächsten 50 Jahre. Angesichts der europäischen Geschichte hat der deutsch-französische Vertrag von 1963 natürlich einen Wert an sich. Und er bietet noch immer grenzenlose Chancen. Verantwortlich dafür aber sind wir alle, Deutsche wie Franzosen gemeinsam als verlässliche Partner in einem vereinten Europa.