Parlament

Konstituierende Sitzung des 18. Deutschen Bundestages am 22. Oktober 2013

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Bundespräsident! Exzellenzen! Verehrte Gäste! Zunächst möchte ich mich bei unserem Alterspräsidenten Professor Riesenhuber für die Eröffnung unserer heutigen Sitzung, seine einführenden Worte in die absehbaren Herausforderungen dieser Legislaturperiode und die Leitung des Wahlganges bedanken und nicht weniger herzlich bei den beiden Prälaten Dr. Jüsten und Dr. Dutzmann für die eindrucksvolle Gestaltung des ökumenischen Gottesdienstes heute Morgen.

Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, danke ich für Ihr Vertrauen. Ich bin von diesem Votum, wie Sie sich vorstellen können, beeindruckt, zumal es ganz offenkundig sowohl von den neuen Mitgliedern wie von den langjährigen parlamentarischen Mitstreiterinnen und Mitstreitern verursacht worden ist, und ich empfinde es sowohl als Ermutigung wie als Verpflichtung. Besonders bedanken muss und möchte ich mich bei meiner Fraktion, die mich erneut für dieses Amt vorgeschlagen hat, obwohl sie weiß und damit rechnen muss, dass mein Verständnis der damit verbundenen Aufgaben in den eigenen Reihen nicht immer stürmische Begeisterung erzeugt.

Heute, liebe Kolleginnen und Kollegen, konstituiert sich zum 18. Mal ein Deutscher Bundestag, der aus allgemeinen, freien, gleichen und geheimen Wahlen hervorgegangen ist. Wie immer man das Wahlergebnis vom 22. September und die damit verbundenen Folgen beurteilen mag: Dies allein ist ein eindrucksvoller Beleg für die politische Stabilität der zweiten deutschen Demokratie, die inzwischen mehr Legislaturperioden aufzuweisen hat, als die Weimarer Demokratie an Jahren erlebt hat.

Der Tag der Konstituierung des 18. Deutschen Bundestages ist zugleich der 70. Geburtstag von Wolfgang Thierse. Diese glückliche Regelung

der gesetzlichen Fristen für die spätestmögliche Einberufung eines neu gewählten Bundestages gibt uns die besonders gute Gelegenheit, ihm nicht nur, was der Alterspräsident bereits getan hat, zu seinem heutigen Ehrentag zu gratulieren, sondern zugleich unserem früheren Präsidenten und Vizepräsidenten Dank zu sagen für die langjährige Arbeit in herausragenden Ämtern und Funktionen.

Wolfgang Thierse war Mitglied in der frei gewählten Volkskammer der DDR, die 1990 den denkwürdigen Beschluss des Beitritts der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes getroffen hat. Er hat über fast ein Vierteljahrhundert den Aufbruch der neuen Länder in die Demokratie begleitet und das Zusammenwachsen im vereinten Deutschland erfolgreich mitgestaltet. Unvergessen für alle, die dabei waren ‑ und das ist ja eine ganze Reihe von Kolleginnen und Kollegen ‑, bleibt seine prominente Rolle in der leidenschaftlichen Auseinandersetzung über den Umzug von Parlament und Regierung nach Berlin. Er war dann sieben Jahre Präsident des Deutschen Bundestages ‑ der erste hier im Reichstagsgebäude ‑ und seitdem bis heute Vizepräsident.

Auch Hermann Otto Solms scheidet heute nach 33 Jahren Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag, darunter 15 Jahre im Präsidium, zuvor Vorsitzender der FDP-Fraktion, aus dem Deutschen Bundestag aus. Ihm wie auch dem Vizepräsidenten Eduard Oswald, der zuvor Bundesminister und Vorsitzender von nicht weniger als drei unterschiedlichen Fachausschüssen des Deutschen Bundestages gewesen ist, möchte ich stellvertretend für alle Kolleginnen und Kollegen, die dem neuen Bundestag nicht mehr angehören, unseren Dank und unseren Respekt für die geleistete Arbeit aussprechen.

Meine Damen und Herren, dem neuen Bundestag gehören 230 neue Mitglieder an, also mehr als ein Drittel. Es sind weniger Männer als bisher und mehr Frauen. Immer noch ein paar zu wenig, höre ich. Aber es besteht ja doch die famose Aussicht, dass die Frauen dafür die Mehrheit im Präsidium des Deutschen Bundestages stellen können.

Diesem Bundestag gehören deutlich mehr jüngere und auffällig weniger ältere Mitglieder an als in der letzten und in früheren Legislaturperioden.

Und niemals zuvor gab es in einem deutschen Parlament so viele Abgeordnete mit einem Einwanderungshintergrund wie im 18. Deutschen Bundestag.

Sie alle, wir alle übernehmen heute ein neues Mandat, und den meisten wird bewusst sein, dass dies nicht ein Beruf wie jeder andere ist. Nicht alle Abgeordneten werden die gleichen Aufgaben und Funktionen wahrnehmen, aber alle haben die gleiche Legitimation und die gleichen Rechte und Pflichten. Wir sollten das eine so ernst nehmen wie das andere, die Rechte wie die Pflichten. Wir sind alle gewählt, nicht gesalbt, beauftragt zur Vertretung der Wahlberechtigten, nicht nur unserer jeweiligen Wählerinnen und Wähler. „Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages … sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen“, heißt es unmissverständlich in Art. 38 unseres Grundgesetzes. Aus gegebenem Anlass weise ich im Übrigen schon jetzt darauf hin, dass wir gleich mit der Geschäftsordnung auch die Verhaltensregeln für Abgeordnete beschließen werden, die damit für alle Mitglieder des Hauses gelten, auch und gerade dann, wenn sie lästig sind.

Mit der Konstituierung des Bundestages endet auch die Amtszeit der Regierung, die ihre verfassungsrechtliche Legitimation aus der Wahl des Kanzlers bzw. der Kanzlerin durch das Parlament bezieht. Auch während der Dauer der Koalitionsverhandlungen ist die Handlungsfähigkeit von Parlament und Regierung gesichert. Und selbstverständlich bedarf eine geschäftsführend amtierende Bundesregierung nicht weniger parlamentarischer Kontrolle als eine neue gewählte.

Niemand wird deshalb ernsthaft erwarten dürfen, dass der Bundestag seine Arbeit erst nach Abschluss der Koalitionsverhandlungen aufnehmen wird.

Beide Verfassungsorgane, Regierung wie Parlament, müssen und können ihre Aufgabe wahrnehmen. Zur Verantwortungsübernahme durch das Parlament gibt es keine überzeugende Alternative.

So hat es der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, den Heinz Riesenhuber schon auf der Tribüne begrüßt hat, nicht nur in Interviews immer wieder festgehalten, sondern auch in einschlägigen Urteilen des Bundesverfassungsgerichts ist das so oder ähnlich nachzulesen. Zitat Andreas Voßkuhle: „Der Bundestag ist und bleibt der Ort, an dem die wesentlichen Entscheidungen für unser Gemeinwesen getroffen werden müssen.“

Unabhängig von den Koalitionsverhandlungen und den damit verbundenen Vereinbarungen über politische Projekte der kommenden Legislaturperiode gibt es eine Reihe von parlamentarischen Hausaufgaben, denen wir uns alle gemeinsam stellen müssen, die Koalition wie die Opposition. Drei oder vier davon möchte ich gerne benennen.

Erstens: Geschäftsordnung. Die Kultur einer parlamentarischen Demokratie kommt weniger darin zum Ausdruck, dass am Ende Mehrheiten entscheiden, sondern darin, dass Minderheiten eigene Rechtsansprüche haben, die weder der Billigung noch der Genehmigung durch die jeweilige Mehrheit unterliegen. Die Minderheit muss wissen, dass am Ende die Mehrheit entscheidet, was gilt, und die Mehrheit muss akzeptieren, dass bis dahin - und darüber hinaus - die Minderheit jede Möglichkeit haben muss, ihre Einwände, ihre Vorschläge, wenn eben möglich auch ihre Alternativen zur Geltung zu bringen.

Nach Klärung der tatsächlichen Konstellationen in diesem Haus, die wir ahnen, aber ja noch nicht kennen, ist zu klären, ob und gegebenenfalls welche Änderungen dazu in der Geschäftsordnung des Bundestages oder in einschlägigen gesetzlichen Regelungen nötig und möglich sind. Alle Fraktionen des Hauses haben in den vorbereitenden Gesprächen, insbesondere im vorläufigen Ältestenrat, ihre Bereitschaft dazu grundsätzlich erklärt. Daran können wir anknüpfen.

Ich will allerdings zur Einordnung der aktuellen Diskussion auch den Satz hinzufügen: Klare Wahlergebnisse sind nicht von vornherein verfassungswidrig, große Mehrheiten auch nicht.

Zweitens. Wir brauchen offensichtlich eine neue Balance zwischen der Anzahl und dem Umfang der Beratungsgegenstände im Deutschen Bundestag und der für deren Behandlung zur Verfügung stehenden Zeit. In der letzten Legislaturperiode ist mit fast 15 000 Drucksachen ‑ 15 000 Drucksachen! ‑ ein neuer, wie ich finde, durchaus zweifelhafter Rekord von Initiativen aller Art aufgestellt worden, darunter 900 Gesetzesvorhaben, von denen am Ende 553 verabschiedet wurden - auch möglicherweise eher ein paar zu viel als zu wenig.

Auch wenn die meisten Großen und Kleinen Anfragen, Entschließungsanträge, Beschlussempfehlungen, Berichte und sonstigen Initiativen jeweils ihren Sinn haben: Es sind zu viele,

jedenfalls deutlich mehr, als wir in der dafür zur Verfügung stehenden Beratungszeit mit der gebotenen Sorgfalt erledigen können. Dies wird im Übrigen auch an der allzu großen Anzahl von Tagesordnungspunkten deutlich, die ohne Debatte behandelt werden.

Deswegen werden wir an der unangenehmen Entscheidung nicht vorbeikommen, entweder die Zahl der Sitzungswochen deutlich zu erhöhen oder unseren gemeinsamen Ehrgeiz in der Produktion von Texten und Papieren stärker zu disziplinieren.

Parlamente sind im Übrigen - Wolfgang Thierse hat in seinen Abschlussbemerkungen in der letzten Sitzung der vergangenen Legislaturperiode daran erinnert - keine Instrumente zur Beschleunigung von Entscheidungen, sondern zur Legitimierung von Entscheidungen, die allgemeinverbindlich gelten sollen. Dies setzt eine Sorgfalt und Gründlichkeit voraus, die dem Beschleunigungsehrgeiz widerstehen muss, von wem auch immer er jeweils geltend gemacht wird.

Drittens. Dass weder die Regierungsbefragung noch die Fragestunde in ihrer bisherigen Struktur das Glanzstück des deutschen Parlamentarismus darstellen, ist inzwischen ein breiter Konsens. Deswegen sollten wir in der Lage sein, beides in einer lebendigeren, die Aufgaben des Parlaments gegenüber der Regierung akzentuierenden Weise neu zu regeln.

Viertens schließlich. Es gibt Anlass, noch einmal in Ruhe und gründlich auf das novellierte Wahlrecht zu schauen, auch wenn das Wahlergebnis vom 22. September nur zu einer maßvollen Ausweitung der Anzahl der Mandate geführt hat. Ganze vier Überhangmandate ‑ viel weniger als in den allermeisten früheren Legislaturperioden ‑ haben durch die neuen Berechnungsmechanismen des fortgeschriebenen Wahlrechts, die für die meisten Wahlberechtigten übrigens ziemlich undurchsichtig sind, zu 29 Ausgleichsmandaten geführt. Dies lässt die Folgen ahnen, die sich bei einem anderen, knapperen Wahlausgang für die Größenordnung künftiger Parlamente ergeben könnten.

Da es immer besser ist, sich mit solchen Entwicklungen dann auseinanderzusetzen, wenn die Probleme noch nicht eingetreten sind, spricht manches dafür, dass wir nicht erst nach der nächsten Wahl, sondern rechtzeitig vor der nächsten Wahl noch einmal einen gemeinsamen sorgfältigen Blick auf diese Regelungen werfen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren, die Bedeutung und Leistung des Bundestages sind gewiss höher als sein öffentliches Ansehen. Die Kritik am Parlamentarismus ist nicht neu; sie ist vielmehr ziemlich genauso alt wie der Parlamentarismus selbst. Das macht sie allerdings nicht weniger bedeutsam.

Tatsächlich bestimmen nicht nur die Verfassung und die darin formulierten Aufgaben den kritischen Befund, sondern auch die in der Öffentlichkeit entwickelten Ansprüche und Erwartungen, und diese lassen sich schon deshalb nicht in vollem Umfang erfüllen, weil sie sich teilweise wechselseitig ausschließen. Dies kann man besonders gut erkennen am klassischen Spannungsverhältnis zwischen der Erwartung eines möglichst geschlossenen Auftretens parlamentarischer Gruppierungen auf der einen Seite ‑ insbesondere natürlich von Fraktionen und Regierungskoalitionen ‑ und der erwarteten Unabhängigkeit der Abgeordneten mit ihrem verfassungsrechtlich garantierten freien Mandat auf der anderen Seite.

Wenn es in diesem Haus übrigens tatsächlich große Mehrheiten geben sollte, wird die Urteilsbildung der einzelnen Abgeordneten auch und gerade in der Koalition nicht weniger wichtig, sondern noch wichtiger als bei knappen Mehrheiten.

Ein Parlament, das Forum der Nation sein soll und sein will, muss die ganze Breite der Auffassungen und Meinungen zur Geltung bringen, die es unter den Abgeordneten und den durch sie vertretenen Wählerinnen und Wählern in unserer Gesellschaft gibt. Dies geschieht in der Regel über die Fraktionen, muss aber gegebenenfalls auch unabhängig von ihnen möglich sein. Die offene Rede, Herr Kollege Riesenhuber, ist nicht nur in der Parlamentarischen Gesellschaft möglich, sondern auch hier, und manchmal sogar nötig.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Bundestag hat in der letzten Legislaturperiode nicht nur an Selbstbewusstsein gewonnen, sondern auch an einklagbaren Zuständigkeiten. Der Bundestag beschränkt sich keineswegs auf die notarielle Beurkundung anderswo getroffener Entscheidungen. Mit Blick auf europäische Verträge und Vereinbarungen ist er inzwischen selbst am Zustandekommen der Verträge und Verpflichtungen beteiligt, die er am Ende ratifiziert ‑ oder auch nicht ‑ und damit rechtsverbindlich macht.

Es gibt durchaus Anlass zur Besorgnis über manche Entwicklungen in Europa ‑ in einzelnen Mitgliedstaaten oder auch in der Union im Ganzen ‑, aber es gibt kein Parlament in Europa, das darauf größeren Einfluss hat als der Deutsche Bundestag.

Meine Damen und Herren, es gibt keine Demokratie ohne Transparenz und Kontrolle. Ohne kritische Beobachtung geht es nicht, aber ein auf Dauer gesetztes Misstrauen zerstört nicht nur jede persönliche Beziehung, sondern macht auch die Wahrnehmung öffentlicher Mandate unmöglich.

Dass an Mandatsträger höhere Erwartungen gestellt werden als an andere, ist offensichtlich und auch durchaus angemessen. Es muss aber in einem nachvollziehbaren, menschengerechten Maß erfolgen. Auch Abgeordnete haben mit der Annahme ihres Mandats nicht ihre staatsbürgerlichen Grundrechte verwirkt.

Ein Parlament ist keine Versammlung von Helden und Heiligen, sondern von Volksvertretern. Dies gilt im Übrigen nicht nur für die Verfassungstheorie, sondern auch für die gesellschaftliche Wirklichkeit: eine ziemlich repräsentative Mischung von Herkunft, Alter, Berufen, Begabungen, Temperamenten, Erfahrungen, Stärken und Schwächen; nicht besser als andere, aber in der Regel auch nicht schlechter ‑ Volksvertreter!

George Bernard Shaw, der kein Parlamentarier war, aber ein kluger Beobachter gesellschaftlicher Entwicklungen, wird der Satz zugeschrieben: „Die Demokratie ist die einzige Staatsform, die sicherstellt, dass wir nicht besser regiert werden, als wir es verdienen.“

Mit dieser ebenso ernüchternden wie ermutigenden Einsicht sollten wir uns mit Gottes Hilfe an die Arbeit machen, damit dieses Land etwa so regiert wird, wie es die Menschen, die hier leben, erwarten und verdienen.

Ich bedanke mich bei Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit, bei Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, für die Unterstützung. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit in der neuen Legislaturperiode.

Parlament

Vortrag auf der 68. Mitgliederversammlung des Landesverbandes der Volkshochschulen von NRW in Monheim am Rhein: „Vertrauensverlust der Parteien - Krise der parlamentarischen Demokratie?“

Sehr geehrte Frau Vorsitzende,
liebe Frau Leidemann,
Herr Bürgermeister,
Herr Aengenvoort,
liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Landtag und den kommunalen Vertretungskörperschaften,
meine Damen und Herren!

Zu dem angekündigten Thema kann ich Ihnen eine Kurzfassung und auch eine etwas längere Version anbieten. Die Kurzfassung lautet:
1.     Ja, es gibt eine Krise. Ihr Kern ist ein massiver Vertrauensverlust.
2.     Es empfiehlt sich sehr, diese Krise ernst zu nehmen.
3.     Ernst nehmen heißt, die offensichtlichen Krisensymptome weder zu     banalisieren noch zu dramatisieren.

Ich will auch die etwas längere Version in gekürzter Fassung vortragen, um das, was ich in drei zugespitzten Bemerkungen formuliert habe, vielleicht noch etwas zu veranschaulichen. Ich beginne mit dem Hinweis auf zwei Ereignisse der jüngeren deutschen Geschichte, die beide an einem 1. Juli stattgefunden haben –
und an die man inzwischen ausdrücklich erinnern muss, weil sie ein längst für selbstverständlich gehaltener Teil einer veränderten Lebenswirklichkeit geworden sind. Heute auf den Tag genau vor 23 Jahren, am 1. Juli 1990, trat die Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der damals noch existierenden Deutschen Demokratischen Republik in Kraft. Sie war die Vorstufe für eine politische Einheit, die weniger als ein halbes Jahr später vollzogen werden sollte – und die noch ein halbes Jahr zuvor kaum jemand für möglich gehalten hätte. Heute vor 22 Jahren, also ein Jahr später, am 1. Juli 1991, löste sich der Warschauer Pakt auf, eines der beiden großen, waffenstarrenden Militärbündnisse, die sich in Europa – und nirgendwo unmittelbarer als in Deutschland – jahrzehntelang gegenüber gestanden hatten. Mit dem Sturz der kommunistischen Systeme in Mittel- und Osteuropa und mit der Auflösung der Sowjetunion verlor der Warschauer Pakt nicht nur seine innere Legitimation, sondern auch seine Zweckbestimmung.

Wir leben heute in Deutschland unter – historisch betrachtet – außergewöhnlichen Verhältnissen. Wir leben in einem demokratischen Staat, rechtstaatlich verfasst, in dem regelmäßig Parlamente und Regierungen gewählt und abgewählt werden – so, wie es dem Mehrheitswillen der Bürgerinnen und Bürger entspricht. Das geteilte Land ist wieder vereint. Und zum ersten Mal überhaupt in der deutschen Geschichte leben wir in Frieden mit allen unseren Nachbarn. Glücklichere Zeiten gab es in der deutschen Geschichte nie. Wir haben uns inzwischen daran gewöhnt, diesen Zustand für den Normalzustand zu halten. Zumindest denjenigen, die nach 1990 geboren sind, wird man das schwerlich vorhalten können. Sie haben nie andere Verhältnisse erlebt, als die, die wir heute – mit einer subjektiven Überzeugung – für eben diesen Normalzustand halten.

Wenn man die spektakuläre Veränderung – und die zweifellos spektakulärste Verbesserung der politischen Verhältnisse, die es in Deutschland jemals gab – als Folie für die Beschreibung der Stimmungen und der Befindlichkeit in unserem Lande nimmt, dann ist erstaunlich, dass wir uns nicht in einem Zustand dauerhafter Euphorie, jedenfalls stabiler Zufriedenheit, befinden. Aber das ist ohnehin eine nur schwer realisierbare, luxuriöse Lieblingsvorstellung, insbesondere von in Verantwortung befindlichen Zeitgenossen. Vielmehr scheinen wir uns auf einem – zumindest demoskopisch gemessen – Tiefstand des Ansehens öffentlicher Institutionen zu befinden: Weder Regierung noch Opposition, weder Parlamente noch Parteien befinden sich auf dem Höhepunkt ihres öffentlichen Ansehens. Das ist eine freundliche Formulierung eines – in Zahlen gemessen – eher dramatischen Befundes.

Es gibt viel Kritik am Zustand unseres politischen Systems – manche berechtigt, manche nicht. Der besorgniserregendste Befund aller Untersuchungen aus der jüngeren Vergangenheit ist, dass genau das, was zum Funktionieren einer modernen, demokratischen, freiheitlichen Gesellschaft am dringendsten notwendig ist, am stärksten verloren gegangen ist – nämlich Vertrauen. Dabei tröstet mich nicht, dass dieser Vertrauensverlust keineswegs exklusiv die politische Klasse betrifft. Zu den Ungenauigkeiten der Diskussion gehört auch der zutreffende Hinweis, wir hätten es mit einem dramatischen Vertrauensverlust gegenüber politischen Institutionen zu tun. Wir haben es nämlich mit einem dramatischen Vertrauensverlust gegenüber nahezu allen Institutionen zu tun. Das macht den Befund nicht besser! Mir fällt keine Institution in Deutschland ein – von Feuerwehr und ehrenamtlichen Katastrophenhelfern einmal abgesehen –, die sich eines uneingeschränkten Vertrauens erfreut: die Gewerkschaften, die Kirchen, der Sport, die Wirtschaft, von den Banken gar nicht zu reden! Wo immer wir hinschauen, finden wir einen massiven Vertrauensverlust vor. Mich tröstet es natürlich nicht, dass die Politik hier keineswegs exklusiv betroffen ist, schließlich ist damit genau der Bereich in besonderer Weise betroffen, der – wiederum nicht exklusiv – für die Erledigung der ihm übertragenen Aufgaben kaum etwas anderes so sehr benötigt wie genau dieses Vertrauen.

Nun ist die Demokratie glücklicherweise kein System, das die Herbeiführung verbindlicher Entscheidungen auf Vertrauensvorschuss begründet. Vielmehr bindet sie Einfluss oder gar Macht an mehrere Voraussetzungen, weil sie sich zu einem prinzipiellen und unbegrenzten Vertrauen gegenüber Amts- oder Machtinhabern gerade nicht in der Lage sieht. Die erste Voraussetzung für die Übernahme einer solchen Macht- oder Amtsposition ist die Legitimation durch Wahlen. Eine andere Legitimation gibt es in der Demokratie nicht. Zweitens: Auch wenn dieser Nachweis geführt werden kann, wird damit das Amt nicht auf Lebenszeit vergeben, sondern für einen vergleichsweise eng befristeten Zeitraum. Und drittens: Selbst innerhalb dieses eng befristeten Zeitraums wird niemals jemandem alle Macht gleichzeitig übertragen. Sie muss sich stets durch andere, wiederum legitimierte Macht- und Einflussfaktoren kontrollieren und relativieren lassen.

Das ersetzt jedoch nicht das Vertrauen, das gerade demokratische Institutionen für die überzeugende Wahrnehmung ihrer Aufgaben zwingend brauchen. Wenn es also einen massiven Vertrauensverlust gibt, dann empfiehlt es sich sehr, ihn auch ernst zu nehmen, – umso mehr, als wir es hier nicht mit einer Momentaufnahme zu tun haben, sondern mit einem sich seit Jahren fortsetzenden Veränderungsprozess. Wir reden nicht über eine vorüberziehende Schlechtwetterfront, sondern über Wolken, die seit bemerkenswert langer Zeit stabil über dem System hängen und nicht nur die Wahrnehmung, sondern auch die Funktionsbedingungen verdüstern.

Dass Demokratien nicht über alle Anfechtungen erhaben sind, dass sie scheitern können, dass sie ausbluten oder erodieren können, dafür gibt es zahlreiche Beispiele – besonders eindrucksvolle in unserer eigenen Geschichte: Der erste ernsthafte Versuch, in Deutschland Demokratie zu praktizieren, war mit der Auflösung der Weimarer Republik und mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus nach nur 14 Jahren zu Ende. Die Historiker sind sich darin einig, dass alle komplexen historischen Veränderungen vielfältige Ursachen haben. Die wichtigste einzelne Ursache aber war das mangelnde Engagement der Demokraten gegen diejenigen Fanatiker von rechts wie links, die mit diesem demokratischen System nichts oder wenig zu tun haben wollten. Und diejenigen, die nie ganz davon überzeugt waren, dass dieses politische System wirklich einem eigenen Gestaltungswillen und nicht einer Auflage der Siegermächte entsprach, hatten sich von diesem System innerlich relativ schnell verabschiedet. Sie waren nicht dagegen. Es war ihnen einfach nicht wichtig genug.

Wir – und damit meine ich diejenigen, die in Parlamenten, Parteien, Regierungen oder Verwaltungen politische Verantwortung ganz unmittelbar wahrzunehmen haben, aber auch all jene, die eine Verantwortung für das Funktionieren einer lebendigen Demokratie tragen – müssen uns damit auseinandersetzen, dass in der Politik kaum eine andere Aufgabe schwieriger zu lösen ist, als für eine Demokratie im Normalzustand Leidenschaft zu entwickeln. Eine funktionierende Demokratie ist eine eher langweilige als begeisternde, täglich ansteckende, Euphorie stiftende Veranstaltung. Darin liegt für mich auch eine von vielen möglichen Erklärungen, warum sich viele engagierte Bürgerrechtler der DDR nach dem Fall der Mauer so schnell wieder in zivile Tätigkeiten zurückgezogen haben. Es war zwar nicht genau der Zustand eingetreten, den sie haben wollten, aber zumindest so etwas ähnliches. Und der Normalzustand, in dem sich Deutschland seither befindet, der ist für das Entfachen großer Leidenschaften wenig geeignet. Da ist der Sturz von Diktaturen schon die spannendere Herausforderung. Wie also geht eine Demokratie, die im Ganzen offenkundig reibungslos funktioniert, mit dem Motivationsproblem eines Normalzustands um? – Das ist eine große Aufgabe für die Politik und für die politische Bildung.

Es gibt in Deutschland eine stabile, hohe, unangefochtene Zustimmung zur Demokratie als Staatsform, aber eine ständig abnehmende Zustimmung zu den Institutionen, die dieses System bedienen. Alle Umfragen der letzten 20 Jahre zeigen, dass die Zustimmung zur Demokratie als Staatsform stabil bei drei Viertel bis vier Fünftel aller Befragten liegt. Die Frage nach Alternativen zur Demokratie ist demoskopisch fast nicht messbar, so groß ist der Vorsprung in der Wahrnehmung des Systems Demokratie gegenüber anderen. Umso auffälliger ist aber auch die Diskrepanz zu den niedrigen Zustimmungsraten, die es für Regierungen wie für Parlamente und schon gar für politische Parteien gibt.

Auch eine kürzlich veröffentlichte Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung kommt auf eine Zustimmungsquote für die Demokratie von mehr als 80 Prozent und einer Zustimmung zu politischen Parteien von etwa 16 Prozent. Seit geraumer Zeit hat sich in diesem Zusammenhang eine These festgesetzt, die ich zwar für verständlich, aber dennoch für falsch halte – nämlich, dass diese Entwicklung der Nachweis einer ausgeprägten Politikverdrossenheit sei. Man könnte mit mindestens ähnlicher Plausibilität aus dieser Diskrepanz einen bemerkenswerten Zuwachs an Urteilsvermögen schließen. Oder man könnte darin einen eindrucksvollen Nachweis des Erfolgs politischer Bildung erkennen – dass nämlich die gleichen Leute, die das politische System, so wie es konzipiert ist, für völlig unstreitig halten, sich dennoch weigern, jeden politischen Entscheidungsvorgang, jeden politischen Amtsträger, jede politische Institution gewissermaßen für generell gerechtfertigt zu erklären. Man könnte auch fragen: Ist es nicht ein Nachweis für politisches Urteilsvermögen, dass die große Mehrheit unserer Gesellschaft mit nahezu jedem konkreten politischen Vorgang mehrheitlich große Probleme hat und sich sogar konsequent weigert, irgendeiner Institution prinzipiell mehrheitlich Zustimmung zu signalisieren, ohne auf die Idee zu kommen, wegen dieses täglichen Frustes das gesamte System für marode und überholt zu erklären? Ich kann jedenfalls dieser Diskrepanz zwischen Systemakzeptanz und Politikkritik doch manches abgewinnen. Zudem halte ich es auch für die wichtigste Voraussetzung, um der Krise, die es zweifellos gibt, mit Erfolg zu begegnen.

Ich will noch einen dritten Aspekt aufgreifen: Zu den auffälligeren Veränderungen der jüngeren Entwicklung in Deutschland und Europa in den vergangenen 20 bis 25 Jahren gehört auch ein deutlich gewachsenes Partizipationsbedürfnis. Die Menschen wollen heute an den Entscheidungen, von denen sie betroffen sind, beteiligt sein. Und sie haben den Eindruck, dass dies nicht oder nicht in hinreichendem Maße geschieht. Ein Teil der kritischen Position gegenüber Regierungen, Parlamenten und Parteien liegt genau in diesem, wenn vielleicht nicht Alleinvertretungsanspruch, dann doch zumindest Rundum-Vertretungsanspruch dieser Institutionen begründet. Dem wird nun das ganz persönliche, subjektive Bedürfnis entgegensetzt, bei diesem oder jenem Thema mitwirken zu können. Das System aber bietet dies scheinbar oder tatsächlich nicht in der gewünschten Weise an. Und so haben wir folgerichtig seit geraumer Zeit eine Diskussion über repräsentative Demokratie auf der einen und plebiszitäre Partizipationsformen auf der anderen Seite. Nahezu jede denkbare Position auf der Skala wird in dieser Diskussion auch vertreten – von denen, die sagen: Fürchtet euch nicht, es bleibt alles, wie es ist, bis hin zu denen, die sagen: Jawohl, das System repräsentativer Demokratie hat sich verbraucht, es muss durch intelligente, im Einzelnen noch zu entwickelnde Formen partizipativer plebiszitärer Demokratie ersetzt werden. Ich halte weder die eine noch die andere Position für hinreichend durchdacht. Vielmehr glaube ich, dass die Suche nach Antworten zwischen diesen beiden Alternativen stattfinden muss. Aber dass wir danach suchen müssen, daran gibt es kein Zweifel.

Im Zusammenhang mit dem steigenden Partizipationsbedürfnis gibt es zwei interessante Phänomene, die auch keineswegs unbedeutend sind, wenn man sich ernsthaft um alternative Entscheidungsmechanismen bemühen muss. Zum einen ist es der Punkt, dass von einer großen Mehrheit eine stärkere persönliche Beteiligung an politischen Entscheidungsprozessen als wünschenswert oder gar notwendig angesehen wird. Im realen Geschehen aber besteht oft kein Interesse daran, an möglichst vielen oder gar allen Entscheidungen beteiligt zu sein, sondern nur an bestimmten. Hier handelt es sich dann auffällig häufig um Entscheidungen zur Verhinderung von Entscheidungen, nicht zu deren Herbeiführung – gegen Kernkraft, Gentechnologie, Bau von Flughäfen oder Kraftwerken, Schließung von Bädern oder Verlegung von Bahnhöfen.

Die Konrad-Adenauer-Stiftung hat vor zwei, drei Jahren zu diesem Aspekt eine Untersuchung vorgelegt, bei der es einen aufschlussreichen Befund gab. Es ging damals um die Diskussion über den Neubau des Stuttgarter Bahnhofs. Drei Viertel der Befragten erklärten, dass sie sich – den Gegenstand selbst betreffend – persönlich für nicht besonders sachkundig hielten. Zugleich sagten von ihnen immer noch zwei Drittel, dass das keine Rolle spiele, man wolle trotzdem mitentscheiden. Das finde ich weder überraschend noch aufregend. Aufschlussreich finde ich, dass in der gleichen Untersuchung zwei Drittel der Befragten erklärten, dass politische Entscheidungen möglichst unabhängig von persönlichen Interessen getroffen werden sollen. Was nun ist der aufregende Befund? Es ist die Erkenntnis: Die Bereitschaft, sich politisch zu engagieren, steht und fällt mit dem persönlichen Interesse an einem Sachverhalt. Gleichzeitig aber erwarten die Menschen, dass die Politik von persönlichen Interessen möglichst frei sein muss. Wie bringt man das zusammen – schon gar als alternatives Politikmodell? In der wissenschaftlichen Literatur gibt es dafür inzwischen den schönen Begriff der „Vorgartendemokratie“. Die Bereitschaft, sich politisch zu engagieren sei außerordentlich groß, wenn es sich um Themen im Umfeld des eigenen „Vorgartens“ handele. Aber eben auch umgekehrt: Alles, was außerhalb des eigenen „Vorgartens“ stattfindet, ist in der Regel nicht mehr Gegenstand des persönlichen Partizipationsinteresses.

Es gibt aber noch einen zweiten interessanten Befund: Nie zuvor in der Menschheitsgeschichte, zu der zweifellos auch die Demokratiegeschichte gehört, haben Menschen mehr ihrer Interessen durch Dritte vertreten lassen als heute. Der moderne Zeitgenosse lässt seine rechtlichen Interessen durch Anwälte vertreten, seine Arbeitsplatz- und Einkommensinteressen durch Gewerkschaften, seine Lebensrisiken durch Versicherungen, seine Geld- und Anlageninteressen durch Banken. Nur wenn es um Politik geht, dann sagt er: Das kann ich selbst am besten beurteilen. Politik kann ich selbst, für alles andere habe ich Spezialisten. Ich bastle nicht mehr selbst an meinem Auto – und schon gar nicht gehe ich mit meiner Gesundheit auf der Basis von Nachbarschaftsempfehlungen um.

Souverän ist der Bürger, der sich vertreten lässt. Aber dieser, in immer mehr Sachverhalten durch Dritte vertretene Bürger möchte, wenn es um politische Sachverhalte geht, doch lieber selbst entscheiden. Das allerdings mit der wichtigen prinzipiellen Einschränkung: wenn es ihn selbst betrifft.

Auf der Basis einer solchen allgemeingesellschaftlichen Befindlichkeit müssen Parteien geradezu ein miserables Image haben, denn sie sind gewissermaßen das organisierte Gegenmodell. In den letzten 25 bis 30 Jahren hat die eine der beiden ehemals großen deutschen Volksparteien, die SPD, die Hälfte ihrer Mitglieder verloren, die andere, die CDU, etwa ein Drittel. Der ADAC beispielsweise hat in Deutschland zwölfmal so viele Mitglieder wie alle politischen Parteien zusammen. Zugespitzt formuliert könnte man sagen, den Deutschen sind ihre Autos zwölfmal wichtiger sind als ihre Demokratie. Diese Gleichung geht natürlich nicht auf. Tatsache aber ist, wir stehen vor einer gewaltigen Gestaltungsaufgabe, die zweifellos den Status Quo nicht unter Denkmalschutz stellen darf. Denn die innere Legitimation einer demokratischen Ordnung hängt nicht allein vom Nachweis ihres formalen Funktionierens ab, sondern auch von ihrer öffentlichen Akzeptanz.

Wir erleben dieser Tage in Ägypten und Brasilien, was geschieht, wenn demokratisch gewählten Regierungen diese gefühlte Akzeptanz der Bevölkerung abhanden kommt. Es gibt hierfür keine Patentrezepte und auch keinen genialischen Befreiungsschlag, selbst, wenn man sich das erhofft. Trotz allem aber sind große Themen zu bewältigen. Dazu gehört beispielsweise das, was uns in der letzten Legislaturperiode sehr viel mehr befasst hat, als uns allen lieb war: die Dauerturbulenzen innerhalb der Europäischen Gemeinschaft, verbunden mit den Finanzierungskrisen in immer mehr Mitgliedstaaten. Das ist sicher kein Thema, das politische Begeisterung hervorruft – und auch den erhofften, genialischen Befreiungsschlag gibt es eben nicht.

Heribert Prantl, der Chefkommentator der Süddeutschen Zeitung, hat vor einiger Zeit einmal darauf hingewiesen, dass die öffentliche Lust auf eine alexandrinische, knotenzerhauende Politik eine undemokratische Lust sei und hinzugefügt: „… Ein Demokrat haut nicht schnell zu, sondern nestelt herum. Er lässt nicht die Fetzen fliegen, sondern versucht, die Knoten zu lösen.“ Das jedoch gelingt meistens nicht, denn in der Regel sind die Knoten zu dick – und oftmals ist auch unklar, welchen von vielen Knoten es denn genau zu durchtrennen gilt.

Hinzu kommt, dass in Zeiten der Globalisierung die Entscheidungsstrukturen, nicht nur die politischen, auch die ökonomischen und technologischen, immer stärker aus den vertrauten Regelsystemen der Nationalstaaten herauswachsen. Jedem Versuch, den vertrauten Kompetenzrahmen einzuhalten, steht der Verdacht mangelnder Problemadäquanz entgegen. Und jede Suche nach demokratisch legitimierten Verfahren außerhalb des Regelsystems stößt auf eine terra incognita – immer verbunden mit dem Hinweis, dass es der Europäischen Union an einer Legitimation fehle, die ihre Mitgliedsstaaten in den letzten Jahrhunderten jede für sich selbst aufgebaut und etabliert haben.

Hier wird allerdings  zweierlei übersehen: Erstens, die Europäische Union ist kein Staat. Sie ist eine Gemeinschaft von Staaten, die sich entschieden haben, immer mehr ihrer Zuständigkeiten auf diese Gemeinschaft zu übertragen, weil sie sich gemeinsam wirkungsvoller wahrnehmen lassen. Und zweitens gibt es keine internationale Organisation, die es hinsichtlich demokratischer Legitimation mit der Europäischen Union aufnehmen könnte. Nirgendwo sind wir außerhalb von Nationalstaaten – mit Blick auf demokratische Anforderungen an Legitimation, Gewaltenteilung, Kontrolle von politischer Macht – auch nur annähernd so weit gediehen wie innerhalb der Europäischen Union. Außerhalb Europas wird die Europäische Union interessanterweise als das einzig ernsthafte Modell der intelligenten Neuordnung von Nationalstaaten in Zeiten der Globalisierung debattiert. Bei uns ist die gleiche Versuchsanordnung eher unpopulär.

Es hilft nichts, wir müssen die Krise ernst nehmen. Darunter ist zu verstehen, dass die Krisensymptome weder banalisiert noch dramatisiert werden dürfen. Die Diskussion über die Krise der Demokratie ist genau so alt wie der Demokratiebegriff selbst. Ein Großteil der griechischen Philosophie wäre ohne diese Kritik wohl gar nicht entstanden. Und seither begleitet uns dieses Geschwisterpaar: die immer wieder veränderte Vorstellung von dem, was der Mindeststandard einer Demokratie sei, gepaart mit der regelmäßigen Kritik daran, dass das, was wir in der Realität vorfänden, sicher nicht ausreiche.

Es bleibt also eine dauernde Herausforderung für Politik und politische Bildung – beide haben ein gemeinsames Interesse, aber zwei sehr unterschiedliche Rollen: Das, was handelnde Politiker vortragen können und müssen, kann ihnen die politische Bildung weder abnehmen, noch muss sie es in jeden Falle mittragen. Umgekehrt kann die Politik als operatives Handlungsfeld sich nicht mit der intelligenten Beschreibung von Zusammenhängen begnügen. Sie muss Entscheidungen treffen. Und wenn es denn ein herausragendes typisches Merkmal von Entscheidungssituationen in der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts gibt, dann ist es die Erfahrung, dass bei politischen Entscheidungen in einer Öffentlichkeit, die diesen Entscheidungen regelmäßig mit sich wechselseitig ausschließenden Erwartungen begegnet, das einzig sichere Ergebnis allgemeine Enttäuschung sein wird.

Unter diesen Bedingungen wünsche ich uns allen gemeinsam einen fröhlichen Bundestagswahlkampf 2013. Dem Ergebnis sehen wir mit der Gelassenheit von Demokraten entgegen und erfreuen uns dann gelegentlich an dem Umstand, dass genau das in Deutschland inzwischen selbstverständlich ist: Alle paar Jahre wird politisch neu sortiert – oder wie es George Bernard Shaw formuliert hat: „Die Demokratie ist das Verfahren, das garantiert, dass wir nicht besser regiert werden, als wir es verdienen.“.


Prof. Dr. Norbert Lammert
Präsident des Deutschen Bundestages

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Rede zur Verleihung Genc-Versöhnungspreises

Es gibt Preise, die man besonders gerne vergibt und bei denen man sich insgeheim wünscht, es müsste sie nicht geben. Preise für Demokratie, Zivilcourage, für Toleranz, für Versöhnung - all das möchte man in einer modernen liberalen aufgeklärten Gesellschaft für selbstverständlich halten - und weiß, dass es nicht selbstverständlich ist. Die Demokratie ist nicht selbstverständlich und Zivilcourage ganz offensichtlich auch nicht. Und Toleranz wie Versöhnung lassen sich mit Abstand leichter einfordern als leben. Weil es so ist, habe ich die Schirmherrschaft für diese heutige Veranstaltung besonders gern übernommen, auch um deutlich zu machen, dass jedenfalls dieser deutsche Staat unverrückbar und unwiderruflich an den Prinzipien und Orientierungen festhält, die nicht immer selbstverständlich, aber offensichtlich unverzichtbar sind.

Wir erinnern heute und in diesem Jahr an Ereignisse, die, so unbegreiflich sie auch gewesen sind, sich überhaupt nur erklären lassen durch den Verlust oder die bewusste Auseinandersetzung eben genau dieser scheinbar selbstverständlichen Orientierungen und Prinzipien.

Vor 20 Jahren hat der entsetzliche Brandanschlag in Solingen stattgefunden; ich will dem, was der Oberbürgermeister dazu und zur Bedeutung des Ereignisses über die unmittelbar betroffene Stadt hinaus gesagt hat, nichts hinzufügen. Wir erinnern in diesem Jahr aber auch an den 80. Jahrestag der Auflösung der ersten deutschen Demokratie und die Machtübernahme der Nationalsozialisten. Zwischen diesen beiden Ereignissen besteht kein unmittelbarer Zusammenhang. Aber dass diese beiden Ereignisse gewissermaßen ein heimliche oder man sollte wohl besser sagen, eine unheimliche braune Linie miteinander verbindet, das lässt sich auch schwerlich übersehen.

Die erste deutsche Demokratie ist nicht an wirtschaftlichen Problemen gescheitert, die es zweifellos gab, auch nicht an manchen gut gemeinten, aber nicht wirklich gelungenen Regelungen der Verfassung. Sie ist im Kern gescheitet am fehlenden Engagement von Demokraten, an der Gleichgültigkeit gegenüber dem maßlosen Anspruch wildgewordener Fanatiker und Extremisten. Wir Deutschen haben die historische Lektion, die sich aus der Erfahrung von Extremismus und Gewalt und ihrer verheerenden Folgen nicht nur für das eigene Land, sondern für Millionen Menschen in unseren Nachbarstaaten und weit darüber ergeben haben, wir haben diese historischen Lektionen gelernt, aber wir haben die Gefahren nicht ein für allemal beseitigt, die sich zumal in einer freiheitlichen Gesellschaft immer wieder ergeben können. Und wir wissen natürlich auch, dass wir in einem freien Land nicht verhindern können, dass Betonköpfe, Dummköpfe, Fanatiker und Extremisten sich mit ihren Auffassungen auch in der Öffentlichkeit zu Wort melden, durch die Straßen ziehen mit extremistischen ausländerfeindlichen Parolen. Das kann ein freiheitlicher Staat letztlich nicht verhindern. Aber wir können und müssen verhindern, dass solche Leute unsere Straßen und Plätze dominieren und das Bild unseres Landes prägen. Wir müssen es verhindern, weil es unsere Aufgabe, unsere gemeinsame Aufgabe als Demokraten, ist, deutlich zu machen, dass das mit der Mehrheit unseres Landes nichts aber auch überhaupt nichts zu tun hat.

Im Übrigen ist diese Veranstaltung eine gute Gelegenheit, einmal mehr daran zu erinnern, dass die Qualität einer Demokratie eben nicht daran zu erkennen ist, dass Mehrheiten entscheiden, sondern dass die Qualität und Substanz einer lebendigen Demokratie daran zu erkennen ist, wie sie mit Minderheiten umgeht. Eine Demokratie basiert selbstverständlich auf der Regel, dass Mehrheiten darüber entscheiden, was verbindlich ist. Aber das zeichnet eine Demokratie nicht aus. Was die Substanz eines lebendigen demokratischen Gemeinwesens auszeichnet, ist die Unantastbarkeit der Überzeugung, dass Minderheiten eigene Rechtsansprüche haben, über die Mehrheiten nicht verfügen können. Die heutige Veranstaltung ist eine besondere Gelegenheit, an diese Zusammenhänge zu erinnern und gleichzeitig Persönlichkeiten stellvertretend für andere auszuzeichnen, die diese Einsichten leben.

Versöhnung, Hoffnung: Unter diesen Aspekten, jedenfalls unter diesen Aspekten sind die Ereignisse von Solingen ebenso erschreckend wie ermutigend. Erschreckend, dass so etwas in Deutschland überhaupt möglich gewesen ist. Und ermutigend, weil von der unglaublichen Geste der unmittelbar Betroffenen angefangen bis zum erkennbaren Aufbäumen einer verzweifelten, irritierten, erschütterten Öffentlichkeit dieses Land keinen Zweifel daran gelassen hat, wie es mit solchen Ereignissen umgehen muss und umgehen will. Deswegen trifft es sich besonders gut, dass der Genc-Preis diese Aspekte der Versöhnung und der Hoffnung in den Mittelpunkt der Preisverleihung stellt und mit den heute ausgezeichneten Preisträgern deutlich macht, dass beides nötig, aber auch beides möglich ist.

Ich gratuliere den Preisträgern ganz herzlich, ich verneige mich vor den Opfern sowohl des damaligen Solinger Brandanschlages wie der unglaublichen Mordserie, mit deren politischer Aufarbeitung sich der Parlamentarische Untersuchungsausschuss des Bundestages in einer – wie ich glaube – exemplarischen Weise auseinandergesetzt hat. Und mein tiefer Respekt gilt insbesondere Ihnen, Frau Genc, und all denjenigen, die unter dem Eindruck einer unmittelbaren persönlichen Betroffenheit, uns mit überwältigenden Gesten der Versöhnungsbereitschaft Hoffnung gemacht haben.


Prof. Dr. Norbert Lammert
Präsident des Deutschen Bundestages

Parlament

Rede zur Gedenkveranstaltung 60. Jahrestag des Aufstandes vom 17. Juni 1953 im Deutschen Bundestag

Guten Morgen, meine Damen und Herren!
Sehr geehrter Herr Bundespräsident!
Frau Bundeskanzlerin!
Herr Vizepräsident des Bundesrates!
Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichts!
Exzellenzen!
Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Verehrte Gäste!

Es ging um nichts weniger als um die Freiheit, damals vor 60 Jahren in der DDR. „Kollegen, reiht euch ein, wir wollen freie Menschen sein!“, dieser Ruf der Bauarbeiter von der Stalinallee in Ostberlin ist der Kern der Botschaft des Aufstandes, der unter der schlichten Bezeichnung „17. Juni“ in die Geschichte einging. Die historischen Fotoaufnahmen, die zu Beginn der Protestaktionen gemacht wurden, zeigen fröhliche Gesichter voller Hoffnung, fast Unbeschwertheit. Sie erinnern an ein Zitat von Vaclav Havel: Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht.

Damals ist es nicht gut ausgegangen. Der 17. Juni 1953 ist blutig verlaufen. Die Machthaber des Arbeiter- und Bauernstaates, die keine in freien Wahlen erworbene Legitimation besaßen, wollten nicht hören, was die Menschen ihnen zu sagen hatten. Sie haben die Stimme der Freiheit mit sowjetischen Panzern und Gewalt zum Schweigen gebracht.

Heute gedenken wir der mutigen Frauen und Männer, die damals der Staatsgewalt zum Opfer fielen, die ihr Leben ließen oder nach der Zerschlagung des Aufstandes verhaftet und zu langen Gefängnis- oder Zuchthausstrafen verurteilt, die verleumdet, kriminalisiert oder sozial benachteiligt wurden. Wir denken heute auch an jene, die keinen anderen Ausweg sahen, als ihre Heimat, ihre Familien, ihre Freunde zu verlassen und in den Westen zu fliehen. Bis zum Bau der Mauer 1961 stimmten so rund 2,7 Millionen Menschen mit den Füßen
ab. Man nannte es „Republikflucht“, und das war in einer angeblich demokratischen Republik ein Straftatbestand.

Dieser 17. Juni gehört zweifellos zu den Schlüsseldaten der jüngeren deutschen Geschichte, auch wenn er in seiner vollen gesamtdeutschen und europäischen Bedeutung noch immer nicht angemessen wahrgenommen wird. Er war der Beginn einer Reihe von Aufständen, in Budapest, Prag, Warschau, deren gewaltsame Niederschlagung Grundlage eines historischen Triumphes wurde. Die Ostdeutschen haben mit ihrem Mut ein stolzes Kapitel in der nicht allzu reichen Geschichte der Aufstands- und Freiheitsbewegungen unseres Volkes geschrieben. Die Geschichte des 17. Juni zeigt aber auch: Freiheitskämpfe verdienen nicht erst dann Respekt, wenn sie erfolgreich gewesen sind, sondern dann, wenn sie stattfinden. Deshalb sind unsere Gedanken und unsere Solidarität heute auch bei denen, die in diesen Tagen und Stunden dabei sind, für ihre Freiheit zu kämpfen, in Syrien, im Iran oder in Weißrussland, um nur einige Länder zu nennen.

Natürlich verfolgen wir die Ereignisse und Entwicklungen in der Türkei mit großer Aufmerksamkeit und besonderen Erwartungen, einem Land, das Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union führt. Im Übrigen müssen wir uns gelegentlich auch selbst kritische Fragen zu unserem Umgang mit Andersdenkenden, Minderheiten und Demonstranten stellen, jedenfalls gefallen lassen.

Auf den Zusammenhang zwischen der Volkserhebung 1953, den späteren Aufständen in Ungarn, der Tschechoslowakei und Polen und dem Fall der Mauer 1989 sowie der Wiedervereinigung unseres Landes wurde schon oft hingewiesen. Bezeichnenderweise war dieser Zusammenhang den Menschen in der DDR, die 1989 die friedliche Revolution vollbracht haben, kaum bewusst, was nicht zuletzt ein Ergebnis insoweit erfolgreicher staatlicher Propaganda war. Dass dieser Zusammenhang aber besteht, belegt die unfreiwillig komische Frage des damaligen Staatssicherheitsministers Erich Mielke im August 1989: „Bricht morgen der 17. Juni aus?“ Der 17. Juni ist 1989 nicht ausgebrochen, weil die Panzer damals gottlob in den Kasernen geblieben sind. Im Sommer und Herbst 1989 wurde aber vollendet, was 1953 mit dem Ruf des Volkes nach Freiheit
begann.

Während die DDR-Propaganda den 17. Juni zum faschistischen Putschversuch herabwürdigte und tabuisierte, beschloss der Bundestag schon wenige Wochen nach dem Aufstand, den 17. Juni als Tag der Deutschen Einheit zum Gedenktag zu erheben. Wie unterschiedlich der Umgang mit dem 17. Juni im Osten und im Westen war, hat Erhard Eppler auf eine treffende Weise einmal so zusammengefasst: Die Westdeutschen haben zwar gefeiert, aber nichts riskiert. Die Ostdeutschen haben etwas riskiert, aber nichts gefeiert.

Bald 25 Jahre nach der Einheit gelingt es uns heute hoffentlich besser, den 17. Juni aus gemeinsamer Perspektive zu betrachten und zusammen zu feiern, dass die Menschen im Osten damals etwas riskiert haben. Deshalb ist der 17. Juni ein herausragendes Datum unserer Geschichte, ein Tag, der, um auf Vaclav Havel zurückzukommen, damals zwar nicht gut ausging, aber gleichwohl Sinn hatte und seine Wirkung später entfaltet hat.

Was sagt uns dieses Datum heute? Welchen Sinn hat dieser Tag für uns, die wir die Freiheiten einer Demokratie als selbstverständlich empfinden? Es ist gut, dass wir die Demokratie als Normalzustand empfinden, weil das zeigt, dass Freiheit, Selbstbestimmung und Rechtsstaat für uns normal, also die Norm sind. Aber sie
sind eben nicht selbstverständlich.

Sehr geehrter Herr Bundespräsident, Sie wissen und sagen auch immer öffentlich, dass das so ist. Sie haben den Aufstand vom 17. Juni 1953 als 13-Jähriger persönlich miterlebt und ihn als ein „elektrisierendes Erlebnis“
beschrieben.

Was es damals bedeutete, einer Diktatur ausgeliefert zu sein, haben Sie und Ihre Familie persönlich bitter erfahren müssen. Auch deswegen können Sie über das große Thema Freiheit so überzeugend reden. Wir freuen uns, dass Sie heute aus diesem Anlass zu uns sprechen. Sie haben das Wort.

Parlament

„Verbranntes Wissen?“ Gedenkrede zum 80. Jahrestag der Bücherverbrennung an der Humboldt-Universität

„Nichts ist schwieriger und nichts erfordert mehr Charakter, als sich im offenen Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden und laut zu sagen: Nein!“
(Kurt Tucholsky)

Als am 10. Mai 1933 mitten in Berlin, der deutschen Hauptstadt, unter staatlicher Regie und Aufsicht 20.000 Bücher verbrannt wurden, darunter die Werke der bedeutendsten deutschen Schriftsteller und Publizisten, direkt neben der Staatsoper Unter den Linden, vor der Hedwigs-Kathedrale und gegenüber der Humboldt-Universität – ein bizarres Staatsschauspiel in der Kulisse der Berliner Repräsentationsbauten von Wissenschaft, Kunst und Kirche –, war das sogenannte Tausendjährige Reich gerade einmal hundert Tage alt. Damals hatte das neue Regime nach einem legalen Regierungswechsel innerhalb weniger Wochen beinahe alles durchdekliniert, was in den nächsten zwölf Jahren Orientierung sein würde: Rechtsbruch, Verfassungsbruch, Zivilisationsbruch.

Mit dem Weg in die nationalsozialistische Diktatur vor 80 Jahren verbindet sich eine Reihe von bedeutsamen Daten und Gedenktagen. An sie zu erinnern, ist nicht nur ein Zeichen politischer Kultur, es dient auch der Beobachtung von Herausforderungen und Risiken eines demokratischen Staates, die wir keineswegs ein für alle Mal hinter uns haben.

Unter den noch am 28. Februar, also am Tag nach dem Reichstagsbrand, über die „Verordnung zum Schutz von Volk und Staat“ in sogenannte Schutzhaft genommenen Literaten und Publizisten befanden sich Carl von Ossietzky, Erich Mühsam und Egon Erwin Kisch. Noch am selben Tag verließen Bertolt Brecht und Alfred Döblin Berlin. Mit der Machtübernahme war bereits Lion Feuchtwanger von einer Vortragsreise im Ausland nicht nach Berlin zurückgekehrt, ebenso Albert Einstein. Thomas Manns Exilzeit begann am 11. Februar, Heinrich Mann verließ am 21. Februar Deutschland, Kurt Tucholsky war bereits 1930 nach Schweden emigriert. Viele prominente Persönlichkeiten aus Politik, Wissenschaft und Kultur, aber auch Betroffene aller Bevölkerungsschichten, insbesondere deutsche Juden, folgten diesem Beispiel. Die Emigration aus Deutschland nach 1933 umfasste annähernd eine halbe Million Menschen; schätzungsweise 30.000 davon sind als aktive Regimegegner geflohen. Wissen lässt sich selbstverständlich nicht verbrennen – Überzeugungen auch nicht, Erkenntnisse lassen sich ebensowenig verbieten wie Irrtürmer. Allerdings hat sich Deutschland bis heute von diesem Exodus kulturell und wissenschaftlich nicht erholt.

Unter diesen Bedingungen fanden die Hitler zugesagten Neuwahlen zum Reichstag am 5. März 1933 statt, die den politischen Behinderungen und dem massiven Straßenterror zum Trotz der NSDAP mit 44 Prozent dennoch weniger und den Parteien der Linken mit einem Drittel der Stimmen mehr als erwartet einbrachten.

Das „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“, das als Ermächtigungsgesetz in die Geschichte eingegangen ist, zementierte schließlich am 23. März die nationalsozialistische Diktatur. Es wurde in einem Parlament verabschiedet, in dem die Mandate der KPD in einem offenen Verfassungsverstoß als nicht existent, als erloschen behandelt wurden, in einem Parlament, in dem die neuen Machthaber die Geschäftsordnung handstreichartig geändert hatten, um der NSDAP die nötige Mehrheit zu sichern, die sie selbst unter den Bedingungen der Wahl vom März 1933, die nach unserem Verständnis weder frei noch fair war, nicht erzielt hatte.

Weder die breite Öffentlichkeit noch die meisten Vertreter der Parteien und Verbände hatten die ganze Dimension und die weitreichenden Folgen des Gesetzes erkannt, das an Tragweite alle Ermächtigungen übertraf, die das Parlament jemals einer Regierung bewilligt hatte. Ohne jede parlamentarische Kontrolle war den Befugnissen der Reichsregierung künftig keine rechtliche Schranke mehr gezogen. Die Regierung, nicht das Parlament, war künftig befugt, Gesetze zu „erlassen“, die auch von der Verfassung abweichen konnten - und natürlich sollten. Dies bedeutete nicht weniger als das Ende des Rechtsstaats mit Folgen nicht nur für die staatliche Ordnung, sondern auch für das Leben jedes einzelnen Bürgers.

Im „Völkischen Beobachter“ lieferte zu dieser Zeit eine kleine Meldung eine Vorahnung davon, was in einem nie gesehenen Terrorsystem enden sollte. Diese kleine Meldung kündigte die Errichtung eines ersten Konzentrationslagers mit einem Fassungsvermögen für 5.000 Menschen in der Nähe von Dachau an, wo „ohne Rücksicht auf kleinliche Bedenken“ die kommunistischen, aber auch sozialdemokratischen Funktionäre untergebracht werden sollten.

Dieser Artikel in der Parteizeitung erschien am 21. März 1933, zwei Tage vor dem Ermächtigungsgesetz. An diesem sogenannten „Tag von Potsdam“ reichten sich in der Potsdamer Garnisonkirche die Republikgegner über dem Grab Friedrichs des Großen die Hand. Es war die symbolische Versöhnung einer am Kaiserreich orientierten konservativ-reaktionären Tradition mit der vermeintlich nationalsozialistisch-revolutionären Erneuerung. Diese beinahe operettenhafte Potsdamer Inszenierung ging dem tragischen Schauspiel in der Kroll-Oper am 23. März voraus. Hier folgte - schon unter der demonstrativen, doppelt symbolträchtigen Dekoration eines riesigen Hakenkreuzes auf der Stirnwand einer als Parlamentssaal ausstaffierten Opernbühne - der Auslieferung des Staates durch die konservativ-reaktionären Machteliten Ende Januar die Selbstaufgabe des Parlaments zugunsten der Regierung. Der neue Reichskanzler hatte den Reichstag noch unmittelbar vor der Abstimmung mit der unglaublichen Herablassung düpiert, sie – die Regierung – behalte sich „auch in Zukunft vor, ihn von Zeit zu Zeit über ihre Maßnahmen zu unterrichten oder aus bestimmten Gründen, wenn zweckmäßig, auch seine Zustimmung einzuholen“, verbunden mit der ausdrücklichen dreisten Begründung, „es würde dem Sinn der nationalen Erhebung widersprechen, wollte die Regierung sich für ihre Maßnahmen von Fall zu Fall die Genehmigung des Reichstags erhandeln oder erbitten“.

Das deprimierende Protokoll dieser Reichstagssitzung kann heute auch und gerade denjenigen als abschreckendes Beispiel für die mutwillige Zerstörung und Selbstaufgabe einer Demokratie dienen, die die damaligen Verhältnisse in Deutschland, wenn überhaupt, nur vom Hörensagen kennen. Staatshörigkeit und Legalitätsglaube, vage Zusicherungen und Versprechen, politische Einschüchterungen und brutale Drohungen brachten die Zustimmung der notwendigen, ohnehin manipulierten Zweidrittelmehrheit.

Bei der Abstimmung im Reichstag fehlten 107 Abgeordnete: sämtliche 81 Fraktionsmitglieder der KPD und auch 26 Abgeordnete der SPD, die bereits in Haft saßen oder sich aus berechtigter Angst um ihr Leben auf der Flucht befanden. Es ist das historische Verdienst der 94 verbliebenen sozialdemokratischen Abgeordneten, mit bewundernswertem persönlichem Mut der Repression widerstanden zu haben. Der Fraktionsvorsitzende der SPD, der Abgeordnete Otto Wels, sprach die letzten wirklich freien Worte im Deutschen Reichstag, der damals in seinem Parlamentsgebäude schon nicht mehr zusammentreten konnte und nach dieser Sitzung auch nicht mehr gebraucht wurde. Angesichts der Machtlosigkeit und des Verlustes an Freiheit reklamierte er für alle im Widerstand stehenden Deutschen nur mehr die Ehre, die offensichtlich mehr als eine Sekundärtugend ist. Auf sie, die Ehre, bezog sich auch der nach Österreich emigrierte Schriftsteller Oskar Maria Graf, als im Mai 1933 in über 50 deutschen Städten, weder zuerst noch zuletzt in Berlin -  auf Initiative der Deutschen Studentenschaft - die Bücher von mehr als 250 Autoren verhöhnt und auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden. „Diese Unehre habe ich nicht verdient“, hieß es in Grafs öffentlichem Aufschrei – weil er sich selbst nicht auf der Liste der verbotenen Bücher befand.

Joseph Roth hatte schon ein Jahr vor diesem Akt der Barbarei gegenüber Freunden geäußert: „Sie werden unsere Bücher verbrennen und uns damit meinen.“ In seinem Fall meinte dies zweierlei: den Intellektuellen und den Juden. Nur eine knappe Woche nach dem Ermächtigungsgesetz, am 1. April 1933, zeigte sich die menschenverachtende Rassenideologie in einer von den neuen Machthabern gesteuerten und reichsweit durchgeführten Aktion gegen die deutschen Juden. Der Boykott jüdischer Geschäfte, der von nackter Gewalt auf offener Straße begleitet war, und das Gesetz „zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“, mit dem Beamte nicht arischer Abstammung in den Ruhestand versetzt wurden, bildeten das unübersehbare Fanal einer brutalen Ausgrenzung, die schließlich in die Vernichtungslager führen sollte.

Die Auflösung der Weimarer Demokratie hat nicht erst am 30. Januar begonnen. Die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler war eben nicht der Anfang vom Ende, sondern der Abschluss einer langen politischen Agonie, die, als nationale Erhebung gefeiert, in den nationalen Untergang führte. Zu dieser fast unbegreiflichen Entwicklung beigetragen hat nicht zuletzt ein erschreckender Mangel an Einsicht und Zivilcourage, auch bei prominenten Vertretern der Wirtschaft, der Medien, der Kirchen wie der Universitäten. Die Weimarer Zeit kennzeichnete in Politik, Verwaltung, Justiz und Kultur ein gewiss facettenreiches, in seinem Kern aber oft antidemokratisches Denken. Das machte auch und gerade vor den Universitäten und der Wissenschaft nicht halt, im Gegenteil. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat vor einigen Jahren in einer Ausstellung dokumentiert, dass viele Wissenschaftler in Deutschland keineswegs erst hätten gleichgeschaltet werden müssen. Vielmehr habe sich „die Mehrheit geradezu aufgedrängt, nationalsozialistische Politik zu gestalten, und das häufig schon in den Zwanzigerjahren, ganz ohne Not,“ so Dieter Hüsken, der für die DFG die Ausstellung vorbereitet hatte.

Die Humboldt-Universität ist dafür ein prominentes Beispiel. Mit der denkwürdigen Antrittsvorlesung Alfred Baeumlers begann am Morgen des 10. Mai 1933 die  Inszenierung der Bücherverbrennung. Der neu berufene Ordinarius für Philosophie und politische Pädagogik der Friedrich-Wilhelms-Universität rechtfertigte darin nicht nur die wissenschaftsfeindliche Gesinnung der NS-Studenten, sondern auch die bevorstehende Bücherverbrennung. Während er in dem überfüllten Hörsaal seine unsägliche, jedem wissenschaftlichen Anspruch hohnsprechende, von jedem Ethos freie Rede mit dem Titel „Hochschule, Wissenschaft und Staat“ hielt, standen hinter ihm drei Studenten mit Hakenkreuzfahne und – wie die meisten anderen Studenten im Raum – in SA-Uniform. 

„Eine neue Epoche beginnt“, verkündete damals der ebenso begeisterte wie verblendete Philosoph und politische Pädagoge. „Die Epoche der Seelenbindung und Seelenführung liegt hinter uns. Wir erkennen keine Macht an, die geistig und politisch zugleich ist, wir haben nicht einen Papst, wir haben einen Führer. Wer nicht mit uns leben und sterben kann, der wird nicht als Ketzer verbrannt. Er bleibt unbehelligt, wenn er uns nicht angreift. Hinter uns liegt aber auch die Epoche der Neuzeit, die Epoche der Gewissensfreiheit, des Individualismus.“

Diese „Vorlesung“ weist in Inhalt und Diktion erschreckende Parallelen zu der Rede auf, die Joseph Goebbels am späten Abend zum gleichen Anlass auf dem Opersplatz gehalten hat: „Das Zeitalter eines überspitzten jüdischen Intellektualismus ist zu Ende gegangen, und die deutsche Revolution hat dem deutschen Wesen wieder die Gasse freigemacht. Diese Revolution kam nicht von oben, sie ist von unten hervorgebrochen. Sie ist deshalb im besten Sinne des Wortes der Vollzug des Volkswillens. (…) Hier sinkt die geistige Grundlage der Novemberrepublik zu Boden. Aber aus den Trümmern wird sich siegreich erheben der Phönix eines neuen Geistes, den wir tragen, den wir fördern, und dem wir das entscheidende Gewicht geben. (…) Das Alte liegt in den Flammen, das Neue wird aus der Flamme unseres eigenen Herzens wieder emporsteigen.“

Für die Dichter-Abteilung der Preußischen Akademie der Künste hatte Gottfried Benn bereits zuvor einen Fragebogen entwickelt, mit dem die Loyalität der Mitglieder „unter Anerkennung der veränderten geschichtlichen Lage“ geprüft werden sollte, sowie ihre Bereitschaft, auch weiter an den „nationalen kulturellen Aufgaben“ mitzuwirken. Am 13. Mai veröffentlichte das Börsenblatt für den deutschen Buchhandel auf seiner Titelseite eine Liste mit Namen von zwölf prominenten Autoren (u.a. Tucholsky, Remarque, H. Mann, Feuchtwanger), „die für das deutsche Ansehen als schädigend zu erachten sind“. Der Vorstand verband seinen Hinweis ausdrücklich mit der Erwartung, „dass der Buchhandel die Werke dieser Schriftsteller nicht weiter verbreitet“.

Anlässlich des 10. Jahrestages der Bücherverbrennung bemerkte Thomas Mann in einer an die deutschen Hörer gerichteten BBC Ansprache, „dass unter allen Schandtaten des Nationalsozialismus, die sich in so langer, blutiger Kette daran reihten, diese blödsinnige Feierlichkeit der Welt am meisten Eindruck gemacht hat und wahrscheinlich am allerlängsten im Gedächtnis der Menschen fortleben wird“.  Das war 1943. Damals konnte Thomas Mann noch nicht wissen, dass längst über „diese blödsinnige Feierlichkeit“ hinaus monströse Menschenverbrennungen begonnen hatten.

Fünf Jahre später 1948, nach dem Ende des 2. Weltkrieges, stellt der Schriftsteller und Literaturkritiker Hans Mayer erstmals die Frage der Über- oder Unterschätzung der Bücherverbrennung: „Fragen wir ruhig, ob man diese ganze Bücherverbrennung des 10. Mai 1933 nicht allzu wichtig nimmt. […] Gegenüber Auschwitz und Maidanek und Oradour und Lidice, gegenüber Buchenwald und Dachau, gegenüber der Art, wie man die Leute des 20. Juli zu Tode brachte oder […] der Art, wie man die Geschichte vom ,Jud Süß‘ auf die Leinwand brachte, verblaßt das Grauen, das damals, im Mai 1933, noch als Ahnung oder Vorahnung die außerdeutsche Welt erfaßte. Das war damals nur ein Schauspiel […]. Man verbrannte ,nur‘ Bücher, nicht aber die Autoren.“ Mayer wirft diese Fragen, diese Überlegungen auf, kommt aber zu dem Schluss: „Weil man [...] in jenem Ereignis die [...] Gesamtfunktion des Faschismus [...] sichtbar machen kann, ist es richtig, auch heute noch jener Zeremonie auf dem Berliner Opernplatz oder dem Frankfurter Römerberg oder jener anderen Holzstöße in deutschen Städten zu gedenken.“

Erich Kästner, der Ende der Zwanziger-, Anfang der Dreißigerjahre durch seine populären Romane längst zu den bekannten, prominenten Autoren gehörte, aber auch zu den kritischen Intellektuellen, die folgerichtig auf der Liste der verfemten Autoren standen, und persönlich bei der Verbrennung seiner Bücher am 10. Mai in Berlin dabei war, hat am 10. Mai 1958 in Hamburg bei der Tagung des PEN Deutschland anlässlich des 25. Jahrestages der Bücherverbrennung eine denkwürdige Rede gehalten, die noch heute regelmäßige Lektüre verdient. In dieser Rede sagt Erich Kästner: ,Die Ereignisse von 1933 bis 1945 hätten spätestens 1928 bekämpft werden müssen. Später war es zu spät. Man darf nicht warten, bis der Freiheitskampf Landesverrat genannt wird. Man darf nicht warten, bis aus dem Schneeball eine Lawine geworden ist. Man muss den rollenden Schneeball zertreten. Die Lawine hält keiner mehr auf ...„.

Das ist nicht nur in die Vergangenheit gesprochen, sondern in die Gegenwart. Auch heute, unter gänzlich anderen Bedingungen, gibt es demonstrative Intoleranz, hysterische Parolen, gedankenlose Vergleiche, menschenverachtende Pöbeleien, Schmierereien, persönliche Verunglimpfungen. Man muss den rollenden Schneeball stoppen, die Lawine hält keiner mehr auf.

32 Jahre nach den nationalsozialistischen Studenten verbrennen christliche Studenten wieder Bücher von Kästner – 1965 in den Düsseldorfer Rheinauen. Jede Anspielung auf 1933 weisen sie von sich. Und sogar angemeldet haben sie ihre Aktion, die der Oberbürgermeister der Stadt als Dummenjungenstreich herunterspielt. “Jedermann„, so reagiert Kästner, “jedermann hat das Recht, Literatur, die er missbilligt im Ofen oder auf dem Hinterhof zu verbrennen. Aber ein öffentliches Feuerwerk veranstalten, das darf er nicht. Auch nicht, wenn er ein entschiedener Christ ist. Auch nicht, wenn es die Polizei erlaubt. Auch nicht, wenn der Oberbürgermeister nichts dabei findet. Nicht einmal, wenn der Oberbürgermeister Sozialdemokrat ist.„

Am 10. Mai 1933 gründeten die Nationalsozialisten die Deutsche Arbeitsfront als Einheitsverband der Arbeitnehmer und Arbeitergeber mit dem Vermögen der zerschlagenen Gewerkschaften. Das Streikrecht ist zugleich abgeschafft. Bis zum Sommer des gleichen Jahres waren die verbliebenen Strukturen und Institutionen einer ehemals rechtstaatlichen, demokratischen Ordnung mit geradezu diabolischer Präzision durch Auflösung und Gleichschaltung freier Verbände und Gewerkschaften beinahe rückstandsfrei beseitigt.

80 Jahre sind inzwischen seit der Auflösung und Zerstörung der ersten parlamentarischen Demokratie in Deutschland vergangen. Der erste Versuch, in Deutschland Demokratie zu praktizieren, hat gerade einmal 14 Jahre überstanden. Nach grausamen, unvorstellbaren, entsetzlichen 12 Jahren war die Naziherrschaft zu Ende - und mit ihr das Deutsche Reich als selbstständiger Staat zerstört, politisch und militärisch gescheitert, wirtschaftlich ruiniert und moralisch diskreditiert.

Die heutige politische Stabilität der Bundesrepublik Deutschland und ihr bemerkenswert großes Ansehen in der Welt war, wie das Scheitern der Weimarer Demokratie, weder zufällig noch zwangsläufig. Zur demokratischen Erinnerungskultur gehört, das eine genauso wenig für selbstverständlich zu halten wie das andere. Für beides gibt es Ursachen und gibt es Verantwortliche, nicht nur in den Parlamenten, aber hier ganz besonders.

Kein Land kann aus seiner Geschichte aussteigen, so wenig, wie irgendjemand aus seiner Biografie aussteigen kann, und je größer die Verirrungen, Verfehlungen oder gar Verbrechen der jeweiligen Geschichte gewesen sind, desto hartnäckiger prägen sie die Wahrnehmung der Zeitgenossen und der Nachbarn. Kein Land der Welt hat mehr Gründe für einen selbstkritischen Umgang mit der eigenen Geschichte als wir. Sie hat freilich weder erst 1933 begonnen, noch war sie 1945 zu Ende. Viele ausländische Beobachter - Publizisten, Historiker, Diplomaten - haben mit Respekt, manchmal Bewunderung, die politische Erinnerungskultur gewürdigt, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik Deutschland entwickelt und durchgesetzt hat.

Jorge Semprún, der große spanische Autor, Häftling in Buchenwald, später Widerstandskämpfer gegen das Franco-Regime in Spanien, kurzzeitig nach Herstellung der Demokratie Kultusminister seines Landes, hat in seiner Rede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1994 formuliert: “Das Problem des deutschen Volkes mit seinem historischen Gedächtnis betrifft uns Europäer alle ganz direkt. Das deutsche Volk ist nämlich seit seiner Wiedervereinigung das einzige Volk Europas, das sich mit den beiden totalitären Erfahrungen des 20. Jahrhunderts auseinandersetzen kann und muss: dem Nazismus und dem Stalinismus. In seinem Kopf und Körper hat es diese Erfahrungen erlebt und kann sie nur überwinden, indem es beide Erfahrungen kritisch übernimmt und aufhebt, um so die demokratische Zukunft Deutschlands zu bereichern.„ Von dieser demokratischen Zukunft Deutschlands, so Semprún, “hängt die Zukunft eines demokratisch wachsenden Europas zu einem großen Teil ab.„

Das ist vielleicht die überzeugendste Begründung für den Stellenwert dessen, was wir heute unter dem Begriff Erinnerungskultur verstehen. Diese Erinnerungskultur ist unverzichtbare Voraussetzung für die Wiederherstellung des deutschen Ansehens in der Welt, und sie war Bedingung für das Wiedererlernen des aufrechten Ganges eines politisch verirrten, militärisch geschlagenen, wirtschaftlich zerstörten und moralisch diskreditierten Volkes.

Wir verneigen uns heute vor allen Opfern der nationalsozialistischen Diktatur, und unser besonderer, dankbarer Respekt gilt all denen, die während und nach der brutalen Zerstörung der ersten deutschen Demokratie den politischen, sozialen und moralischen Wiederaufbau unseres Landes möglich gemacht haben.

Parlament

Vortrag zum Festakt anlässlich des 125-jährigen Bestehens des Heinrich-von-Gagern-Gymnasiums in der Frankfurter Paulskirche am 20. April 2013

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag, dem Hessischen Landtag, dem Magistrat und der Stadtverordnetenversammlung, liebe aktive und ehemaligen Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer, verehrte Gäste, Herr Direktor, meine Damen und Herren! 

Es gibt tausende Schulen in Deutschland, von denen hunderte Jahr für Jahr mehr oder weniger bedeutende Jubiläen feiern, darunter einige mit noch stolzeren Jahreszahlen als die 125 Jahre, auf die dieses Gymnasium heute zurückblicken kann. Dass eine deutsche Schule ihr Jubiläum in einem Parlamentsgebäude feiert, dürfte allerdings einmalig sein, jedenfalls ist es außergewöhnlich. Es erklärt sich hinreichend mit dem Namensgeber dieser Schule, der nicht nur mit der Geschichte dieses Gebäudes, dieser Stadt und unseres Landes eng verbunden, sondern eine der großen Persönlichkeiten der deutschen Parlamentsgeschichte ist. Und deswegen, Herr Oberbürgermeister, versteht es sich beinahe von selbst, dass ich die Aufforderung der Stadt, zu diesem besonderen Jubiläum in die Paulskirche zu kommen, natürlich gerne wahrgenommen habe.

Als dieses Gymnasium 1888 gegründet wurde, war Heinrich von Gagern seit acht Jahren tot, und niemand wäre damals auch nur auf die Idee gekommen, diese neue Schule nach ihm zu benennen, weder in Frankfurt noch sonst irgendwo im Kaiserreich. 1888 war das berühmte Drei-Kaiser-Jahr, weshalb es eine gewisse Logik hat, dass die Schule zunächst nach dem nur sehr kurz amtierenden Kaiser Friedrich benannt wurde. Damit hat sie noch Glück gehabt, denn sie hätte auch nach dem im gleichen Jahr errichteten Zentralbahnhof benannt werden können, damals immerhin der größte Bahnhof Europas. Im gleichen Jahr 1888 veröffentlichte übrigens Theodor Fontane seinen Roman „Irrungen und Wirrungen“, dessen Titel nicht nur diesem Jahr, sondern der Zeitepoche einen ziemlich treffenden Ausdruck verleiht. Von Irrungen und Wirrungen war die deutsche Geschichte jedenfalls davor wie danach reichlich geprägt.

Wenn wir heute gelegentlich darauf hinweisen, dass wir in Zeiten eines rasanten Wandels leben, und wir häufig – wenn überhaupt – nur grobe Vorstellungen davon haben, was daraus denn eigentlich in absehbarer Zeit dauerhaft und nachhaltig werden könnte, dann lohnt es, daran zu erinnern, dass das zwar sicher zutrifft, so neu aber nun auch wieder nicht ist, wie es uns vorkommen mag. Auch Heinrich von Gagern gehört zu einer Generation, die einen tiefgreifenden Wandel erlebt und selbst gestaltet hat – in Deutschland, in Europa, sowohl politisch, wirtschaftlich und kulturell. Heinrich von Gagern wurde 1799, zehn Jahre nach der französischen Revolution, in ein Land hineingeboren, das nicht viele Ähnlichkeiten mit dem Staat hat, in dem wir heute leben. In der Dämmerung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, das bei genauerem Hinsehen weder römisch noch deutsch war und schon gar nicht heilig, befand es sich politisch in einer diffusen Übergangsphase zwischen absoluter und konstitutioneller Monarchie, feudaler Standesgesellschaft und bürgerlicher Aufbruchsbewegung. Europa war geprägt von den Kriegen der französischen Revolution, die in Napoleon ihren Vollstrecker und Überwinder zugleich fand. Deutschland war ein Flickenteppich von Territorien mit mehr, meist aber weniger ausgeprägter Staatlichkeit. Für diejenigen, die heute gelegentlich verzweifeln, weil die Europäische Union aus 27 Mitgliedsstaaten besteht – demnächst 28, in absehbarer Zeit sicher 30 und mehr , was zweifellos das Herbeiführen gemeinsamer Entscheidungen nicht eben erleichtert –, für diejenigen also, die das mit schierer Verzweiflung registrieren, lohnt der Hinweis darauf, dass dies noch immer weniger als ein Zehntel der rund 300 Staaten ausmacht, die es allein in Deutschland zum Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation 1806 gegeben hat.

An Gagerns Lebensabend, 1880, war Deutschland in einem kleindeutschen Kaiserreich geeint. Ein Verfassungsstaat mit einem Parlament, mit eigenen, aber begrenzten Kompetenzen, noch ohne echte Verantwortlichkeit der Regierung. Ein Land, herausgefordert durch die immer drängender werdende soziale Frage einer sich zügig industrialisierenden Gesellschaft, zunehmend mobil mit neuen Kommunikationsmöglichkeiten und -gewohnheiten; eine Zeit militärisch aufrüstender, von Selbstbewusstsein strotzender Nationalstaaten, deren Neigung zum Säbelrasseln und imperialen Ansprüchen schließlich in den Ersten Weltkrieg und in die Katastrophen des 20. Jahrhunderts führten.

Heinrich von Gagern zählt zu den zweifellos großen historischen Persönlichkeiten, deren Leben und Wirken in der Wahrnehmung der Nachwelt auf wenige Jahre, eigentlich sogar nur auf wenige Monate zusammenschmelzen. Er selbst entstammte einem alten Rügenschen Adelsgeschlecht. In dessen südlichem Familienableger, dem Heinrich angehörte, waren bereits der Vater Hans Christoph, aber auch seine Brüder Friedrich und Max das, was man heute gerne „political animals“ nennt – sehr politische und hoch engagierte Persönlichkeiten, der eine als Diplomat, der andere als Militär.

Heinrich von Gagern nahm nach Ende des napoleonischen Zeitalters an der Gründung der Burschenschaftsbewegung teil. Sein Biograph Frank Möller hat die Protagonisten der Burschenschaftsbewegung einmal pointiert als die 68er der damaligen Zeit charakterisiert – provozierend mit ihren langen Haaren, die Vätergeneration attackierend wegen ihres vermeintlichen Versagens gegenüber Napoleon, ihrer Bereitschaft zur Anpassung und Unterwerfung unter die damaligen Verhältnisse, fundamental Opposition treibend auf der Basis selbstbewusst vorgetragener Überzeugungen, im Einzelfall bis zum Terrorismus gehend, etwa bei der Ermordung Kotzebues durch den Burschenschaftler Karl Ludwig Sand.

In Heinrich von Gagern, der seinen Überzeugungen folgend früh beginnt, beim Unterschreiben seines Namens prinzipiell das „von“ wegzulassen, in diesem jugendlichen Teilnehmer an der Schlacht von Waterloo, sieht Frank Möller so etwas wie die Ikone seiner Generation. Jedenfalls muss Gagern schon in jungen Jahren eine Ausstrahlung vermittelt haben, die ihn aus den jeweiligen Gruppierungen, in denen er tätig war, auf eine natürliche, von anderen jedenfalls mühelos akzeptierte Weise heraushob. Im so genannten „Vormärz“, also der Epoche vor den Aufständen im März 1848, in der sich politische Gruppierungen und Bewegungen organisierten, hat Heinrich von Gagern in bemerkenswerter Klarheit Prinzipien formuliert, die bis heute als Grundlage einer funktionierenden Demokratie gelten können. Es macht doppelt Sinn, in der Paulskirche und bei einem Schuljubiläum an solche Einsichten und Prinzipien zu erinnern.

„Ich leugne nicht, Parteimann zu sein“, schreibt etwa Heinrich von Gagern 1834 an seinen Vater. Denn „was heißt das anderes, als eine Meinung zu haben, für diese zu werben und sie geltend zu machen.“ Und 1837, im Jahr der so genannten Göttinger Sieben, als prominente Professoren wie die Gebrüder Grimm, wie Friedrich Christoph Dahlmann und Georg-Gottfried Gervinus entlassen wurden, weil sie gegen die Aufhebung der Verfassung im Königreich Hannover protestiert hatten, formuliert von Gagern: „Wo immer das Volk Anteil an der Regierung hat, da werden Parteien sein, und ein Kampf der Parteien.“ Die Bedeutung des Satzes ergibt sich durch seine Umkehrung: Wer Parteien nicht will, muss sich mit dem Gedanken vertraut machen, dass es eine Beteiligung an der Machtausübung nicht gibt; jedenfalls keine, die in organisierter Konkurrenz unterschiedlicher Auffassungen, Meinungen und Interessen stattfindet.

„Dieser Kampf der Parteien“ – wieder Heinrich von Gagern – „und also auch die Parteiherrschaft ist im Zustand der Freiheit etwas Wesentliches, Unvermeidliches.“ In unserer Gegenwart, die nicht durch andächtige Bewunderung politischer Parteien gekennzeichnet ist, macht es Sinn, an diese fundamentale Einsicht zu erinnern, die selbst dann richtig bleibt, wenn einem die – wie wir das heute zu sagen pflegen – „Performance“ der politischen Parteien nicht über jeden Zweifel erhaben vorkommt. Noch kategorischer fügt Heinrich von Gagern hinzu: „Der kennt die Freiheit und liebt sie praktisch nicht, der den Kampf der Parteien als einen Auswuchs, als etwas Unvermeintliches und zu Unterdrückendes darstellt.“ Das war damals ungewöhnlich und ist offensichtlich ungewöhnlich geblieben. Aber es war schon damals richtig und es ist noch heute richtig. Wer den Parteienstreit kritisiert – übrigens dabei nicht selten gleichzeitig den Parteien mangelndes Profil vorwirft, was eine gewisse intellektuelle Beweglichkeit erkennen lässt, die man nicht immer in unserer Gesellschaft beobachtet –, verkennt, dass Demokratie eben kein Verfahren zur Vermeidung von Streit ist, sondern im Gegenteil das beste uns bisher bekannt gewordene Verfahren zur organisierten Bewältigung von Konflikten, um fair, nach für alle gleichen Regeln und verbindlich mehrheitlich getragene Lösungen herbeizuführen. Deswegen war für Heinrich von Gagern selbstverständlich, was heute immer weniger selbstverständlich geworden ist: Partei zu nehmen und Parteizwecke zu verfolgen als „eine patriotische und sittliche Pflicht“.

Gagerns liberales Denken bedeutete im Staatsbürokratismus der Zeit etwas Ungewöhnliches, für manchen damals sogar etwas Ungeheuerliches. „Deutschland wird erst aus einer nationalen Repräsentation in seiner Größe hervorgehen“, war er überzeugt, „dadurch erst wird es zur eigenen Nation“. Daran ist wichtig, dass sich für Heinrich von Gagern die nationale Einheit eben nicht im obrigkeitlichen Einheitsstaat ausdrückte, sondern im Parlament mit dem Widerstreit der Parteien als Ausdruck der öffentlichen Meinung. Das sind zwei ganz unterschiedliche Vorstellungen von Einheit und zwei unterschiedliche Vorstellungen von Nation.

Für die meisten seiner Zeitgenossen war über jeden Zweifel erhaben, dass sich die nationale Einheit im Monarchen repräsentierte. Die Vorstellung, dass die Einheit eines Landes in einer Volksvertretung zum Ausdruck kommen könnte, war im wörtlichen Sinne revolutionär. Dabei setzte Gagern der Nationalrepräsentation ein weiteres Grundprinzip hinzu, das bis heute der Lackmustest jeder Demokratie ist: „Da herrscht die vollkommenste Freiheit, wo die schwächste Partei, die Minorität, des ausgedehntesten Schutzes bei Oppositionsbewegungen teilhaftig wird.“ Mit anderen Worten: Regiert wird immer, überall auf der Welt. Politische Systeme sind überhaupt nicht dadurch zu unterscheiden, ob und welche Regierung in ihnen vorhanden sind, mal mit und bis heute oft ohne demokratische Legitimation. Die Opposition macht den Unterschied. Die Qualität eines politischen Systems ist nicht daran zu erkennen, dass regiert wird, sondern dass gegen Regierungen Widerspruch möglich ist und dass der Widerspruch organisiert wird. Und dass er in gewählten Parlamenten zum Ausdruck kommt. Und dass diese, die gewählten Vertreter eines Volkes, im Streit der Auffassungen und Meinungen das letzte Wort haben; genauer gesagt, das vorletzte, weil das scheinbar letzte immer nur so lange gilt, bis neue Mehrheiten anderes beschließen. Man könnte es einfacher haben, aber schwerlich besser.

Heinrich von Gagern selbst befand sich den Großteil seines Lebens in der Opposition. Seine Biographie spiegelt eindrucksvoll die Rückschläge des Liberalismus. Sie zeigt zugleich exemplarisch die Fähigkeit liberaler Vorkämpfer, Rückschläge hinzunehmen, ihre Bereitschaft durchzuhalten, wenn es scheinbar überhaupt keinen Fortschritt und keine Bewegung gibt, sich in der Zurückgezogenheit neu zu sammeln, schließlich das Ringen mit dem eigenen Scheitern. Es würde lohnen, aber zu viel Zeit erfordern, die Stationen von Gagerns politischem Wirken im Einzelnen nachzuzeichnen, die Sprunghaftigkeit der unterschiedlichen Rollen, Aufgaben und Ämter, die er jeweils wahrgenommen hat, einschließlich der Entlassung aus allen staatlichen Ämtern 1833 mit seinem demonstrativen Verzicht auf die Auszahlung eines staatlichen Ruhegehaltes – was er sich aufgrund seiner familiären Herkunft finanziell erlauben konnte und zur Begründung seines Rufes eines unabhängigen Kopfes naturgemäß erheblich beitrug.

Nach dem Hambacher Fest 1832, dem süddeutschen Konstitutionalismus, fand Gagern 1847 den Weg zurück auf die offene Bühne der Politik. Sein Vater, der selbst ein angesehener Diplomat war, ahnte damals: „Er ist mit Oppositionsgeist geladen wie eine Bombe.“ Als diese Bombe im Jahr darauf zündete, blieb es eine – um im Bild zu bleiben – kontrollierte Explosion. Denn Heinrich von Gagern ist die wandelnde Vermittlung zwischen revolutionärem Anspruch und Verhandlungsbereitschaft mit den tatsächlich existierenden politischen Kräften und Gewalten. Die Revolution soll nach seinem Willen statt im Chaos auf der Straße in geordneten parlamentarischen Bahnen erfolgen. Sie soll auf konstitutionellem Wege die Einheit des Landes und Freiheit bringen.

Die Nationalversammlung, die am 18. Mai 1848 hier in der Frankfurter Paulskirche zusammentrat, wählte ihn am Tag darauf mit überwältigender Mehrheit zu ihrem Präsidenten, mit 499 von 518 Stimmen; zunächst provisorisch, denn der Präsident der Nationalversammlung wurde damals monatlich gewählt, das heißt auch monatlich bestätigt. Hoch interessant ist nachzulesen, wie seine Kollegen in der Paulskirche und seine Biographen die Auswirkungen seiner persönlichen Erscheinung auf seine Amtsführung schildern. Ich habe vorhin schon darauf hingewiesen, dass er offenkundig über eine enorme Ausstrahlung verfügte, die ihm eine natürliche Autorität verlieh. In einer zeitgenössischen Charakterisierung seiner Amtsführung heißt es: „Durch so große Gaben beherrschte er als Präsident die Versammlung, während seine formale Geschäftsführung manches zu wünschen übrig ließ.“ Robert von Mohl, einer der großen politischen Gestalten der damaligen Zeit, kommt in seinen Lebenserinnerungen zum ganz ähnlichen Urteil: „Er war endlich nicht die verkörperte Unparteilichkeit, denn auch als Vorsitzender ließ er solche, welche er dem Vaterlande für verderblich und unehrlich erachtete, Abneigung und Verachtung lebhaft fühlen“. Und weiter: „Nur sehr wenige ganz gemeine Naturen entwanden sich in den schöneren Tagen der Paulskirche diesem Einflusse, und es war nicht nur eine Geschäftsmaßregel, sondern ein sittlicher Schaden, wen ein Ordnungsruf Heinrich von Gagerns traf.“ Da könnte man als amtierender Parlamentspräsident zu schwärmen beginnen, doch dem werde ich tapfer widerstehen.

Für Karl Biedermann, einen der Vizepräsidenten der Frankfurter Nationalversammlung, war Heinrich von Gagern schlicht „die Verkörperung des nationalen Gedankens selbst, der Apostel einer neuen Zeit.“ Und tatsächlich muss man sich in einer unter vielerlei Gesichtspunkten hoch komplizierten parlamentarischen Versammlung Gagerns Wirken vorstellen als das ständige Lavieren zwischen sich wechselseitig ausschließenden Gestaltungsansprüchen, von denen die eine explizit revolutionär, die andere – nicht ganz so explizit, aber erkennbar – restaurativ waren. Der kunstvolle – manche würden sagen: unsinnige – Versuch, zwischen revolutionären Ansprüchen und existierenden politischen Strukturen eine Brücke herzustellen, war der scheinbar aussichtslose, jedoch ganz offenkundig wesentlich durch die Persönlichkeit Heinrich von Gagerns möglich gewordene Weg, den dieses Parlament dann gegangen ist.

In dem Maße allerdings, in dem sich im Revolutionsverlauf der Idealismus der Anfangszeit in einen offenen Machtkampf zwischen Parlament und den alten staatlichen Gewalten wandelte, zerbröselte auch Gagerns Ausstrahlung. Es gehört zu seinem fast tragischen Schicksal, dass er seinen kurzen Ruhm 30 Jahre überlebt hat und am Ende seinen Lebenstraum vom nationalen deutschen Einheitsstaat ausgerechnet durch Bismarck realisiert sah, einen Mann, bei dem der Machtinstinkt zweifellos einen unangefochtenen Vorrang vor jedem demokratischen oder gar parlamentarischen Reflex hatte und der aus seiner Parlamentsmissachtung ebenso wenig einen Hehl gemacht hat wie aus seiner Verachtung für Heinrich von Gagern. Als „Phrasengießkanne“ verunglimpfte Otto von Bismarck, der vor seiner Tätigkeit als Reichskanzler hier in Frankfurt Gesandter des preußischen Staates gewesen war, 1850 Heinrich von Gagern – die Begabung zu sprachschöpferischer Wortgewalt gehört zu den kontinuierlichen Bestandteilen der deutschen Parlamentsgeschichte.

Im Juni 1848 rief Heinrich von Gagern die Nationalversammlung dazu auf, eine provisorische Zentralgewalt in Nachfolge des Bundestages selbst zu schaffen, kraft ihrer behaupteten Souveränität, die als Anspruch hoch und als Wirklichkeit außerordentlich bescheiden war. Mit diesem, wie er es selbst nannte, „kühnen Griff“ kam er der revolutionären Linken entgegen. Indem er zugleich vorschlug, mit Erzherzog Johann einen Fürsten zum Oberhaupt dieses deutschen Einheitsstaates zu wählen – mit der Begründung nicht weil, sondern obwohl er ein Fürst ist – wurde Gagern gleichzeitig den Bedürfnissen der Rechten gerecht, weil das dynastische Prinzip gewahrt blieb.

Die Frankfurter Nationalversammlung stand 1848/49 vor der Doppelaufgabe, einen Nationalstaat schaffen und diesen freiheitlich organisieren zu wollen – und in dem Dilemma, zunehmend begreifen zu müssen, dass beides gleichzeitig nicht zu haben war. Die Verfassung, die Ende März 1849 beschlossen wurde, wollte die Einheit aller Deutschen, hätte in der Verfassungswirklichkeit aber nur einen kleindeutschen Staat geschaffen, der nicht durch Volkssouveränität legitimiert und parlamentarisch repräsentiert, sondern durch eine konstitutionelle Erbmonarchie geprägt gewesen wäre. Mit anderen Worten: Der de facto erklärte Vorrang der Einheit hätte die Freiheit limitiert. Und dennoch bedeutete natürlich die Paulskirchenverfassung, die nie in Kraft getreten ist, eine große historische Leistung. Ihr Grundrechtsteil hat nachhaltige Wirkung entfaltet und findet sich in den später entstandenen und in Kraft getretenen Verfassungen und teilweise auch heute wörtlich im Grundgesetz.

Meine Damen und Herren, zu den epochalen Leistungen Heinrich von Gagerns, der ja nur ein halbes Jahr diesem Parlament vorgestanden hat, bevor er sich dann in die Exekutive hat „wegloben“ lassen und damit zu der schönen, aber nicht unproblematischen Tradition beigetragen hat, dass der scheinbare Gipfel einer parlamentarischen Laufbahn der Wechsel in die Regierung ist. Zu den epochalen nachwirkenden Leistungen von Heinrich von Gagern also gehört, dass er nicht nur die Unvermeidlichkeit, die Notwendigkeit, die Unverzichtbarkeit von Parteien erkannt und vertreten hat, sondern auch und gleichzeitig die Notwendigkeit der Konsenssuche und die Unverzichtbarkeit des Kompromisses als Grundprinzip der Demokratie. Von der Fähigkeit zum Kompromiss als unaufgebbarer demokratischer Tugend hängt jedenfalls in jedem parlamentarischen System die Entscheidungsmacht ab, auf die der Bürger Anspruch hat. Im Augenblick des parlamentarischen Triumphes, nämlich der Durchsetzung der auf diesem Wege zustande gekommenen Verfassung, musste die Partei Heinrich von Gagerns sogleich ihre machtpolitische Schwäche erkennen. Der in einem kunstvollen Kompromiss als Staatoberhaupt auserkorene preußische König lehnte die Kaiserkrone auf der Grundlage einer Verfassung ab, weil ihr – wie er das unnachahmlich formuliert hatte – der Modergeruch der Revolution anhaften würde.

Gagern war gerade einmal 50 Jahre alt, als sein Stern binnen kürzester Zeit beinahe vollständig verglühte. In den drei Jahrzehnten, die er noch lebte, fand er kaum öffentliche Resonanz. Er wurde Diplomat in Wien, noch einmal Abgeordneter eines Landtages, setzte sich später innerhalb des so genannten Reformvereins für eine großdeutsche Lösung ein, und trotzdem begrüßte er 1871 das Kaiserreich Bismarckscher Prägung mit – wie er das formulierte – „patriotischer Freude und Anhänglichkeit, auch wenn manches anders gekommen ist und anders geworden ist, als ich es gewünscht habe“. Aber mit dem „Gesamtergebnis, das nach einigen Richtungen hin alles übertrifft, was man früher hoffen und für möglich halten könnte“, so Gagern, sei er ganz versöhnt. Als er im Jahr darauf  starb, nahm davon niemand mehr Notiz. Umso wichtiger ist, dass wir nicht nur zu einem Anlass wie heute und an einem Platz wie diesem an ihn erinnern, als eine der großen Gestalten der jüngeren deutschen Geschichte im Allgemeinen und der Parlamentsgeschichte im Besonderen.

Allen, die diese Schule in den nächsten Jahren, Jahrzehnten und Jahrhunderten besuchen, könnte man kaum Besseres wünschen als dieses Resümee am Ende einer langen, gelegentlich komplizierten, manchmal turbulenten Schulzeit: „Wenn auch manches anders gekommen ist und anders geworden ist, als ich gewünscht, so bin ich für meine Person mit dem Gesamtergebnis, das nach einigen Richtungen hin alles übertrifft, was ich früher zu hoffen und für möglich gehalten habe, ganz versöhnt.“

Parlament

Würdigung des Aufstandes im Warschauer Ghetto im Deutschen Bundestag vor Eintritt in die Tagesordnung am 19. April

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße heute Morgen besonders herzlich den polnischen Botschafter, der auf der Ehrentribüne Platz genommen hat. (Beifall)

Denn wir gedenken heute in Polen wie in Deutschland des jüdischen Aufstandes im Warschauer Ghetto, der vor 70 Jahren, am 19. April 1943, begonnen hat. Hinter den drei Meter hohen Mauern des hermetisch abgeriegelten Viertels lebten zu dieser Zeit noch Zehntausende verzweifelte, größtenteils längst entkräftete Menschen. Sie sollten  wie seit 1942 schon rund 300 000 Frauen und Männer, Kinder und Greise – in den Tod deportiert werden. Im Morgengrauen des jüdischen Passahfestes zur Erinnerung an den im Buch Mose beschriebenen Auszug aus der ägyptischen Sklaverei marschierten SS-Einheiten in das Ghetto ein.

Das Datum für die endgültige Vernichtungsaktion war sicher nicht zufällig gewählt. Schon der Beschluss über die Schaffung des Warschauer Ghettos wurde auf zynische Art am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur, am 12. Oktober 1940, per Straßenlautsprecher bekannt gegeben. Auch die großen Deportationen begannen am Vorabend eines jüdischen Feiertages, am 22. Juli 1942. Wir werden alle fallen, manche mit der Waffe in der Hand, andere als vergebliche Opfer. Aber es ist wichtig, dass das Gedenken um uns nicht verloren geht, dass die ganze Welt wissen soll, wie hoffnungslos, schwer und blutig dieser Kampf war.

Diese Worte stammen von Leon Rodal, einem der Kommandanten es Aufstandes.

Die Juden im Warschauer Ghetto wussten, dass sie keine Chance gegen den übermächtigen Angreifer hatten. Sie wollten aber kämpfen – einen aussichtslosen, verzweifelten Kampf um die Würde ihres Volkes. „Der Kampf war ein Zeichen des Protestes gegen die Gleichgültigkeit der Welt angesichts des Holocaust und eines heroischen Widerstandes“, heißt es in einer Entschließung des Sejm der Republik Polen zum 70. Jahrestag des Aufstandes.

Nur spärlich mit Pistolen, Handgranaten, selbst gemachten olotowcocktails und Gewehren bewaffnet, kämpften die etwa 750 Aufständischen fast vier Wochen lang gegen mehr als 2 000 schwer bewaffnete Deutsche, die durch Panzer, Artillerie und Luftwaffe unterstützt wurden. Am Ende war das Ghetto völlig vernichtet. Haus für Haus wurde von den Deutschen in Brand gesteckt und gesprengt. Die Große Synagoge von Warschau hatte der fanatische SS-General Jürgen Stroop eigenhändig gesprengt. In seinem Bericht liefert er die präzise Zahl der Opfer: 56 065 Tote. Nur wenigen Aufständischen gelang die Flucht durch unterirdische Kanäle. Der Aufstand war militärisch gescheitert; er war dennoch nicht vergeblich. Dieser Kampf wurde in den nachfolgenden Monaten zum Vorbild für Juden in anderen Ghettos und Lagern. Und er steht stellvertretend für den vielfältigen jüdischen Widerstand, den es während des Nationalsozialismus gegeben hat.

Denn nicht „wie die Lämmer zur Schlachtbank“ haben sich die Juden Europas führen lassen im Gegenteil, wo immer sie die Möglichkeit dazu fanden, haben sich jüdische Männer und Frauen gegen die Mörder zur Wehr gesetzt. Das unterstrich der im vergangenen Jahr verstorbene Historiker Arno Lustiger, selbst KZ-Überlebender und, wie sich viele von uns erinnern werden, 2005 Redner bei der Gedenkstunde an die Opfer des Nationalsozialismus hier im Deutschen Bundestag.

Ich möchte Sie bitten, sich für einen Augenblick von den Plätzen zu erheben. (Die Anwesenden erheben sich)

Wir verneigen uns heute vor den mutigen Frauen und Männern und allen Opfern des Warschauer Ghettos. Ihr Kampf um die Menschenwürde ist und bleibt ein Vermächtnis für die nachfolgenden Generationen.

Vielen Dank.

Parlament

Eröffnungsrede „Politik und Religion. Über Reformation, Restauration und Innovation“ zu den Wormser Religionsgesprächen

Es gilt das gesprochene Wort

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
verehrte Repräsentanten der Religionsgemeinschaften,
liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem rheinland-pfälzischen Landtag,
aus dem Wormser Stadtrat, meine Damen und Herren!

Ich bedanke mich sehr für die freundliche Einladung zu dieser wichtigen Veranstaltung und für die liebenswürdige Begrüßung. An der Absicht, die Wormser Religionsgespräche neu zu entdecken und wiederzubeleben und damit an eine ebenso schöne wie schwierige Tradition aus dem 16. Jahrhundert anzuknüpfen, beteilige ich mich gerne, denn ich teile die Überzeugung, dass heute, in Zeiten der Globalisierung, am Beginn des 21. Jahrhunderts, für Religionsgespräche sicher nicht weniger Bedarf besteht, als in Zeiten der Reformation.

Unsere Gegenwart neigt dazu, sich selbst für fortschrittlicher zu halten als die Vergangenheit. Tatsächlich können wir heute, wie auch früher bereits, immer wieder die Beobachtung machen, dass nicht alles innovativ ist, was sich als fortschrittlich ausgibt, dass auch nicht jede Innovation zu Reformationen führt, dass manche Reformation in der Restauration stecken bleibt, bevor Innovationen und Reformen überhaupt ihre volle Wirkung haben entfalten können. Mit anderen Worten, im wirklichen Leben ist alles meist noch eine Spur komplizierter als in den Theorien, die sich mit der Wirklichkeit unter dem Gesichtspunkt, wie sie denn sein sollte, gerne auseinandersetzen.

Das Jahresthema der Lutherdekade auf dem Weg zum 500. Jahrestag der Reformation lautet „Toleranz“. Auf den ersten Blick scheint dieses Thema nicht besonders schwierig. Fast jeder hat eine Vorstellung davon, was Toleranz bedeutet, und teilt die Einsicht, dass Toleranz geboten oder, wie man zu sagen pflegt, zu üben ist. Aber in der Lebenswirklichkeit ist es bei diesem Thema ganz offenkundig komplizierter. Jede konkrete Situation ist anders, die beteiligten Personen, die Sachverhalte und die wechselseitigen Erwartungen. Ruft man bei Google den Begriff „Toleranz“ auf, werden dort weit über zehn Millionen Ergebnisse angezeigt. Das ist, wie ich glaube, allein schon ein starker Hinweis darauf, dass weder der Begriff unmissverständlich ist – schon gar nicht eindeutig –, noch die damit verbundenen Sachverhalte. Für die Auswahl des Themas „Toleranz“ im Rahmen der Lutherdekade gibt es mindestens zwei gute Gründe: Der eine ganz beachtliche Grund ist der, dass der lateinische Begriff „tolerantia“ von Martin Luther als „Toleranz“ in die deutsche Sprache übertragen und eingeführt worden ist. Der andere, wie ich glaube noch beachtlichere Grund, ist die historische Erfahrung.

Toleranz ist nicht das herausragende Merkmal der Religions- und der Kirchengeschichte, weder vor der Reformation noch danach. Die dunklen Schatten oft brutaler Intoleranz begleiten die Religionsgeschichte und die Kirchengeschichte durch die Jahrhunderte: Inquisition, Hexenprozesse, Ketzerverbrennungen, Glaubenskriege. Auch die Entdeckung der Freiheit des Christenmenschen, zweifellos eine der großen Innovationen und Errungenschaften der Reformation, hat damals keineswegs zugleich auch Glaubensfreiheit gemeint und schon gar nicht akzeptiert.

Auch Martin Luther ist insofern ein mittelalterlich geprägter Mensch gewesen, der sich nicht vorstellen konnte, dass unterschiedliche Wahrheits- und Glaubensvorstellungen nebeneinander bestehen können. Der Augsburger Religionsfrieden von 1555 mit der Vereinbarung, dass der Glaube gelten solle, der vom jeweiligen Herrscherhaus eines Gebietes übernommen wurde, war eine friedensstiftende Maßnahme lediglich unter der zutiefst intoleranten Voraus-setzung, dass in einem Staatsgebiet nicht verschiedene Glaubensweisen neben-einander leben und ausgeübt werden können.

Religion, meine Damen und Herren, das zeigt die Geschichte all zu deutlich – übrigens nicht nur in Europa, aber eben auch in Europa –, Religionen haben ein ambivalentes Verhältnis zur Toleranz. In der Lehre vermitteln sie Toleranz, in der Praxis verweigern sie diese, nicht immer, aber leider häufig, nach innen wie nach außen. Erst mit der Aufklärung im 18. Jahrhundert, die ihre wesentlichen Einsichten, um nicht wieder Innovationen zu sagen, gegen den erbitterten Widerstand der Kirchen durchsetzen musste, wurde die Freiheit des Christen-menschen als individuelle Freiheit des Bürgers im Staat, gegenüber dem Staat und auch gegenüber den Kirchen und Religionsgemeinschaften reklamiert und durchgesetzt.

Die Einsicht der Aufklärung in die Aussichtslosigkeit einer abschließenden Beantwortung der damit verbundenen Wahrheitsfrage hat Demokratie nötig und möglich gemacht. Ihre Folge war die Trennung von Politik und Religion in zwei eigenständige Verantwortungsbereiche. Das spätere, in unserer heutigen Gegen-wart relativ weit verbreitete Missverständnis, beide Bereiche sollten oder dürften möglichst nichts miteinander zu tun haben, ist freilich ein nicht geringerer Irrtum als die jahrhundertealte Vorstellung, das Eine dürfe von dem Anderen gar nicht unterschieden werden.

Ich bin gebeten worden, heute Abend zu dem Generalthema Ihrer Veranstaltung einige Bemerkungen beizusteuern, die das besondere Verhältnis von Politik und Religion betreffen. Es gibt einfachere Themen, wenngleich ich Ihnen gar nicht die Erleichterung unterschlagen will, über ein Thema zu reden, von dem ich mindestens von der einen Hälfte zu wissen glaube wovon ich rede, wenn ich Ihnen Einsichten vortrage, die mir in diesem Zusammenhang bedeutsam erscheinen.

Vielleicht ist die Generalfrage, die über den beiden Stichworten Politik und Religion, jedenfalls unter den heutigen Bedingungen des 21. Jahrhunderts steht, so zu formulieren: „Wie viel Religion erträgt eine moderne, aufgeklärte und liberale Gesellschaft?“ Und mit dieser Frage ist, jedenfalls nach meinem Verständnis, sofort eine zweite Frage verbunden, nämlich: „Wie viel Religion braucht eine demokratisch verfasste Gesellschaft?“ Beide Fragen beantworten sich nicht von selbst. Sie sind, wie ich glaube, aber auch nicht unabhängig voneinander zu beantworten. Ich will dazu ein paar Hinweise geben und bitte um Nachsicht, wenn das ein bisschen Zeit in Anspruch nimmt und am Ende dennoch natürlich unvollständig bleibt. Das eine wie das andere Thema ist unerschöpflich.

Meine erste Bemerkung zum Thema „Politik und Religion“ lautet: Politik und Religion sind zwei unterschiedliche, bedeutende, formell oder informell mächtige, rechtlich oder faktisch bindende Geltungsansprüche gegenüber einer Gesellschaft und ihren Mitgliedern. Das ist, wie ich glaube, ihre wichtigste Gemeinsamkeit. Sie reklamieren einen Geltungsanspruch, sie wollen Verbindlichkeiten begründen – gegebenenfalls auch durchsetzen, förmlich oder informell. Jedenfalls wollen sie mehr sein als ein Beitrag zum Dialog, der Geltungsanspruch geht in beiden Fällen deutlich darüber hinaus. Er ist mehr oder weniger ausdrücklich von Geltungsansprüchen geprägt. Allein aus diesem Grund können Politik und Religion einander nicht gleichgültig sein, aber sie sind ganz offenkundig nicht dasselbe. Die Unterschiede zwischen den jeweiligen Gestaltungsansprüchen sind nicht weniger bedeutsam als die Gemeinsamkeiten. Und wenn ich die Geltungsansprüche als die wichtigste Gemeinsamkeit von Politik und Religion beschrieben habe, dann will ich gleich den aus meiner Sicht wichtigsten Unterschied hinzufügen: Religionen handeln von Wahrheiten, Politik handelt von Interessen – das eine ist so zentral wie das andere und beides offenkundig grundverschieden.

Zu den Ergebnissen unserer aufgeklärten Zivilisation gehört – zweitens –die Einsicht, die ich vorhin schon kurz genannt habe – dass es eine abschließende Beantwortung der Wahrheitsfrage nicht gibt, dass wir zu einer solchen, schon gar allgemeinverbindlichen Beantwortung nicht in der Lage sind. Diese Einsicht macht Politik nötig und Demokratie möglich. Auf der Basis absoluter Wahrheitsansprüche ist Demokratie, als Legitimation von Normen durch Verfahrensregeln, nämlich gar nicht möglich: Über Wahrheiten lässt sich nicht abstimmen, Wahrheiten sind nicht mehrheitsfähig und Interessen sind nicht wahrheitsfähig. Und weil Interessen nicht wahrheitsfähig sind, entschließt sich die Demokratie, die verbindliche Entscheidung nicht über Wahrheitsansprüche zu begründen, sondern durch eine Verfahrensregel: Gelten soll das, was die Mehrheit für richtig hält. Somit gilt es, auch wenn es nicht wahr ist. Und es gilt nicht solange, wie es wahr ist, sondern solange, wie nicht eine neue Mehrheit etwas anderes beschließt. Wahrheitsansprüche sind mit einem demokratisch verfassten System prinzipiell unvereinbar. Wer für das, was er selbst für richtig hält, einen Wahrheitsanspruch erhebt, kann und muss sich gleichwohl den Mehrheitsentscheidungen unterwerfen. Und umgekehrt, wer sich bei der Verfolgung seiner eigenen Interessen Mehrheitsentscheidungen unterwirft, hat logischerweise vorausgesetzt, dass seine Interessen nicht mehr und nicht weniger wahr oder richtig sind als andere auch und dass die Verbindlichkeit einer Entscheidung sich nicht aus dem vermeintlichen Nachweis der Überlegenheit der eigenen Meinung oder des eigenen Interesses ergibt, sondern aus dem simplen Umstand, dass eine Mehrheit sich diese Meinung oder dieses Interesse zu eigenen gemacht hat.

Diese prinzipielle Unvereinbarkeit von zwei ganz unterschiedlichen Legitima-tionsmechanismen verbindlicher Entscheidungen von Geltungsansprüchen hat zur Folge, dass eine funktionierende Demokratie auf der sauberen Trennung von Politik und Religion beruhen muss. Und um es noch eine Spur komplizierter zu sagen: Diese Trennung von Politik und Religion würde es ohne die religiös vermittelte Überzeugung von der Unantastbarkeit der Menschenwürde, dem Freiheitsanspruch des Menschen und seinem Recht auf Selbstbestimmung gar nicht geben. Historisch wie praktisch ist der Sinnzusammenhang zwischen Politik und religiösen Überzeugungen ebenso offensichtlich wie die Trennung zwischen beiden: sie ist eine unverzichtbare Voraussetzung für die Funktions-fähigkeit einer demokratischen Ordnung.

Dritte Bemerkung: Wenn wir uns mit Blick auf die eigene Gesellschaft, auf die Vergangenheit unserer Gesellschaft, aber auch mit Blick auf andere Gesellschaften in und außerhalb Europas umsehen und die Frage beantworten wollen: „Was stiftet eigentlich den inneren Zusammenhalt einer Gesellschaft?“, dann ist, glaube ich, der Befund ziemlich übersichtlich: Der innere Zusammenhalt einer Gesellschaft wird durch Kultur gestiftet. Kultur, nicht verstanden als „Kunst und Kultur“, sondern als die Summe aller Erfahrungen, die eine Gesellschaft mit sich selbst gemacht hat, der gemeinsamen Geschichte, einer gemeinsamen Sprache, der gemeinsamen Überzeugungen, die über Generationen gewachsen sind und von einer Generation zur anderen weitervermittelt werden. Dieses Mindestmaß an Gemeinsamkeiten, das die unterschiedlichen Menschen einer Gesellschaft miteinander verbindet, stiftet ihren inneren Zusammenhalt. Und wenn diese kulturelle Verbindung verloren geht, geht der innere Zusammenhalt einer Gesellschaft verloren. Er kann nicht durch Wirtschaft gestiftet werden, ganz sicher nicht durch Geld und nicht einmal durch Politik. Das, was eine Gesellschaft im Inneren zusammenhält, sind Überzeugungen, Orientierungen, Erfahrungen, von deren Richtigkeit die Menschen in einer Gesellschaft, jedenfalls dem Grunde nach, gemeinsam überzeugt sind. Und solange sie diese Überzeugung teilen, hält der innere Zusammenhalt einer Gesellschaft, wenn diese Überzeugung verloren geht, erodiert der innere Zusammenhalt.

Viele von Ihnen werden einen berühmten Satz eines früheren Richters am Bundesverfassungsgericht kennen, der in diesem Zusammenhang fast schon zu Tode zitiert worden ist, meistens allerdings auch nur ein Satz, obwohl das, was dann nicht mehr zitiert wird, eigentlich noch spannender ist. Der oft zitierte Satz von Wolfgang Böckenförde lautet: „Der freiheitliche säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Er beruht auf Überzeugungen, die er selber nicht stiften kann, aber ohne die er seine Geschäftsgrundlage verliert“. Das ist genau der logische Zusammenhang, den Jürgen Habermas in seiner Dankesrede bei der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels wieder aufgenommen hat, wenn er als jemand, der sich selbst ausdrücklich als „religiös unmusikalischen“ Menschen charakterisiert, auf die überragende Bedeutung von Religionen auch und gerade in modernen säkularisierten Gesellschaften verwiesen hat. Der Staat, gerade der demokratische, freiheitlich säkulare Staat, lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Und Böckenförde fügt hinzu: „Das ist das große Wagnis, das er um der Freiheit willen eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürger gewährt von innen her, aus der moralischen Substanz des Einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft reguliert. Andererseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, dass heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und des autoritativen Gebots, zu garantieren versuchen ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und auf säkularisierter Ebene in den Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.“

Das ist der kühne Versuch, in wenigen Sätzen fünfhundert Jahre Religions- und Zivilisationsgeschichte zusammenzufassen, wobei ich Sie bitten möchte, nicht die ohnehin hinreichend komplizierte Formulierung im Gedächtnis zu behalten, sondern wenn es geht zwei Hinweise, von denen der eine, wie mir scheint, unverändert richtig und von zentraler Bedeutung ist und der andere auf seinen Realitätsgehalt neu überprüft werden muss. Unverändert richtig ist: Auch und gerade der moderne Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht schaffen kann, und die entweder durch die Kultur einer Gesellschaft geschaffen sind und aufrecht erhalten bleiben – oder eben verloren gehen. Und der zweite, auf seinen Wirklichkeitsgehalt neu zu untersuchende Hinweis bezieht sich auf die Homogenität der Gesellschaft, von der vermutlich viele von Ihnen den Eindruck haben, dass es sie längst nicht mehr gibt. Ich finde den Hinweis auf die Heterogenität der Gesellschaft, in der wir leben, auch plausibler als den Hinweis auf die Homogenität dieser Gesellschaft.

Nun wird, das ist meine vierte Bemerkung, in diesem Zusammenhang immer wieder, auch zu Recht, darauf hingewiesen: Der innere Zusammenhalt unserer Gesellschaft, eigentlich jeder modernen demokratisch verfassten Gesellschaft, werde nicht durch kulturell gewachsene Überzeugungen gestiftet, sondern durch die Verfassung. Die Verfassung formuliere das, was in einer Gesellschaft Geltung beansprucht und dieser Geltungsanspruch gelte für alle und jeden, unabhängig davon, ob er am Entstehen dieser Überzeugung beteiligt war oder nicht, unabhängig davon, ob ihm dies besonders vorteilhaft oder eher schwierig oder lästig erscheint. Jedenfalls komme es in einer modernen Gesellschaft nicht auf kulturelle und schon gar nicht auf religiöse Überzeugungen an, sondern ausschließlich auf die rechtlich formulierten, für alle verbindlichen, gegebenenfalls auch einklagbaren Geltungsansprüche einer Verfassung. Das ist, wie ich glaube, zwar nicht ganz falsch, aber noch weniger ganz richtig, denn bei dieser Beobachtung wird unterschlagen, was denn eigentlich in Verfassungen formuliert wird: Verfassungen sind die groben Orientierungen, die in einer Gesellschaft prinzipielle Geltung beanspruchen und an denen sich, jedenfalls nach unserem Verfassungsverständnis, auch die einzelnen gesetzlichen Regelungen zu orientieren haben. Das, was in einer Verfassung formuliert wird, sind eben genau die tragenden Überzeugungen, die in einer Gesellschaft Geltung gewonnen haben. Verfassungen sind nie Ersatz für, sondern immer Ausdruck der kulturellen Überzeugungen, die in einer Gesellschaft Geltung beanspruchen. Ich kenne keine Verfassung in der Welt, die sich anders verstehen ließe als in genau diesem Zusammenhang, und deswegen ist der Zusammenhang zwischen Politik und Religion, zwischen Verfassung und Kultur nirgendwo enger als genau hier: Verfassungen formulieren das, was eine Gesellschaft an Erfahrungen mit sich selbst gemacht hat, die Schlussfolgerungen, die sie daraus gezogen hat und die grundsätzlichen Geltungsansprüche, die sie nicht nur für eine Wahlperiode, sondern prinzipiell gesichert sehen möchte. Das Grundgesetz ist für diese allgemeine Beobachtung, die wie mir scheint fast ausnahmslos für alle Verfassungen gilt, ein besonders schönes Beispiel. Das Grundgesetz ist ein hoch ideologischer, tief religiös geprägter Text, mit einer Reihe normativer Ansprüche für die Gestaltung einer modernen Gesellschaft. Bereits das in der Präambel reklamierte Bewusstsein der Verantwortung vor Gott und den Menschen muss nicht in einer Verfassung stehen, steht aber in unserer Verfassung und der erste – nach Übereinstimmung aller Verfassungsexegeten auch oberste – Satz unserer Verfassung lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Aufgabe aller staatlichen Gewalt“. Das gibt aber nicht einen empirisch gesicherten Sachverhalt wieder, sondern, wenn überhaupt, leitet er aus der gegenteiligen empirischen Erfahrung einen Geltungsanspruch her, der sich, wenn es sein muss, auch gegen die Wirklichkeit stemmt. Würde die Verfassung Erfahrungssätze formulieren wollen, müsste dieser Satz lauten: „Die Würde des Menschen ist antastbar.“ Nirgendwo ist dieser Nachweis gründlicher geführt worden als auf deutschem Boden, von einem deutschen Staat. Und weil die Wirklichkeit so ist, erhebt die Verfassung den umgekehrten Geltungsanspruch. Der ist aber nicht vom Himmel gefallen, oder vielleicht eben doch, er muss ja irgendwo herkommen und – er kommt natürlich auch irgendwo her: Er ist die Formulierung einer jahrhundertealten Überzeugung, die sich ohne den Zusammenhang der kulturellen und religiösen Traditionen dieses Landes und dieses Kontinentes überhaupt nicht verstehen lässt. Und er legt von daher, völlig unabhängig von der Frage, ob jemand sich selbst als einen religiös orientierten Menschen versteht, die Schlussfolgerung nahe, die Jürgen Habermas ausdrücklich zieht: Unabhängig von eigenen religiösen Überzeugungen muss ein so verfasster Staat ein vitales Interesse an der Lebendigkeit dieser Quellen haben, weil er ohne diesen Kontext die Voraussetzungen verliert, auf denen er beruht und die er selbst gar nicht schaffen kann.

Nun würde ich noch ein ergänzendes Argument vortragen wollen, das Jürgen Habermas immer wieder nach der von Ihnen, Herr Oberbürgermeister, zitierten Rede in Frankfurt bei der Verleihung des Friedenspreises vorgetragen hat und in dem es um die andere Seite der gleichen Beobachtung geht: dass der säkulare, freiheitliche, weltanschaulich neutrale Staat ein Interesse an Weltanschauungen haben muss und dass er ganz gewiss die religiöse Betätigung nicht behindern darf, sondern selber ein Interesse an den Quellen haben muss, aus denen sich dieses kulturelle Selbstverständnis speist. „Allerdings“, so Habermas, „muss der Staat, der demokratisch verfasste Staat, die Anerkennung des Prinzips der weltan-schaulich neutralen Herrschaftsausübung erwarten. Jeder muss wissen und akzeptieren, dass jenseits der institutionellen Schwelle, die die Öffentlichkeit von Parlamenten, Gerichten, Ministerien und Verwaltungen trennt, nur säkulare Gründe zählen.“ Mit anderen Worten: Die Behauptung, „dies ist wahr“, reicht als Argument für die rechtsverbindliche Durchsetzung eines Geltungsanspruchs im demokratischen Verfassungsstaat nicht aus.

Selbst wenn Sie oder ich von der Wahrheit eines bestimmten Satzes fest überzeugt sind und deswegen natürlich alle subjektive Legitimation haben, an dieser Überzeugung festzuhalten – der Wahrheitsanspruch begründet den Geltungsanspruch nicht, jedenfalls nicht im politischen Kontext. Wir unternehmen, wenn Sie so wollen, eine gewisse intellektuelle Akrobatik, die wir uns in der Konstruktion eines demokratisch verfassten, säkularen Staates zumuten, der auf dieser Trennung von Staat und Religion besteht, obwohl er diese Trennung ganz wesentlich religiösen Überzeugungen verdankt.

Nun will ich, gerade weil dies so ist, in meiner fünften Bemerkung das Missverständnis möglichst ausräumen, das weitverbreitet ist: Die Säkularisierung und der Verlust religiöser Orientierungen, möglicherweise gar die Preisgabe religiöser Überzeugungen, sei der unvermeidliche Preis der Moderne. Das halte ich zum einen aus den eben genannten – historischen und systematischen – Gründen für offenkundig falsch. Es ist zum anderen aber offenkundig auch empirisch falsch. Weltweit sind die Religionen nie aus der Politik verschwunden. Wir erleben im Gegenteil gerade am Beginn des 21. Jahrhunderts eine erstaunliche weltweite Revitalisierung der Bedeutung von Religionen im öffentlichen Raum. Interessanterweise fast überall außerhalb Europas stärker als in Europa, was vielleicht das Missverständnis erklärt, das bei uns weit verbreitet ist, anderswo aber auf schlichtes Unverständnis stößt, dass nämlich in modernen Gesellschaften Religionen keine Bedeutung mehr hätten. Wir erleben sogar eine bemerkenswerte, teilweise erschreckende Instrumentalisierung und Politisierung von Religion mit fundamentalistischen Ansprüchen. Wir haben es heute also, etwas idealtypisch gesprochen, mindestens mit zwei sehr unterschiedlichen Formen von Religiosität in Zeiten der Globalisierung zu tun. Das eine ist die persönliche Religiosität im Rahmen gesicherter, rechtstaatlicher Demokratie, als ein geschützter Raum persönlicher Entfaltung. Und das andere ist die politisierte Religion mit fundamentalistischen Machtansprüchen, die inzwischen eine bemerkenswerte globale Entfaltung erreicht hat. Und wenn wir jetzt mehr Zeit hätten, als ich Ihnen, jedenfalls in einem solchen Vortrag, zumuten darf und will, müsste man jetzt über das, wie ich es empfinde, Dilemma der demokratischen Öffnung in arabischen Staaten sprechen, die vor genau dem Problem stehen, dass die Überwindung autoritärer Regime, gerade bei religiös geprägten Bevölkerungsteilen, einen Gestaltungsanspruch nach sich zieht, der mit dem Liberalisierungs- und Demokratisierungsversprechen dieses Aufbruchs strukturell unvereinbar ist. Weswegen die Frage jedenfalls heute nicht zu beantworten ist, ob das, was wir etwas voreilig arabischer Frühling genannt haben, zu einem strahlenden Sommer führt oder einem frühen Herbst, vielleicht auch einem bitteren Winter. Jedenfalls liegt in dieser Verbindung von zwei sich unmittelbar im Wege stehenden Veränderungs-, Gestaltungs- und Geltungsansprüchen eine riesige Brisanz, die zu bewältigen eine enorme Aufgabe darstellt.

Ich glaube, als meine sechste Bemerkung, dass wir es gegenwärtig, was das Verhältnis von Politik und Religion betrifft, mit zwei großen ähnlich weit verbreiteten Missverständnissen zu tun haben: Das eine ist die Anmaßung, religiöse Glaubensüberzeugungen für unmittelbar geltendes Recht zu nehmen und im wörtlichen wie im übertragenen Sinne zu exekutieren. Einen Anspruch, den wir nicht nur in beachtlichen Teilen der Welt, im Selbstverständnis religiös sich verstehender Staaten und ihrer Regime beobachten können, sondern den wir auch in der eigenen multikulturell gewordenen Gesellschaft mit unterschiedlichen Geltungsansprüchen von Vertretern dieser oder jener religiösen Gruppierung immer wieder beobachten können – das Missverständnis über das Verhältnis von Politik und Religion. Das andere Missverständnis ist die Arroganz, freundlicher formuliert, die Leichtfertigkeit, religiöse Überzeugungen für überholt, belanglos oder irrelevant zu erklären. Das zweite Missverständnis ist kaum weniger gefährlich als der erste. Es ist in unseren Breitengeraden aber weiter verbreitet als der erste und nicht wenige, auch manche namenhaften deutsche Intellektuelle haben sich in der guten Absicht der Zurückweisung des ersten Irrtums an der Verbreitung des zweiten Irrtums tatkräftig beteiligt. Religion ist aber nicht belanglos und schon gar nicht irrelevant. Aus der richtigen Zurückweisung fundamentalistischer Überzeugungen und Gestaltungsansprüche darf eben nicht geschlussfolgert werden auf die Irrelevanz von religiösen Überzeugungen, zumal, wie vorhin erläutert, gerade auch der liberale Staat auf religiöse Bezüge und Begründungen nicht verzichten kann und darf.

Wenn Sie noch einen Augenblick Geduld haben, würde ich gerne noch einige Sätze zum Verhältnis von Glaube und Kirche sagen, obwohl ich mich spätestens damit auf ein Gelände begebe, von dem ich selbst nicht behaupte, ich sei von überlegenem Sachverstand und könne ex cathedra erläutern, wie es wirklich ist. Ich möchte Ihnen aber einige Eindrücke wiedergeben, die ich als teilnehmender Beobachter und praktizierender Christ über die auch nicht einfache Beziehung zwischen Religion und Kirche gesammelt habe – und auch über das damit verbundene Verhältnis von Kirchen und Politik.

Ich beginne mit dem statistischen Hinweis, den ich vorhin bereits angedeutet habe, als es um die von Böckenförde reklamierte Homogenität unserer Gesell-schaft ging und unserem, vermutlich gemeinsamen, Eindruck, dass es damit wohl vorbei ist. Auch statistisch gibt es dafür manchen Hinweis: In Deutschland gehören heute zwar noch gut zwei Drittel der Menschen einer Religionsgemeinschaft an, aber ein Drittel eben keiner und von den zwei Dritteln, die einer Religionsgemeinschaft angehören, gehören keine 60 Prozent mehr den beiden großen christlichen Religionsgemeinschaften an. Was wiederum bedeutet, dass, bezogen auf die gesamte in Deutschland lebende Bevölkerung, deutlich weniger als die Hälfte einer christlichen Religionsgemeinschaft angehört. Die andere oder mehr als die Hälfte gehört anderen oder keinen Religionsgemeinschaften an. Wobei ich glaube, dass Sie, Herr Steinacker, in ihrem außerordentlich klugen Einleitungsbeitrag zum Programmheft, den wie ich finde zutreffenden Hinweis gegeben haben, dass wir auch heute Formen von missionarischem Atheismus beobachten können, die mit ähnlich fundamentalistischer Gebärde auftreten, wie manche Religionsgemeinschaft. Jedenfalls kann von einer Homogenität der Gesellschaft mit Blick auf religiöse Orientierungen ganz gewiss keine Rede sein. Die Heterogenität hat deutlich zugenommen, die Homogenität abgenommen. Nun gibt es eine ganze Reihe von Untersuchungen, auch aus jüngerer Zeit, die die Glaubensüberzeugung und ihre Verbreitung in unserer Gesellschaft zum Gegenstand haben und mir fällt auf, dass diese Untersuchungen sehr unterschiedlich wahrgenommen und gelesen werden. Das, was an Zustimmungen und Ablehnungen, Zurückhaltungen, Distan-zierungen zu klassischen Glaubensüberzeugungen beschrieben wird, betrachten die einen als den Nachweis einer massiven Erosion von Glaubensüberzeugungen, während die anderen sagen, es gäbe doch, gerade wenn man die statistische Entwicklung einer immer geringeren Anzahl der einer Religion angehörender Menschen betrachtet, noch eine erstaunlich beständige Stabilität von Glaubensüberzeugungen. Für beides gibt es in der Tat Belege. Ich will Sie da auch gar nicht mit Einzelheiten belästigen, ich will nur darauf aufmerksam machen, dass ich es auffällig finde, dass in einer Gesellschaft, die sich rein statistisch gesehen mit Blick auf religiöse Bindungen so signifikant verändert hat wie die bundesdeutsche Gesellschaft in den letzten sechzig Jahren, es, gerade in den letzten zwanzig bis dreißig Jahren, nach wie vor eine überragende Akzeptanz der Bedeutung religiöser Werte im Allgemeinen und der christlicher Werteüberzeugungen im Besonderen gibt. Und dass auch und gerade Menschen, die von sich selbst erklären, dass sie keine oder nur eine geringe religiöse Bindung haben, mit Blick auf Wertvorstellungen die Unverzichtbarkeit gerade derjenigen religiösen Werte bestätigen, von denen sie selber sagen: „Och, für mich persönlich nicht unbedingt so entscheidend, aber muss schon sein.“ Hochinteressant! Und noch interessanter finde ich, dass mit dieser zur statistischen Entwicklung konträr verlaufenden stabilen Überzeugung von der Bedeutung religiöser Werte eine dramatisch zurückgehende Kirchenbindung einhergeht. Nicht nur unter denjenigen, die für sich erklären, Religion habe für sie keine besondere persönliche Bedeutung, sondern auch und gerade unter denjenigen, die erklären, dass dies für sie eine hohe Bedeutung habe. Gerade diese erklären immer mehr, dass die Zugehörigkeit zu einer Kirche für sie nur eine geringe Bedeutung habe. Mit anderen Worten: Wir leben in einer zunehmend heterogenen Gesellschaft mit einem immer geringeren Anteil von religiös gebundenen Menschen, von denen wiederum die allermeisten aber erklären, dass religiöse Orientierungen für sie von erheblicher Bedeutung seien und von denen nur noch eine Minderheit über eine ausgeprägte Kirchenbindung verfügt.

Welche Schlussfolgerungen daraus zu ziehen sind, werde ich jetzt nicht beantworten. Ich will nur noch auf eine interessante Parallele aufmerksam machen, von der ich wieder etwas mehr verstehe als von dem Thema, auf das ich mich gerade leichtsinniger Weise begeben habe. Wir haben nämlich in der Politik einen ganz ähnlichen Befund: Es gibt ganz sicher kein rückläufiges Interesse an Politik, wir haben im Gegenteil sogar ein deutlich messbares, zumindest reklamiertes, erweitertes Beteiligungsbedürfnis der Menschen an möglichst allem und jedem. Im kommunalen Bereich ist es ganz offensichtlich: die Anzahl von Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden hat in den letzten zehn Jahren dramatisch zugenommen, und viele halten für den einzigen wesentlichen Mangel des Grundgesetzes, dass es die Möglichkeit von Plebisziten auf Bundesebene nicht vorsehe und damit nicht die Möglichkeit bestünde, über den Einsatz deutscher Soldaten in Afghanistan, über die Abschaltung von Kernkraftwerken oder den Bau von Flughäfen durch Volksentscheide zu befinden. Von einem rückläufigen Interesse an Politik kann also ganz sicher keine Rede sein, die meisten Menschen behaupten mindestens, sie wollten an politischen Entscheidungsprozessen möglichst selbst beteiligt werden. Dass sich das dann übrigens, wenn es konkret wird, erstaunlich ausdünnt und dass bei genauem Hinsehen das reklamierte allgemeine Interesse an Beteiligung sich im konkreten Sachverhalt auf das Interesse von Interessenten reduziert, die an bestimmten Entscheidungen, meistens an der Verhinderung beabsichtigter Entscheidungen, besonders interessiert sind, muss ich jetzt gar nicht vertiefen, gehört jedoch zu der Lebenswirklichkeit, die Ihnen allen hinreichend vertraut ist. Gleichzeitig ist aber nicht nur die Attraktivität, sondern vor allem das Vertrauen in politische Institutionen dramatisch zurückgegangen.

Die Politik macht insofern eine ganz ähnlich Erfahrung wie die Kirchen: dass nämlich ihre jeweilige „Kundschaft“ die Relevanz des Produktes ausdrücklich bestätigt, aber mit den, um im Wirtschaftsbild zu bleiben, Handelsorganisationen möglichst wenig zu tun haben will. Parlamente, Regierungen, Verfassungsinstitutionen, insbesondere Parteien, haben ein dramatisch niedriges Ansehen, wobei mich nicht wirklich tröstet, dass dies kein exklusiver Befund ist für die Politik, sondern ein genereller gesellschaftlicher Befund. Nennen Sie mir nur einen gesellschaftlichen Bereich, der nicht von einem massiven Vertrauensverlust betroffen wäre – es gibt fast keinen, ausgenommen vielleicht die Feuerwehr.

Der Punkt, um den es mir hier geht, ist, dass nach meinem Eindruck auf die dramatisch zurückgegangene Bindungsbereitschaft von Menschen, die sich für Politik beziehungsweise für Religion interessieren, beide Bereiche, die Kirchen wie die Politik, reflexhaft reagieren. Die Parteien in der Weise, dass sie als Erklärung eine sogenannte Politikverdrossenheit ausgeben und die Kirchen einen Glaubensverlust. Ich finde beides entschieden zu preiswert und ich glaube, beides stimmt so nicht. Es ist eine bequeme Erklärung für ein entweder nicht lösbares oder jedenfalls von den unmittelbar Zuständigen nicht lösbares Problem, weil es scheinbar außerhalb der eigenen Zuständigkeit liegt. Anders formuliert: Ich habe weder den Eindruck, dass wir es bei ruhiger, nüchterner Betrachtung in Deutschland mit Politikverdrossenheit zu tun haben noch mit Glaubensverlust. Folglich müssen sich diejenigen, die Politik organisieren und diejenigen, die die Religion organisieren, mit der Frage beschäftigen, warum Menschen, die sich für Politik interessieren, kein Interesse an Parteien haben und Menschen, die Religion wichtig finden, Kirchen uninteressant finden. Ich habe dazu ein bemerkenswertes Zitat gefunden: „Der eine Rock des Herren ist zerrissen zwischen den streitenden Parteien, die eine Kirche auseinander geteilt in die vielen Kirchen, deren jede mehr oder minder intensiv in Anspruch nimmt, allein im Recht zu sein. Und so ist die Kirche für viele heute zum Haupthindernis des Glaubens geworden. Sie vermögen nur noch das menschliche Machtstreben, das kleinliche Theater derer in ihr zu sehen, die mit ihrer Behauptung, das amtliche Christentum zu verwalten, dem wahren Geist des Christentums am meisten im Wege zu stehen scheinen.“ Das Zitat stammt von Josef Ratzinger. Da war er jedoch noch nicht Papst! Wie ich überhaupt immer wieder die Erfahrung mache, dass bei der Lektüre bedeutender Leute vor allem die Schriften lohnen, die sie vor der Übernahme ihrer hohen Ämter verfasst haben. Dieses Zitat jedenfalls stammt aus seinem zweifellos bedeutenden Buch „Einführung in das Christentum“ und macht das Problem klar, das ich meine und von dem ich glaube, dass wir uns damit nüchtern auseinandersetzen müssen.

Dass wir längst nicht mehr in einer homogenen, sondern in einer heterogenen, multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft leben, bedarf, glaube ich, keiner statistischen Beweisführung mehr, auch dass nichts für die Vermutung spricht, dass dies nur ein Übergangszustand sei, der sich in absehbarer Zeit zugunsten von Uniformität oder Homogenität wieder korrigieren ließe. Und weil das so ist, wird die Frage umso bedeutender: Wie kann eigentlich in einer immer heterogeneren Gesellschaft mit teils nicht mehr, teils weniger, teils ausgeprägten aber unterschiedlichen religiösen Orientierungen, Einheit gestiftet werden? Denn zu den gesicherten Erfahrungsgeschichten der Menschheit gehört eben auch, dass ohne ein Mindestmaß von Einheit Vielfalt nicht zu ertragen ist. Zu glauben, der innere Zusammenhalt einer Gesellschaft ließe sich umso einfacher sichern, je mehr möglich ist und je weniger verbindlich, gehört zu den gelegentlich gepflegten, aber nicht wirklichkeitsnahen Illusionen.

Das führt mich zum Schluss noch einmal zu dem Hinweis auf die überragende Notwendigkeit von Toleranz, die deswegen mit vollem Recht das zentrale Thema hoffentlich nicht nur dieses Jahres der Lutherdekade auf dem Weg zum 500. Jahrestag der Reformation ist. Wo beginnt Toleranz und wo hört sie auf? Toleranz beginnt immer mit der Erfahrung des Anderen, des anderen Menschen, der anderen Überzeugungen, der anderen Veranlagungen, der anderen Interessen, der anderen Auffassungen und Meinungen, der anderen Ziele und Bedürfnisse. Toleranz ist mehr als Kenntnis, ist auch mehr als Kenntnisnahme, dass etwas so ist, wie es ist. Sie muss auch mehr sein als die Duldung des Anderen, als die stille Resignation, dass es sich auch ohnehin nicht verändern oder vermeiden lasse. Toleranz ist die Akzeptanz des Anderen, die Bereitschaft zu verstehen, warum etwas so ist, wie es ist, sich darauf einzulassen und es möglich sein zu lassen. Nicht alles was sich als Toleranz ausgibt, genügt höheren Ansprüchen. Toleranz ist aber auch deswegen eine besonders anspruchsvolle Haltung, weil sie leicht zur Legitimation von Rücksichtslosigkeiten werden kann, aber natürlich nicht werden darf. Toleranz ist nicht immer und überall weise, sie kann auch dumm sein, blind, bequem, leichtfertig, gefährlich, manchmal lebensgefährlich. Deshalb ist es im Namen der Toleranz erlaubt und manchmal dringend geboten, Intoleranz nicht zu tolerieren. Heute, in Zeiten der Globalisierung, ist der Dialog der Religionen und Kulturen der Welt ähnlich wichtig und ähnlich schwierig, wie die Begegnung der Christen unterschiedlicher Konfessionen nach der Reformation, zumal die Religion, im Unterschied zur Politik, auf Wahrheitsansprüche nicht verzichten will und kann. Bei dem bedeutenden islamischen Mystiker Rumi habe ich einen Satz gefunden, der in einer kaum überbietbaren Prägnanz verdeutlicht, worum es geht bei dieser gemeinsamen Aufgabe von Christen, Juden, Moslems, Hinduisten, Buddhisten in der Welt von heute, im notwendigen Dialog der Gläubigen wie der Ungläubigen miteinander: „Draußen, hinter den Ideen von rechtem und falschem Tun kommt ein Acker. Wir treffen uns dort. Das ist die ganze Aufgabe. Aber um diese Aufgabe zu erledigen bedarf es zweier Voraussetzungen: Erstens muss man sich treffen wollen und zweitens muss man den Acker tatsächlich bearbeiten.“ Man muss sich treffen. Man muss tatsächlich arbeiten. Und man muss es wollen.

Vielen Dank für Ihre Geduld!
Prof. Dr. Norbert Lammert
Präsident des Deutschen Bundestages

Parlament

Kai-Uwe von Hassel – Parlamentarier und Präsident des Deutschen Bundestages

Wir beginnen heute unsere Arbeit in einem immer noch geteilten Deutschland. In einem geteilten Europa, in einer Welt, die unruhig ist und deshalb damit fertig werden muss, Krisen zu bewältigen und Gegensätze zu überwinden. Wir werden uns weiter um die Unterstützung der ganzen Welt für das Recht aller Deutschen auf Selbstbestimmung bemühen. Unser ganzes Volk erhofft sich von unserer Arbeit Fortschritt in der Bewältigung eines europäischen Zustandes, der noch gegen alle Vernunft von Barrieren, von Minenfeldern und Stacheldraht diktiert wird.

Diese drei Sätze stammen aus der Antrittsrede, die Kai-Uwe von Hassel bei seiner Wiederwahl als Präsident des Deutschen Bundestages am 20. Oktober 1969 gehalten hat. Sie hören sich an wie Worte aus einer anderen Welt. Diejenigen, die heute in Deutschland leben und 25 Jahre alt oder jünger sind, haben die Verhältnisse nie kennengelernt, die Kai-Uwe von Hassel als die herausragenden Aufgaben der damaligen Zeit und des damals gerade neu zusammengetretenen Parlaments beschrieben hat. Kai-Uwe von Hassel hat mit seinem politischen Wirken ganz wesentlich dazu beigetragen, dass die Welt am Ende des 20. Jahrhunderts gründlich anders ausgesehen hat als zu seinem Anfang.

Eric Hobsbawm, der bedeutende britische Historiker, hat das 20. Jahrhundert einmal als das kurze Jahrhundert beschrieben, das in seiner Interpretation mit dem 1. Weltkrieg 1914 begonnen und mit dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 zu Ende gegangen sei. Danach – mit dem Zusammenbruch des Kommunismus, mit der Auflösung des Warschauer Paktes, mit dem Zusammenwachsen Europas – habe das 21. Jahrhundert begonnen: Die Zeit, in der wir heute leben, während das 19. Jahrhundert mit der Gründung der Nationalstaaten, ihrer Etablierung, ihrer Konkurrenz, ihrer immer ausgeprägteren Rivalität in den 1. Weltkrieg gemündet sei.

Kai-Uwe von Hassel, 1913 geboren, 1997 gestorben, hat diese gesamte Zeitspanne in seiner Biografie ausgemessen. Er teilt seinen Geburtstag, den 21. April, übrigens nicht nur mit der englischen Königin, sondern auch mit Max Weber, der ihm möglicherweise noch ein bisschen näher stand und steht.

Wenige Jahre vor dem Geburtsjahr Kai-Uwe von Hassels hatte Max Weber seine berühmte Studie über den Geist des Kapitalismus und die protestantische Ethik geschrieben. Seit dieser Zeit hat sich der Geist des Kapitalismus – freundlich formuliert – noch eine Spur dynamischer entwickelt als die protestantische Ethik. Ein paar Jahre später, kurz nach dem 1. Weltkrieg, hat Max Weber in einer seiner berühmten Münchener Reden die bis heute unübertroffene Beschreibung von „Politik als Beruf“ formuliert. Mit der Beschreibung der drei herausragenden Eigenschaften, über die ein Politiker verfügen müsse: Leidenschaft, Verantwortungsbewusstsein und Augenmaß!

Politik ist bis heute kein Beruf wie jeder andere. Noch seltener ist Politik ein Beruf auf Lebenszeit. Deswegen kommt es nach wie vor eher selten vor, dass jemand fast sein ganzes Leben in politischen Ämtern und Aufgaben verbringt. Für Kai-Uwe von Hassel trifft das in einer besonders bemerkenswerten Weise zu. Es gibt nur wenige Politiker, die eine so komplette, so lange und gleichzeitig so vielseitige politische Laufbahn aufweisen wie Kai-Uwe von Hassel, der nicht nur über eine ungewöhnlich lange Zeit, sondern auch in ganz unterschiedlichen Aufgaben und Ämtern diesem Land gedient hat. Er hat als Kommunalpolitiker angefangen: als Mitglied im Flensburger Kreistag, als Bürgermeister – ziemlich genau zu dem frühestmöglichen Zeitpunkt, zu dem nach dem 2. Weltkrieg politische Betätigung in Deutschland überhaupt wieder möglich war. Er war 14 Jahre Mitglied des Landtages, 16 Jahre Mitglied des Deutschen Bundestages, danach Mitglied des Europäischen Parlaments. Er hat diesem Land in herausragenden Ämtern – in Exekutive und Legislative – gedient.

Er ist – jedenfalls nach meinem Verständnis – auch ein besonders gutes Anschauungsbeispiel für politische Bildung und ihre Aufgabe, ein tief sitzendes Missverständnis überwinden zu helfen. Nämlich das Missverständnis, dass es zu den abenteuerlichen Gewohnheiten des politischen Betriebs gehöre, mit einer erstaunlichen Regelmäßigkeit Leute in Ämter und Aufgaben zu berufen, die dafür erkennbare berufliche Voraussetzungen nicht mitbrächten. Und die – noch erstaunlicher – von einem Aufgabenbereich über Nacht in einen anderen Aufgabenbereich versetzt werden könnten, um tatsächlich oder vermeintlich mit ähnlicher oder eben nicht vermuteter Professionalität nun die neue Aufgabe zu erledigen.

Das kommt übrigens so häufig gar nicht vor; und da wo es vorkommt, ist es in erstaunlicher Regelmäßigkeit mit dem Nachweis verbunden, dass die politische Verantwortung für ein wichtiges Aufgabenfeld etwas anderes ist als der virtuelle Wettbewerb unter professionellen Fachleuten. Schon gar dann, wenn es sich nicht in dem Ehrgeiz niederschlägt, jedes Detail noch genauer zu kennen und vor allen Dingen noch besser zu wissen als die jeweilige Ministerialbürokratie oder Parlamentsverwaltung, sondern wenn es mit der Souveränität der Aufgabenwahrnehmung verbunden ist, die Führung und Verantwortung einmal mehr für einen oft großen politischen Aufgabenbereich zu übernehmen und gegenüber Parlament und Öffentlichkeit zu rechtfertigen, was überhaupt und in welcher Reihenfolge und mit welchen Dringlichkeiten geschieht.

Kai-Uwe von Hassel war ganz gewiss nicht jemand, der sich um jeweils frei werdende Ämter drängte. Aber er war jemand, der sich nicht weggeduckt hat, wenn andere meinten, dass er dafür gebraucht würde. Er hat diese Ämter dann mit genau dem erstaunlichen Maß an Professionalität, an oft unauffälliger, jedenfalls unaufdringlicher Professionalität wahrgenommen, wie sich jedenfalls nach meiner Vorstellung Max Weber die Wahrnehmung politischer Ämter idealtypisch vorgestellt hat: Leidenschaftlich, mit Verantwortungsbewusstsein und vor allen Dingen mit Augenmaß!

Viele, die ihn auch und gerade in seiner schleswig-holsteinischen Zeit begleitet haben, sagen, er sei ein durchaus temperamentvoller Wahlkämpfer gewesen. Einer, dem Wahlkämpfe Spaß machten und der keinen Zweifel darüber hätte aufkommen lassen, dass er das, was er vertrat, mit Nachdruck vertreten konnte und wollte. Ausnahmslos alle bescheinigen ihm: er ist nie polemisch, schon gar aggressiv, nie persönlich beleidigend oder ausfällig geworden. Er hat Leidenschaft in der Sache und Maß in der Form in einer bewundernswerten, beispielhaften Weise miteinander verbunden.

Viele von uns – die wir uns mehr oder weniger lebenslang mit Politik beschäftigen – wissen, dass es durchaus vorkommt, dass die Wahrnehmung eines Amtes mit zunehmender Amtsdauer dem Amtsinhaber ein beachtliches Maß an Autorität verleiht. Es ist in der Regel auch gut, wenn das gelingt. Noch schöner – aber seltener – ist, dass jemand in die Übernahme eines Amtes persönliche Autorität mitbringt, die die Entfaltung der Aufgaben dieses Amtes nicht nur erleichtert, sondern in besonderer Weise befördert. Das trifft nun ganz zweifellos auf Kai-Uwe von Hassel zu, der nicht nur mit seiner sonoren, vertrauenschaffenden Stimme, die zur Vermittlung dieser Autorität ganz gewiss behilflich war, sondern in der Art und Weise, in der er das jeweilige Amt ausübte durch die Verbindung von Person und Amt die Autorität etablierte und vermittelte, die – schon gar in einer demokratisch verfassten Gesellschaft – unverzichtbare Voraussetzung für die Vermittlung gerade weniger populärer, umstrittener, kontroverser Sachverhalte ist.

Dies lässt sich übrigens an einem Bereich besonders gut beobachten, der mir als einem seiner Nachfolger im Amt des Parlamentspräsidenten und uns, die wir heute im Deutschen Bundestag Mandate wahrnehmen, bis heute besonders wichtig ist. Kai-Uwe von Hassel hat im Übrigen in den beiden besonders prominenten bundespolitischen Ämtern jeweils keine leichten Nachfolgen angetreten– Franz Josef Strauß als Verteidigungsminister nachzufolgen - und auf Eugen Gerstenmaier nach fast 16 Jahren als Parlamentspräsident zu folgen: da lassen sich einfachere Sukzessionen denken. Wir Abgeordnete verdanken Kai-Uwe von Hassel die erste ernsthafte Parlamentsreform in der Deutschen Parlamentsgeschichte. Was ich besonders beachtlich finde: Er hat sie in seiner ersten kurzen Amtsperiode zum Ende der Großen Koalition kurzfristig auf den Weg gebracht und mit Erfolg abgeschlossen.

In diesem Jahr sollen ja auch wieder Wahlen stattfinden, es gibt ja auch erste Überlegungen, was in der verbleibenden Zeit denn noch ernsthaft versucht, und wenn versucht, auch mit Aussicht auf Erfolg vorangetrieben werden könnte. Insofern habe ich eine lebhafte Vorstellung über das, was man im letzten Jahr einer Legislaturperiode mit Aussicht auf Erfolg bewegen kann. Umso bemerkenswerter ist es, dass Kai-Uwe von Hassel nach seiner überraschenden Wahl in das Amt des Bundestagspräsidenten als eine seiner ersten Initiativen eine Kommission von elf Kolleginnen und Kollegen aus allen Fraktionen zusammenrief, mit dem Ziel, über Reformen der Parlamentsarbeit nicht nur nachzudenken, sondern Vorschläge zu entwickeln. Selbstverständlich übernahm er auch den Vorsitz dieser Kommission und erwischte mit einem bemerkenswerten Gespür für die Situation sowohl innerhalb wie außerhalb des Parlaments einen glücklichen Augenblick, um solche Veränderungen überhaupt bewerkstelligen zu können.

Das war die Endphase einer großen Koalition, die – wie sich der eine oder andere noch erinnern wird – dadurch gekennzeichnet war, dass beide Koalitionspartner nicht wissen konnten, ob sie nach der Bundestagswahl im Herbst des Jahres 1969 in der Regierung oder in der Opposition sein werden.

Und das ist – wie ich nicht erläutern muss – präzise die Situation, in der man – wenn überhaupt – mit Aussicht auf Erfolg breite Mehrheiten für die Stärkung parlamentarischer Mitwirkungsrechte gegenüber der Regierung beschließen kann. Sobald die Rollenverteilung klar scheint, können Sie das Thema vergessen.

Es war zweitens gleichzeitig eine Situation, in der eine vergleichsweise große Zahl von selbstbewussten Parlamentariern keine auskömmliche Beschäftigung hatte und sich deswegen mit umso größerer Liebe diesem Thema widmete und dafür – wegen der ungefährdeten Mehrheiten der Regierung – auch einen hinreichenden Spielraum hatte.

Und drittens war es die Zeit einer außerparlamentarischen Opposition, so dass allein schon aus diesem Grund eine besondere Sensibilität da war, was die Leistungsfähigkeit und die Legitimation parlamentarischer Verfahren anging.

Das hat Kai-Uwe von Hassel offenkundig nicht nur zutreffend erkannt, sondern als Plattform für die Reformbemühungen genutzt, die zu – bis heute – nachhaltigen Veränderungen geführt haben. Darunter ist möglicherweise die Einführung der Aktuellen Stunde nicht unbedingt der Jahrhundertsprung in der Außendarstellung des Deutschen Bundestages geworden, was aber nicht ihm vorzuwerfen ist, sondern denjenigen, die damals wie heute bei Aktuellen Stunden auftreten. Aber in seiner Zeit ist zum ersten Mal das Instrument Enquetekommission des Deutschen Bundestages entwickelt worden und der Anfang der Etablierung eines wissenschaftlichen Dienstes. Der gehört inzwischen – mit seiner im Laufe der Jahre und Jahrzehnte natürlich deutlich gewachsenen Größe – zu den Säulen des parlamentarischen Betriebs. Und dass der Bundestag heute im internationalen Vergleich zwar vielleicht nicht das beste Parlament der Welt ist – das ist ja in Brüssel, lieber Hans-Gert Pöttering – so ist er  sicher eines der bestausgestatteten Parlamente der Welt.

Das verdanken wir ganz wesentlich den Initiativen, die damals begonnen haben, mit der Erweiterung der Rahmenbedingungen für die legislative Gewalt eines demokratischen Staates, am Ende der fünften, umgesetzt dann zu Beginn der  sechsten Legislaturperiode.

Alle, die Kai-Uwe von Hassel in exekutiven wie in legislativen Spitzenämtern kennen gelernt haben, haben die persönliche Bescheidenheit gerühmt, mit der er auch und gerade in solchen herausgehobenen Ämtern – sowohl im persönlichen Umgang wie öffentlich – aufgetreten ist. Und vielleicht war das auch ein Teil des Erfolgsgeheimnisses der Autorität, die ihm allgemein zugebilligt worden ist.

Bequem ist er keineswegs immer gewesen, auch nicht innerhalb der eigenen Fraktion. Ich habe noch einmal nachgelesen, dass er sich zu einem frühen Zeitpunkt für die Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union eingesetzt hat. Das war damals wie heute kein Selbstläufer und eher ein Gegenstand für kontroverse als für einvernehmliche Diskussionen. Wie er das Thema heute beurteilen würde, ist eine schöne Spekulation, der ich jetzt keinen weiteren Raum geben möchte. Seine persönlich feste Verwurzelung in der Evangelischen Kirche in Deutschland hat ihn keineswegs davon abgehalten, sich auch gegenüber seiner Kirche gelegentlich kritisch zu äußern. Und ich finde – ohne auch dieser Spekulation nachgehen zu wollen – allein die Vorstellung reizvoll, wie er sich wohl auf unserem gemeinsamen Marsch in das 500. Jahr der Reformation mit Blick auf kirchliche und außerkirchliche Anliegen in diesem Zusammenhang eingebracht hätte.

Von Kai-Uwe von Hassel stammt der schöne Satz: „Was ich am meisten verabscheue, das ist die traurige Rolle des “objektiven Beobachters„, dessen der unbeteiligt tut oder ist. Man soll nicht Zuschauer, man soll Zeuge sein, mittun und Verantwortung tragen. Der Mensch ohne mittuende Verantwortung zählt nicht.

Meine Damen und Herren, jeder Mensch zählt. Aber jeder Mensch, der Verantwortung übernimmt, für sich selbst, für andere, nicht nur für die eigenen Angehörigen, sondern für die Gemeinschaft im Ganzen, zählt doppelt. So wie Kai-Uwe von Hassel: Ein großer Parlamentarier, ein bedeutender Repräsentant der christlich-demokratischen Bewegung in Deutschland und Europa, eine eindrucksvolle Persönlichkeit.

So behalten wir ihn in Erinnerung!

Parlament

Rede zur feierlichen Sitzung des Parlaments Ungarn zum Gedenken an die Vertreibung der Deutschen am 11. März 2013 in Budapest

Es gilt das gesprochene Wort

Sehr geehrter Herr Präsident,
liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem ungarischen
und dem deutschen Parlament und den beiden Regierungen,
verehrte Gäste!


Es ist immer wieder eine Freude, in diesem grandiosen Parlamentsgebäude zu Gast zu sein und deswegen möchte ich mich zu Beginn bei Ihnen, lieber Kollege Kövér, ganz herzlich für diese freundliche Einladung bedanken, auch im Namen aller Mitglieder meiner Delegation.

Meine Damen und Herren, im Freundschaftsvertrag zwischen Ungarn und Deutschland aus dem Jahr 1992 ist von „in Jahrhunderten gewachsener traditioneller Freundschaft zwischen unseren beiden Ländern und Völkern“ die Rede. Es gehört vielleicht zu den Besonderheiten der deutsch-ungarischen Beziehungen, dass eine solche Bemerkung kaum noch wahrgenommen und längst für selbstverständlich gehalten wird. Mindestens im Kontext der deutschen Geschichte ist diese Bemerkung aber ganz und gar nicht selbstverständlich, sondern eine geradezu aufregende Besonderheit, denn es gibt nicht viele Länder in Europa, von denen wir das in gleicher Weise behaupten könnten. Ungarn wie Deutsche haben eine tausendjährige europäische Geschichte und gelegentlich empfiehlt es sich, daran zu erinnern, dass die vielfältigen Kontakte und Beziehungen über die Jahrhunderte hinweg einschließlich mancher Turbulenzen zum größeren Teil in einer Zeit stattgefunden haben, in der weder Deutsche noch Ungarn über einen eigenen souveränen Nationalstaat verfügt haben. Heute – in Zeiten der Einbindung von Nationalstaaten in eine europäische Staaten- und Wertegemeinschaft – gibt es besonderen Anlass, an diese Zusammenhänge zu erinnern. Der Beitrag, den Ungarn für die Überwindung der deutschen Teilung und die Wiederherstellung der Einheit Europas geleistet hat, ist nicht nur im Gedächtnis der Deutschen fest verankert, sondern auch in der Seele unseres Landes. Die meisten von Ihnen wissen, dass dies auch in einer Tafel zum Ausdruck kommt, die seit 20 Jahren am Reichstagsgebäude, dem Sitz des Bundestages, verankert ist, um an diesen besonderen Beitrag Ungarns zur Wiederherstellung der deutschen staatlichen Einheit und zugleich zur Wiederherstellung der europäischen Einheit zu erinnern. Auch deshalb, sehr geehrter Herr Präsident, lieber Kollege Kövér, habe ich die Einladung zu dieser Veranstaltung gerne angenommen.

Sie haben mit Ihrer Einladung der Nationalversammlung aus Anlass der Erklärung des 19. Januar zum nationalen Gedenktag der aus Ungarn vertriebenen Deutschen in Ihrem Einladungsschreiben erklärt: „Mit Hinblick auf die Ereignisse der Gegenwart ist es uns ein besonderes Anliegen, mit solchen Beschlüssen und Entscheidungen Maßstäbe zu setzen und zu zeigen, dass keine Bevölkerungsgruppe diskriminiert werden darf. Man darf zwischen den Menschen aufgrund ihrer ethnischen Herkunft oder religiösen Überzeugungen keinen Unterschied machen, denn wo eine Minderheit ihrer Rechte beraubt werden kann, kann dies auch der Mehrheit widerfahren. Ungarn ist und bleibt ein starker Befürworter der universellen Menschenrechte und der Grundfreiheiten.“ Sie haben dies, Herr Präsident, mit anderen Worten gerade in Ihrer Begrüßungsansprache bekräftigt.

Es wäre, meine Damen und Herren, liebe ungarische Parlamentskolleginnen und
-kollegen, ein Verstoß gegen die Ernsthaftigkeit unserer besonderen Beziehungen, wenn ich die Besorgnisse nicht zum Ausdruck brächte, die es in der europäischen Gemeinschaft, im Europarat, aber auch in Deutschland mit Blick auf weitere Änderungen und Ergänzungen Ihrer Verfassung gibt, über die Sie heute Nachmittag abschließend beraten und entscheiden wollen. Der Reifegrad einer Demokratie kommt nicht in der Geltung von Mehrheitsentscheidungen zum Ausdruck, sondern im Umgang mit Minderheiten, und das gilt nicht nur für ethnische oder religiöse Minderheiten. Die Rechte von Minderheiten sind von Mehrheiten nicht zu gewähren oder zu verweigern, sondern zu respektieren – das ist eine der großen Lektionen der jüngeren, europäischen Geschichte.

Wer eine schreckliche Vergangenheit nicht in die Zukunft verlängern will, muss die Lektionen der Geschichte lernen, soweit sich überhaupt über Generationen hinweg Erfahrungen vermitteln und Einsichten in notwendige Veränderungen umsetzen lassen. Menschen, die persönlich schuldlos, Opfer politischer Verwicklungen, staatlich veranlasster Verirrungen oder Verbrechen geworden sind, haben einen Anspruch darauf, mit ihrem Schmerz, mit ihrem Schicksal nicht allein gelassen zu werden. Dies ist nicht nur, aber eben auch eine staatliche Aufgabe, die nicht allein mit Denkmälern, Gedenksteinen und Museen zu erledigen ist, die es inzwischen in unseren Ländern tausendfach gibt.

Meine Damen und Herren, die jüngere Geschichte Ungarns zeichnet sich durch eine eindrucksvolle Serie von Gesten der Versöhnung aus. Nirgendwo in Mittel- und Osteuropa ist dies früher und überzeugender gelungen. Wir wären in mancherlei Beziehung im europäischen Integrationsprozess weiter, wenn ich das von anderen Nachbarländern in ähnlicher Weise feststellen könnte, wie ich das mit Respekt und Dankbarkeit gegenüber Ihrem Land ausdrücklich tue. Schon die Tatsache, dass der damalige Innenminister István Bibó aus Protest gegen die Vertreibung der Deutschen aus Ungarn 1946 zurücktrat, war ein erstes deutliches, damals scheinbar folgenloses Zeichen gegen das Unrecht der Vertreibung. Das ungarische Parlament hat schon im März 1990 die Vertreibung in aller Form verurteilt und die Opfer und deren Nachkommen um Vergebung gebeten. Und ich werde nie die Gedenkkonferenz aus Anlass des 60. Jahrestags der Entrechtung und Vertreibung der Ungarndeutschen vergessen, die im November 2007 auf Einladung der damaligen Parlamentspräsidentin Katalin Szili hier im ungarischen Parlament stattgefunden hat. Diese denkwürdige Veranstaltung gehört für mich zu den tiefsten Eindrücken und nachhaltigsten Erfahrungen einer inzwischen über 30-jährigen politischen Laufbahn. Sie selbst, Herr Kollege Kövér, haben diese damalige Gedenkkonferenz zu Recht als ein bedeutendes Ereignis charakterisiert, und ich füge gerne hinzu: Das war ein Ereignis, das im Sinne Ihres Einladungsbriefes Maßstäbe gesetzt hat. Nicht nur im eigenen Land, sondern weit darüber hinaus.

Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, jede Kultur beruht auf Erinnerung. Jede Verfassung beruht auf Kultur. Sie beginnt mit Erinnerung, sie will freilich darüber hinaus, aber ohne Erinnerung hätte sie nicht einmal begonnen. Für uns Europäer gilt und muss gelten (schon gar im Kontext einer noch immer in Veränderungen und Erweiterungen befindlichen Gemeinschaft – nach Überwindung der politischen Teilung dieses Kontinents, die nie, zu keinem Zeitpunkt eine kulturelle Trennung war), dass wir im Bewusstsein der gemeinsamen Vergangenheit eine gemeinsame Zukunft möglich machen müssen. Das ist nicht einfach, aber es ist möglich und nötig ist es ganz gewiss. Und wir sollten das tun im Geiste der besonderen Erfahrungen und der besonderen Beziehungen, die gerade zwischen unseren beiden Ländern bestehen – wie es auf der Tafel am Reichstagsgebäude in Berlin zum Ausdruck gebracht wird: „Zeichen der Freundschaft zwischen dem deutschen und dem ungarischen Volk für ein vereinigtes Deutschland, für ein unabhängiges Ungarn und für ein demokratisches Europa.“

Parlament

Rede zum Pressempfang und zur Verleihung des Medienpreises Politik am 27. Februar 2013

Es gilt das gesprochene Wort

Guten Abend meine Damen und Herren,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
liebe Nominierte und Preisträger des heutigen Abends!

Ich begrüße Sie alle miteinander herzlich zum traditionellen Medienempfang des Deutschen Bundestages mit der Verleihung des Medienpreises des Bundestages. Ich freue mich über die große Resonanz, die unsere Einladung auch in diesem Jahr wieder hat. Besonders gut gefällt mir, dass diesmal – relativ zu der Zahl der verschickten Einladungen – die Beteiligung der Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag ähnlich stark ist wie bei den eingeladenen Vertretern der Medien. Das trägt ganz gewiss dazu bei, den Zweck der Veranstaltung zu sichern und zu fördern, den wir über die Preisverleihung hinaus ja ausdrücklich gemeinsam verfolgen: nämlich ohne sonstigen förmlichen Anlass Gelegenheit für ganz informelle, folgenlose Gespräche zu bieten.

Der diesjährige Medienempfang und die diesjährige Preisverleihung finden an einem denkwürdigen Datum in einem denkwürdigen Gebäude statt. Heute auf den Tag genau vor 80 Jahren war der Reichstagsbrand, der uns heute – im Rückblick auf die dann folgenden Ereignisse – noch mehr als den damaligen Zeitgenossen als Fanal erscheint. So, als ob damals nicht nur ein Parlamentsgebäude, sondern eine Demokratie in Brand gesteckt worden wäre. Jedenfalls bleibt die diabolische Präzision bemerkenswert, mit der die erst seit wenigen Tagen im Amt befindlichen Nationalsozialisten noch in der gleichen Nacht tausende Oppositionelle verhaften ließen, insbesondere Kommunisten und Sozialdemokraten, schon am nächsten Tag in einer „Notverordnung zum Schutz von Volk und Staat“ die wesentlichen Grundrechte und damit die Substanz der Weimarer Verfassung außer Kraft setzten und dann insgesamt weniger als ein halbes Jahr brauchten, um die erste deutsche Demokratie zu liquidieren.

Um dieses Ereignis, gerade wegen seines spektakulären Erscheinungsbildes, ranken sich bis heute manche Spekulationen, auch einige Mythen. Die meisten von Ihnen werden verstehen, dass ich die sicher gut gemeinte Anregung nicht aufgreifen werde, den verbleibenden Streit unter den Historikern durch eine Bundestagskommission klären und am Ende womöglich über verschiedene Lösungsalternativen per Mehrheit entscheiden zu wollen. Nach meinem Verständnis ist dieser Reichstagsbrand eines der nicht wenigen Beispiele für bedeutende historische Ereignisse, deren Wirkungen mit den Ursachen oder gar den Motiven derjenigen, die daran ganz unmittelbar beteiligt waren, in keinem oder nur in einem sehr losen Zusammenhang stehen. Aus dem, was sich dieser oder jener als Motiv bei der Herbeiführung einer Entscheidung oder eines Ereignisses gedacht oder zurecht gelegt hat, folgen nicht notwendigerweise die damit beabsichtigten Wirkungen – und umgekehrt. Jedenfalls haben wir Anlass, nicht nur heute, sondern auch in den nächsten Wochen, an einige der Daten zu erinnern, die Markierungen gesetzt haben im Niederbrennen einer deutschen Demokratie.

Der heutige 27. Februar ist aber auch ein Jahrestag eines weit weniger spektakulären, gleichwohl bedeutenden, parlamentarischen Ereignisses. Auf den Tag genau vor 58 Jahren, am 27. Februar 1955, hat der Deutsche Bundestag in einer denkwürdigen Debatte mit einer Gesamtdebattenzeit von nahezu 50 Stunden die Pariser Verträge abschließend beraten und entschieden, mit denen im Ergebnis das Besatzungsstatut aufgehoben und die Souveränität des westdeutschen Teilstaates wieder hergestellt wurde. Wie viel davon im deutschen Fernsehen übertragen worden ist, will ich jetzt nicht weiter thematisieren. Es war jedenfalls mit und ohne diesen besonderen Aspekt in vielerlei Hinsicht ein denkwürdiger Vorgang, zumal die Schlussberatung und Schlussabstimmung an einem Sonntag stattgefunden haben, was wir uns heute auch nur schwerlich – selbst bei vergleichbar bedeutenden Ereignissen – vorstellen können. Ich weise auf dieses Datum auch deswegen hin, weil es zu den vielen beachtlichen, bedeutenden, parlamentarischen Ereignissen der Nachkriegsgeschichte gehört, die natürlich und glücklicherweise ordentlich dokumentiert sind, bis heute aber „nur“ in Papierform in Bibliotheken nachzulesen waren. Wir haben heute – pünktlich zum diesjährigen Medienempfang – alle Protokolle und Drucksachen des Deutschen Bundestages seit 1949 online ins Netz gestellt; nach einem gewaltigen Digitalisierungsprozess, bei dem in den vergangen zwei Jahren 75.000 Dokumente mit 1,25 Millionen Seiten zu digitalisieren waren. Damit haben wir die Lücke bis zur achten Legislaturperiode geschlossen, von der ab wir bereits online über diese Daten verfügten. Ich bin sicher, dass nicht nur die anwesenden Repräsentanten der Medien froh sein werden, dass es nun einen sehr leichten, praktikablen Zugang zu diesen Protokollen und Drucksachen gibt, die nicht nur dann aufgefunden werden können, wenn man die Drucksachennummer kennt, sondern auch dann, wenn man nach Stichworten sucht oder gar nach einzelnen Zitaten aus einzelnen Debatten. Es gibt ja legendäre Zwischenrufe aus der Gründungsphase der Republik, deren genaue Fundstelle man nun auf diesem Wege schnell und verlässlich ermitteln kann.

Der Brand des Reichstages heute vor 80 Jahren hatte – wenn überhaupt – den nicht ganz unbeachtlichen „Kollateralnutzen“, dass dieses Gebäude für die Zeit des Nationalsozialismus nicht mehr zur Verfügung stand. Es wurde auch nicht mehr gebraucht, unabhängig von den Brandschäden. Ich persönlich habe wenig Zweifel daran, dass es die schnelle und breite Mehrheit sonst wohl nicht gegeben hätte – die es im Deutschen Bundestag nach der sehr knappen Entscheidung für den Umzug von Parlament und Regierung nach Berlin gab – hier, genau hier und nur hier den Sitz eines frei gewählten, demokratischen Parlamentes eines wiedervereinigten Deutschland einzurichten. Im Unterschied zur ersten deutschen Demokratie ist der zweite Versuch offenkundig besser gelungen, jedenfalls deutlich stabiler. Wir haben jetzt mehr als 60 Jahre hinter uns, davon schon wieder 20 Jahre nach Wiederherstellung der Einheit unseres Landes.  Dabei ist mindestens so auffällig, denke ich, was nach dem Umzug von Bonn nach Berlin, nach Wiederherstellung der Einheit eines geteilten Landes unverändert geblieben ist, so wie auf der anderen Seite es sicher eine Reihe von bemerkenswerten Weiterentwicklungen, auch Veränderungen gegeben hat, die im Laufe einer so langen Zeit nicht wirklich überraschen können.

„Berlin-Mitte ist zu einer Bühne von Politik und Medien geworden, die von der Lebenswirklichkeit der Bürger weiter entfernt ist als das legendäre Raumschiff Bonn. […] Berlin-Mitte ist das Zentrum des politikverdrossenen Deutschland. Politiker und Medien beleuchten und beklatschen sich auf dieser Bühne gegenseitig, als Darsteller, Publikum und Kritiker. Von den Bürgern werden sie als eine selbstbezogene Kaste wahrgenommen, die in einem Boot sitzt, durch eine gleichartige Lebensweise verbunden, auf der sicheren Seite und jenseits der Risiken, die sie in Ausübung ihrer öffentlichen Macht den Bürgern zumuten.“

Weder diese Beobachtung noch diese Formulierungen sind von mir. Sie sind von Tissy Bruns, die in ihrem vor wenigen Jahren erschienenen Buch „Republik der Wichtigtuer“ eine, wie ich finde, besonders bemerkenswerte Bestandsaufnahme des unter nahezu jedem Gesichtspunkt ganz besonderen Verhältnisses von Politik und Medien vorgenommen und insbesondere mit den Berliner Verhältnissen gespiegelt hat. Vor genau einer Woche ist sie gestorben, nach einer langen, schweren Krankheit. Tissy Bruns gehörte zu den Journalistinnen, die über eine bemerkenswerte Biographie und eine eindrucksvolle berufliche Laufbahn verfügen und die, wenn mich mein Eindruck nicht täuscht, auf beiden Seiten, bei den journalistischen Kolleginnen und Kollegen, wie bei den Politikern ein gleich hohes Ansehen genossen hat. In einem der zahlreichen Nachrufe wurde sie beschrieben als „eine sensible Chronistin für das Verhältnis von Politik und Journalismus, eine Mahnerin vor der Gefahr einer Entpolitisierung durch Inszenierung und Oberflächlichkeit auf beiden Seiten“. Das ist fast wie in die Verleihung eines Medienpreises hineingesprochen, auch wenn wir alle den Anlass bedauern, der heute Gelegenheit und Notwendigkeit bietet, an sie zu erinnern. Tissy Bruns hat der Jury über Jahre angehört, die über die Vergabe dieses Medienpreises entscheidet. Ich möchte ihr stellvertretend für viele, die sie gekannt und geschätzt haben, unseren Respekt und unseren großen Dank für ihr Engagement zum Ausdruck bringen.

Meine Damen und Herren, der Deutsche Bundestag vergibt seinen Medienpreis seit 20 Jahren. 1993 ist er zum ersten Mal vergeben worden, er wird heute aber erst zum 14. Mal vergeben. Das erklärt sich dadurch, dass dieser Preis nicht in jedem Jahr vergeben worden ist. Peter Limburg wird gleich für die Jury nicht nur die Nominierungen erläutern und den Preisträger publik machen, sondern er wird sicher auch etwas zur Bewerberlage sagen. Uns – als Auslobern dieses Preises – gefällt, dass sich das Interesse auf einem hohen Niveau stabilisiert, was ich jetzt sowohl quantitativ wie qualitativ meine, einschließlich einer interessanten Verteilung auf die verschiedenen Medien, die sich nicht in einem statistischen Gleichgewicht befindet, aber deutlich macht, dass es – sowohl aus der Perspektive des Parlaments und seinem Interesse an Öffentlichkeit wie aus der Perspektive der Medien selbst mit Blick auf diesen Adressaten Parlament – ein ausgeprägtes, wechselseitiges Interesse gibt. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, mich bei den Damen und Herren der Jury herzlich zu bedanken. Das sind alles Leute, die auch ohne diese kleine, nicht genehmigungsbedürftige Nebentätigkeit gut beschäftigt sind und die sich durch die Bereitschaft, diese Aufgabe für uns zu übernehmen, einer nicht unbeachtlichen, zusätzlichen zeitlichen Inanspruchnahme unterziehen. Also ganz herzlichen Dank, verbunden mit der Hoffnung, dass Sie uns mit diesem Engagement erhalten bleiben und damit auch durch diese Tätigkeit zu dieser lebendigen, aber gleichzeitig auch geordneten, distanzierten Verbindung zwischen Politik und Medien beitragen.

Meine Schlussbemerkung ist noch mal ein Zitat von Tissy Bruns, die über den Preis in ihrem Buch geschrieben hat, den die Eigendynamik von Märkten, auch und gerade von Medienmärkten nach sich zieht: „Wenn der Preis nicht reflektiert wird, den die Anpassung der Politik an die Medienlogik verlangt, wird sie alle Akteure entwerten, die sich in Parteien, Institutionen, Regierungen, Parlamenten und in den Medien selbst mit Politik befassen.“ Der Deutsche Bundestag hat seinen Medienpreis insbesondere deswegen ausgelobt, weil wir die intensive, kritische – auch selbstkritische – Befassung mit diesem Parlament, seinen Ansprüchen, natürlich auch und gerade seinen Defiziten, ausdrücklich für notwendig halten und fördern wollen. Deswegen gilt mein Dank all denjenigen, die sich am diesjährigen Verfahren beteiligt haben und Ihnen danke ich noch mal für Ihr Interesse und Ihr Kommen heute Abend.

Parlament

Eröffnungsvortrag zur 75. Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer zum Thema „Brauchen wir eine neue Verfassung?“ am 25. Februar 2013

Es gilt das gesprochene Wort

Meine Damen und Herren,

die Fragestellung, ob wir – und mit wir ist wohl die Bundesrepublik Deutschland gemeint – eine neue Verfassung brauchen, ist wieder einmal aktuell, aber keines-wegs neu. Sie begleitet vielmehr die mehr als 60-jährige Verfassungsgeschichte des Grundgesetzes. Als ein prominentes Beispiel für diese Beobachtung kann die viel-beachtete damalige Antrittsvorlesung des Freiburger Politikwissenschaftlers Wil-helm Hennis zum Thema „Verfassung und Verfassungswirklichkeit. Ein deutsches Problem“ gelten. In dieser Vorlesung aus dem Jahre 1968 macht Hennis auf einen nach wie vor regelmäßig vorgebrachten Aspekt unserer Verfassungsdiskussion aufmerksam, nämlich das Spannungsverhältnis zwischen Verfassung und Verfas-sungswirklichkeit: „Das Begriffspaar hat bis in die Schulbücher Eingang gefunden; kein Leitartikler, der nicht damit umzugehen wüsste; kaum ein Kritiker unserer öffentlichen Zustände, der die Unruhe und das politische Unbehagen in diesem Lande nicht in einen Zusammenhang mit einem ,Auseinanderklaffen‘ von Norm und Wirklichkeit unserer politischen Verfassung bringen würde.“ Und er resümiert seine Hinweise auf die damals aktuelle Diskussionslage mit dem Fazit: „Die Verfassung, das Buch der Bücher, wird nicht ,ernst genommen‘, sie wird hintergangen, das Gebot wird verfehlt, sie befindet sich, wie unsere Literaten und einige Staatsrechtslehrer es sehen, im Zustande des Verfalls, sie wird verraten, bestenfalls dient sie als ideologischer Schein zur Verdeckung einer sich im Zustand der Sündigkeit befindlichen Wirklichkeit.“ (Wilhelm Hennis: Regieren im modernen Staat, Tübin-gen 2000, S. 183 und S. 200)

Besonders beachtlich an diesem vertrauten Befund ist das Datum: Damals war das Grundgesetz noch keine zwanzig Jahre alt, und schon seinerzeit gab es eine Dis-kussion darüber, ob die in dieser, zunächst provisorisch gedachten Verfassung formulierten Normen und die Entwicklung der politischen Realität nicht längst eine Diskrepanz aufwiesen, die durch Neuformulierungen, wenn nicht sogar eine neue Verfassung aufgelöst werden müsste. Allerdings wurde und wird immer wieder zugleich auf die Anpassungsfähigkeit dieses Verfassungstextes an veränderte Wirklichkeiten hingewiesen und damit ein ganz wesentliches Qualitätsmerkmal des Grundgesetzes hervorgehoben. Die unterschiedlichen verfassungsrechtlichen Herausforderungen, die es in den vergangenen sechs Jahrzehnten, also seit der Be-schlussfassung über diese Verfassung, gegeben hat – von der Wehrverfassung in den Fünfzigern über die Notstandsgesetzgebung in den Sechzigern, die Einbeziehung der europäischen Integration in den folgenden Jahrzehnten bis zur Födera-lismusreform – haben immer wieder zu kleineren und größeren Veränderungen in der Verfassung geführt, aber nie wirklich die Notwendigkeit einer Totalrevision evident gemacht; im Gegenteil hat sich diese Verfassung als bemerkenswert anpas-sungsfähig erwiesen.

Mein persönlicher Eindruck ist, dass es für die neuerliche Debatte, die wir führen, drei sehr unterschiedliche Motive, Begründungen und auch Zielrichtungen gibt. Und die Beantwortung der Frage, ob wir überhaupt und wenn ja, unter welchen Voraussetzungen eine neue Verfassung brauchen, sollte vernünftigerweise mindes-tens mit dieser Differenzierung vorgenommen werden, weil diese unterschied-lichen Aspekte möglicherweise auch nicht zu gleichen Schlussfolgerungen Anlass geben.

Zunächst gibt es so etwas wie eine anhaltende Enttäuschung über eine mangelhafte Legitimation: Das Ganze sei damals ja unter ganz besonderen historischen Bedin-gungen zustande gekommen, habe den Anspruch einer endgültigen Verfassung von vornherein nicht erheben wollen, deswegen sei mit Blick auf diese besondere Lage die Nichtlegitimierung durch einen Volksentscheid historisch hinnehmbar, aber bei dauerhaftem Geltungsanspruch eigentlich nur schwer akzeptabel. Diese mal mehr und mal weniger ausdrückliche Enttäuschung des Fachpublikums verbindet sich wiederum regelmäßig mit dem Hinweis auf die verpasste Chance, dass es doch spätestens bei der Wiederherstellung der nationalen Einheit die probate Gelegenheit gegeben hätte, nun von der Öffnungsklausel des Artikel 146 Gebrauch zu machen und dieses vorläufige, nicht einmal Verfassung heißende Grundgesetz durch eine neue, gemeinsam erarbeitete und vom Volk bestätigte Verfassung abzulösen.

Ich habe den Eindruck, dass diese Enttäuschung unter westdeutschen Autoren und Publizisten ausgeprägter ist als unter ostdeutschen. Dass man die Gelegenheit der Wiederherstellung der nationalen Einheit für eine neue Verfassung hätte nutzen müssen, war jedenfalls ein in der westdeutschen Diskussion stärker reklamiertes Bedürfnis als in der ostdeutschen Öffentlichkeit. Die Frage ist im Übrigen faktisch in der damaligen DDR entschieden worden und zwar in Kenntnis einer Debattenlage, die es auch dort gab, nämlich bei den Runden Tischen, die sich ja längst etabliert hatten, im Vorfeld und parallel zur ersten und einzigen Wahl einer frei gewählten Volkskammer. Und diese frei gewählte, zweifellos demokratisch legitimierte DDR-Volkskammer hat in Kenntnis dieser Diskussion, teilweise übrigens auch von konkreten Formulierungsvorschlägen der Runden Tische, die denkwürdige Entscheidung getroffen, der Bundesrepublik Deutschland nach dem damaligen Artikel 23 des Grundgesetzes beizutreten. Dies ist keineswegs versehentlich passiert, sondern es war ein ausdrückliches historisch-politisches Kalkül. Und mindestens aus der Perspektive dieses damals erstmals demokratisch selbstbestimmten Teils Deutschlands war die Aussicht, dem Geltungsbereich dieser Verfassung anzugehören, offenkundig mit Abstand dringlicher als die Aussicht auf eine renovierte oder rundum erneuerte Verfassung.

Zweitens gibt es unabhängig von diesem ersten Einwand eine Reihe von Aspekten, die man unter dem Stichwort Modernisierungsbedarf zusammenfassen kann. Die wissenschaftliche wie öffentliche, publizistische Diskussion beschäftigt seit ge-raumer Zeit die Frage, ob nicht eine Verfassung, die nun allmählich ins Rentenalter hineinwächst, einen Revitalisierungs- oder Vitalisierungsschub gebrauchen könne, und ob sie nicht eine Reihe von gesellschaftlichen wie sicher auch messbaren, spürbaren Veränderungen, von Erwartungen an die Funktionsbedingungen eines politischen Systems übernehmen sollte oder müsste.

In diesem Zusammenhang werden viele sehr unterschiedliche Überlegungen dis-kutiert, die hier nicht im Einzelnen vorgetragen werden müssen. Besondere Bedeu-tung verdient die Frage, ob die Verfassung, so wie sie gegenwärtig besteht und gilt, einschließlich der Veränderungen, die sie im Laufe dieser gut 60 Jahre erfahren hat, erkennbaren Veränderungserwartungen hinreichend Raum gibt. Oder umgekehrt: Ob sich die Notwendigkeit ergibt, diesen veränderten Erwartungen, insbesondere veränderten Partizipationserwartungen, durch präzisierende oder neue Regelungen Raum zu geben. Ich halte diese Überlegung ausdrücklich nicht nur für zulässig, sondern auch für willkommen. Gerade bei einer Verfassung, deren Qualität ja im Allgemeinen national und international in den höchsten Tönen gelobt wird und sich insofern keineswegs gegen eine Fundamentalkritik wehren muss, können und sollten wir uns die Souveränität erlauben, uns mit der Frage auseinanderzusetzen, ob sich nicht an der einen oder anderen Stelle die Verfassungswirklichkeit zu sehr von der Verfassungsnorm entfernt habe.

Ich will zunächst zwei oder drei Punkte aufgreifen, die immer wieder in der Dis-kussion eine Rolle spielen und die ich in einer besonders kompakten, durchaus plausiblen Weise in einem Beitrag gefunden habe, den der Politikwissenschaftler Roland Sturm im Jahre 2010 formuliert hat. Er trägt die Überschrift „Das Grundgesetz im Wandel – ist Deutschland noch in guter Verfassung?“ und nimmt damit eine Unterscheidung des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker auf, der dem Grundgesetz bescheinigt hatte, was für das Land nicht ganz so offensichtlich sei (Roland Sturm: „Das Grundgesetz im Wandel – ist Deutschland noch in guter Verfassung?“, veröffentlicht auf der Internetseite des Goethe-Instituts 01/2010). Der Beitrag plädiert für eine Reihe von Präzisierungen in unserem Verfassungstext mit dem erklärten Ziel, deutlich gewordene Diskrepanzen zwischen Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit aufzuarbeiten und neu zu regeln. „In Deutschland“, schreibt Roland Sturm, „hat man bisher darauf verzichtet, den wichtigsten Verfassungsneuinterpretationen in der Praxis durch eine Grundgesetzänderung eine gesetzliche Basis zu geben.“ Die wesentlichen, aus seiner Sicht dringlichsten Baustellen in diesem Zusammenhang sind die normative und die reale Rolle poli-tischer Parteien. „Ein revidiertes Grundgesetz müsste von der Logik des Parteienwettbewerbs ausgehen, wenn es die deutsche politische Realität abbilden wollte.“ Der Wissenschaftler weist auf den Umstand hin, dass die Verfassung, die reale politische Verfassung unseres Landes, sich ändere, ohne dass ein erkennbarer Institutionenwandel stattgefunden habe. Er verweist auf die parteipolitische Über-formung nicht nur des Parlaments, sondern auch der Rechte der einzelnen Abgeordneten: Aus dem Bundestag sei längst ein Fraktionenparlament geworden, und dies sei dringend regelungsbedürftig.

Ein zweiter Punkt, an dem er die immer größer gewordenen Diskrepanzen festmacht, sei die faktische Reduzierung der dem Regierungschef im Grundgesetz zu-gestandenen Kompetenz bei der Auswahl der Mitglieder seiner eigenen Regierung. „Die Bundesminister werden auf Vorschlag des Bundeskanzlers vom Bundespräsi-denten ernannt und entlassen“, so heißt es schlicht und unmissverständlich im Wortlaut des Grundgesetzes (Art. 64 Abs. 1 GG). Aber tatsächlich ist schwerlich zu bestreiten, dass wir es in der Realität fast immer mit Koalitionsregierungen zu tun haben, mit denen wir auch in der Zukunft rechnen müssen. In der Realität von Koalitionsregierungen reduziert sich allerdings die Personalkompetenz des Regie-rungschefs auf Vorschläge aus den Reihen seiner eigenen Partei. Die daraus gezo-gene Schlussfolgerung verfassungsrechtlicher Klarstellung ist also durchaus dis-kussionswürdig.

Schließlich erinnert Sturm daran, dass selbst das Bundesverfassungsgericht die vom Grundgesetz nicht vorgesehene Selbstauflösung des Bundestages durch die Hintertür einer Kanzlerentscheidung nicht verhindert habe und verweist auf die berühmten Beispiele Helmut Kohl und Gerhard Schröder, einschließlich der Mit-wirkung des jeweiligen Bundespräsidenten und der Anrufung des Bundesverfas-sungsgerichts.

Ich will nicht behaupten, dass diese Beispiele mit Sicherheit die wichtigsten Anlässe einer neuen, jedenfalls weiterentwickelten Verfassung sind. Aufschlussreich ist allerdings für die drei genannten Beispiele die sich beinahe selbst beantwor-tende Frage, was wohl bei einer Neuformulierung unserer Verfassung in diesen drei Fragen heraus käme.

Mir fällt es jedenfalls nach jetzt gut 30-jähriger Zugehörigkeit zum Deutschen Bun-destag als Verfassungsgesetzgeber außerordentlich schwer, mir eine Verfassungs-änderung vorzustellen, die die Unterbelichtung der Fraktionen in der Verfassung nicht zu deren Gunsten korrigieren und im Ergebnis natürlich nicht die verfas-sungsrechtliche Stellung der Abgeordneten gegenüber den Fraktionen stärken, sondern die Fraktionen aus der Geschäftsordnung in die Verfassung holen würde.

Und wie soll denn die Präzisierung der Kanzlerkompetenz für die Bestellung des Kabinetts aussehen, die den beklagten Graubereich in der faktischen Benennung von Regierungsmitgliedern zugunsten einer nicht nur rechtlich unzweifelhaften, sondern faktisch durchsetzbaren Alleinzuständigkeit des Regierungschefs regelt? Dazu müsste das Wahlgesetz prinzipiell, und nicht bloß marginal, geändert und zudem in die Verfassung aufgenommen werden, um überhaupt in die Nähe einer faktischen Durchsetzbarkeit zu kommen.

Und was soll denn wohl mit der Selbstauflösung des Parlamentes passieren, die bislang in der Verfassung nicht ausdrücklich vorgesehen ist, und auch für verfas-sungspolitisch unerwünscht gehalten wird, worüber man durchaus streiten kann? Mit hoher Wahrscheinlichkeit würde eine neue Verfassung aber eher die gewach-sene Verfassungsrealität legitimieren als die spröde Verfassungsnorm zementieren.

Brauchen wir also eine neue Verfassung anstelle der jetzigen oder jedenfalls eine Rundumerneuerung durch eine mehr oder weniger große Anzahl präziserer oder neuerer Regelungen im Kontext einer gegebenen Verfassung?

Gerade im Lichte der zweiten Variante lässt sich nicht übersehen, dass wir in der jetzt gut 60-jährigen Geschichte des Grundgesetzes 59 Verfassungsänderungen erlebt haben, von denen nur unstrittig ist, dass sie die Länge des Grundgesetzes um mindestens die Hälfte erweitert haben. Aber ob überhaupt und wenn ja an welcher Stelle das Grundgesetz durch diese Veränderung besser geworden ist, ist durchaus zweifelhaft. Mir selber, der an einer Reihe dieser Veränderungen mitgewirkt hat, fallen nicht viele Beispiele ein, von denen ich erhobenen Hauptes begründen könnte, dass damit die Verfassung nicht nur fortgeschrieben, sondern auch sicher besser geworden sei. Mir fallen allerdings mindestens zwei oder drei Beispiele ein, für die ich mich nachträglich noch immer schäme, weil sie weder die Präzision noch die Ästhetik des Verfassungstextes wirklich befördert haben. Die größte einzelne Verfassungsveränderung ist im Kontext der Föderalismusreform entstanden und hatte allein mehr als zwanzig konkrete Änderungen im Text des Grundgesetzes zur Folge. Wenn ich bedenke, dass dies der größte einzelne Anlauf einer systematischen Beschäftigung mit unserer Verfassung unter Beteiligung von Spitzenrepräsentanten der Regierung, der Länder und aller Fraktionen war und dann das sehr übersichtliche Ergebnis betrachte – einschließlich der beispiellosen Großzügigkeit, in eine Verfassung Geldbeträge hineinzuschreiben, auf die die Länder einen Rechtsanspruch haben, um die Schuldenbremse realisieren zu können, die ihnen die gleiche Verfassungsänderung auferlegt – geht meine Begeisterung deutlich zurück, über eine Modernisierung unserer Verfassung nachzudenken und dabei das Risiko ähnlicher Lösungen in Kauf nehmen zu müssen.

Bleibt die zweifellos bedeutende Frage, ob das Grundgesetz eine erkennbar ge-wachsene, jedenfalls immer stärker artikulierte Partizipationserwartung nicht nur gewählter Repräsentanten in hinreichender Weise bedient. Oder ob umgekehrt die plebiszitäre Keuschheit, die unter dem unmittelbaren Eindruck der Nachkriegszeit und der vorhergehenden Epoche mindestens historisch verständlich sein mag, nach mehr als sechs Jahrzehnten stabiler Demokratie nicht aus der Zeit gefallen ist und hier nicht eine größere Spielfläche für die operative Mitwirkung an rechtsver-bindlichen Entscheidungen geboten wäre. Diese Debatte halte ich für überfällig. Und im Unterschied zu den Aspekten, die ich bisher behandelt habe, fällt mir da auch persönlich eine vorläufig abschließende Festlegung schwer, weil ich beach-tliche Argumente für, aber auch nicht unbeachtliche Argumente gegen eine solche plebiszitäre Öffnung sehe.

Zumindest aufmerksam machen möchte ich darauf, dass natürlich keine Rede davon sein kann, dass das vom Grundgesetz geprägte politische System der Bundes-republik Deutschland prinzipiell antiplebiszitär angelegt sei. Diese Charakterisie-rung ist bestenfalls für die Bundesebene zutreffend, verkennt aber, dass wir sowohl auf Länderebene wie in den Kommunen nicht nur andere verfassungsrechtliche Spielräume haben, sondern dass diese Spielräume in jüngerer Zeit erweitert worden sind und davon auch in beachtlichem Umfang Gebrauch gemacht wird: Die Anzahl von Bürgerbegehren, Bürgerentscheiden, Volkbegehren und Volksentscheiden ist in den letzten zehn Jahren größer gewesen als in den 50 Jahren zuvor. Dies bestätigt zum einen, dass es ganz offenkundig ein gewachsenes Partizipationsbedürfnis gibt, zum anderen macht es aber auch deutlich, dass von einer prinzipiellen Verweigerung für solche Entscheidungsmöglichkeiten keine Rede sein kann.

Die zweite Auffälligkeit ist die bescheidene Beteiligung an diesen plebiszitären Partizipationsmöglichkeiten, die regelmäßig unter den rückläufigen Wahlbeteili-gungen bleibt, die wir ihrerseits für besorgniserregend erklären. Das lässt zumindest über die verfassungspolitische Grundsatzfrage hinaus die Frage zu, ob auf diesem Wege eine höhere Legitimation politischer Entscheidungen zu erwarten ist als durch repräsentativ getroffene parlamentarische Entscheidungen. Ist der Beitrag zur Friedensstiftung bzw. Konsensbildung durch Volks- und Bürgerentscheide tat-sächlich höher einzuschätzen ist als dies auf anderem Wege zu erwarten wäre?

Nun hat mich ein Hinweis durchaus beeindruckt, auch nachdenklich gestimmt, den ich in einem Beitrag von Horst Dreier in der „Süddeutschen Zeitung“ gefunden habe, in dem er ausdrücklich für mehr direkte Demokratie in Deutschland wirbt und dies mit dem Hinweis verbindet, dass es mit dem Grundgesetz durchaus vereinbar sei (Horst Dreier: „Das Volk als Gesetzgeber“, in: „Süddeutsche Zeitung“, 25.02.2012, S. 16). Der ausgewiesene Verfassungsrechtler argumentiert mit den bayerischen Erfahrungen und weist darauf hin, dass die direkte Demokratie dort häufig als Oppositionsersatz gewirkt habe und schon die bloße Möglichkeit eines Volksentscheides heilsam wirken könne, selbst wenn dieser am Ende gar nicht stattfände. Das letzte Wochenende hat ein besonders schönes Beispiel dafür gelie-fert. Denn der durch ein Volksbegehren vorbereitete Volksentscheid über die Ab-schaffung von Studiengebühren kann nun entfallen, nachdem eine monatelange, scheinbar fundamentalistische Konfrontationslage zwischen den Koalitionsparteien mit zunehmender Annäherung an den Wahltermin der einvernehmlichen „Kas-sierung“ der Studiengebühren gewichen ist. So rundum glücklich macht mich auch das nicht. Denn dieser Mechanismus ist ebenso plausibel wie bedenklich. Und das, was Horst Dreier als die heilsame Wirkung der bloßen Möglichkeit eines Volksentscheides beschreibt, lässt sich mühelos für verschiedene unpopuläre Sachverhalte durchdeklinieren. Für Kindergartengebühren würden wir uns nach den Studiengebühren sicher eine ähnlich heilsame Versuchsanordnung vorstellen können. Wieso eigentlich nicht für Parkgebühren oder für Rundfunkgebühren? Welche Gebühren würden eigentlich eine solche heilsame Option überhaupt über-leben können?

Wenn man die Öffnung für solche Verfahren im Allgemeinen mit der Großzügigkeit verbindet, dass es wegen der vermuteten höheren Legitimation von Bürgerent-scheiden auf die Beteiligungsquote nicht mehr wirklich ankomme, melde ich aus-drückliche Zweifel an dem Fortschritt an, der durch eine solche Verfassungsreform tatsächlich zu erwarten ist – einmal abgesehen davon, dass die Vorschläge für ple-biszitäre Entscheidungen auf Bundesebene erstaunlich vage bleiben: Wenn die Felder benannt werden müssen, über die in Zukunft plebiszitär statt parlamenta-risch abgestimmt wird, werden offenkundig auch manche Befürworter zögerlich. Und bei dem, was man so hört, ergibt sich sehr schnell das Dilemma, dass man zur Vermeidung der Risiken eines solchen Verfahrens dann doch eher über nachran-gige Fragen die Partizipationsmöglichkeiten erweitern möchte, aber da, wo es wirk-lich spannend ist, vorsichtshalber lieber bei parlamentarischen Entscheidungen bleibt. Ich empfehle ein gemeinsames vertieftes Nachdenken darüber, ob das einer-seits verfassungspolitisch eine glänzende Rochade würde und andererseits die ge-fühlte Legitimation einer solchen fortgeschriebenen Verfassung erhöhte.

Im Übrigen will ich an einen Aspekt der öffentlichen Diskussion über „Stuttgart 21“ erinnern, den wir keineswegs hinreichend aufgearbeitet haben, nämlich die Konfrontation zwischen längst getroffenen rechtsverbindlichen parlamentarischen Entscheidungen und einem zweifellos beachtlichen Bürgerzorn mit mindestens so beachtlichen Partizipationserwartungen sowie einer Beteiligungsofferte, bei der die Frage, ob sie verfassungsrechtlich überhaupt zulässig war, bis heute nicht abschlie-ßend geklärt worden ist. Mir scheint auffällig, dass die vielleicht am intensivsten öffentlich diskutierte Frage in der jüngeren deutschen Geschichte mit einer schwer überbietbaren medialen Begleitung unter Mobilisierung nahezu aller halbwegs ernstzunehmenden Argumente für und gegen die jeweiligen Optionen am Ende wiederum mit einer Beteiligung entschieden worden ist, die selbst in Stuttgart als unmittelbar betroffener Stadt geringer ausfiel als bei den letzten Landtagswahlen. Was mich persönlich wiederum noch mehr beeindruckt als der Umstand, dass das Ergebnis der Volksabstimmung zur allgemeinen Überraschung die parlamentarische Entscheidung bestätigt und nicht korrigiert hat.

Zu einem vergleichsweise frühen Zeitpunkt der Diskussion hatte Erhard Eppler in einem Interview die Sorge artikuliert, dass die Eskalation dieses Diskussions-prozesses und der damit transportierten Partizipationserwartungen am Ende in einen Konflikt zwischen dem Demokratieprinzip und dem Rechtstaatsprinzip münden könnte. Das mag man eine Spur überpointiert finden, ist aber keineswegs aus der Luft gegriffen. Denn wenn plebiszitäre Entscheidungen repräsentative nicht ersetzen sollen, sondern es um die mehr oder weniger weitreichende Ergänzung des einen Verfahrens durch das andere geht, gibt es eine Schnittstelle, an der genau dieser Konflikt auftreten könnte, vielleicht sogar auftreten muss. Die Ambivalenz dieser beiden Strukturprinzipien unserer Verfassung ist schon deswegen unaufgebbar, weil die Grundrechte unserer Verfassung nicht durch das Demokra-tieprinzip gesichert werden, sondern durch das Rechtsstaatsprinzip. Gerade wer ein Interesse an Minderheitsrechten hat, kann kein Interesse an einer auch nur po-tentiellen Konfliktlage zwischen dem Demokratieprinzip und dem Rechtsstaats-prinzip unserer Verfassung haben.

Ich behaupte nicht, dass sich damit alle Überlegungen erledigen, an dieser Stelle zu Veränderungen oder Erweiterungen zu kommen. Ich will nur darauf aufmerksam machen, dass ich dies für eine nicht unbedeutende Fragestellung halte, die in diesem Zusammenhang besondere Betrachtung verdient. Ebenso bedeutend ist die Erfahrung, die uns eigentlich alle empirischen Studien zu diesem Thema in der jüngeren Vergangenheit vermitteln: Die neuen Formen partizipatorischer Demokra-tie sind überwiegend ein Spielfeld der gebildeten Mittelschichten; das heißt, mit einer Veränderung oder Erweiterung der Partizipation ergeben sich keineswegs und schon gar nicht gleichmäßig neue Formen der faktischen Beteiligung für alle relevanten Interessen. Die weniger gebildeten, die unteren Schichten sind mit der klassischen repräsentativen Demokratie relativ gut gefahren, weil sie machtvolle organisierte Interessengruppierungen und Repräsentanten in diesem System ge-funden haben, die durch plebiszitäre Verfahren nicht unbedingt überboten werden.

Mein vorläufiges Resümee zu diesem zweiten Teil von Motiven und Erwartungen an eine mehr oder weniger weitgehende Verfassungsreform unter dem Stichwort Modernisierungsbedarf könnte lauten: Plebiszite sind weder legitimer noch not-wendigerweise besser als parlamentarische Entscheidungen, aber sie sind anders. Und bevor man hier das eine durch das andere verdrängt oder gar ersetzt, sollte man die Implikationen sorgfältig bedenken, die sich damit verbinden und von denen ich einige vorgetragen habe – ausdrücklich nicht mit dem Anspruch, damit das Thema abschließend behandelt zu haben. Dass im Übrigen Parlamente genau so irren können wie Bürgerinnen und Bürger, bedarf keiner zusätzlichen Erläuterung. Aber auch hier gibt es mindestens einen nicht völlig irrelevanten Unterschied: Für die Irrtümer parlamentarischer Entscheidungen sind die Verantwortlichen immer identifizierbar, bei Bürgerentscheiden nie. Das muss man nicht für einen durchschlagenden oder gar ausschlaggebenden Gesichtspunkt halten, dass er unbedeutend ist, glaube ich allerdings auch nicht.

Bleibt der dritte und vielleicht wichtigste Einzelaspekt, der die aktuelle Diskussion über Verfassungsreformen befeuert: die Perspektive der europäischen Integration und die Frage, inwieweit diese überhaupt und wenn ja, bis zu welchem Punkt, im Kontext unserer heutigen Verfassung darstellbar ist.

Diese Diskussion, die ich noch anspruchsvoller und in der Urteilsbildung noch schwieriger finde als die anderen genannten Aspekte, muss mit dem Hinweis be-ginnen, dass dem geltenden Grundgesetz der Kontext einer Europäischen Gemein-schaft und der Einbindung Deutschlands in diese Europäische Gemeinschaft nicht fremd ist, sondern dass vielmehr – von der Präambel angefangen bis zu der aus Anlass der Wiedervereinigung neuen Regelung des Artikels 23 – eine der monströ-sen Verfassungsergänzungen übrigens, die nicht literaturpreisverdächtig ist – diese Verfassung der Bundesrepublik Deutschland nicht nur integrationsfähig, sondern ausdrücklich integrationsoffen ist. Mir erschließt sich überhaupt nicht, dass man aus der Verfassung eine prinzipielle Zögerlichkeit gegenüber europäischer Integration herauslesen könnte. Letztlich geht es um eine weitere Implementierung des europäischen Integrationsprozesses unter dem Gesichtspunkt der Übertragung von Hoheitsrechten und der stärkeren Ausprägung von Staatlichkeit der Europäischen Gemeinschaft versus den Kern der Eigenstaatlichkeit des Staates. Auch dazu sind inzwischen eine ganze Reihe von Vorschlägen auf dem Markt, und spätestens seit dem Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts gibt es begründete Vermu-tungen hinsichtlich der Ansprüche unseres Verfassungsgerichts. Und es gibt auch zweifellos nicht frei erfundene Besorgnisse, ob und gegebenenfalls ab wann die inzwischen regelmäßige Vorlage von europäischen Verträgen und europäischen Integrationsvereinbarungen beim Bundesverfassungsgericht zu einem entspre-chenden Verdikt führen könnte.

Ich möchte Sie auf einen Aspekt aufmerksam machen, der in diesem Zusammenhang nicht immer hinreichend berücksichtigt wird, der wiederum mit dem fortge-schrittenen Integrationsprozess zu tun hat, mit dessen Logik und möglichen Gren-zen sich das Bundesverfassungsgericht in seinem Lissabon-Urteil auseinanderge-setzt hat. Schon parallel zu den Beratungen des Lissabon-Vertrages, der natürlich wie alle anderen europäischen Verträge auch im Parlament ratifiziert worden ist, hatte es damals eine Vereinbarung zwischen Bundesregierung und Parlament über die künftige Zusammenarbeit in europäischen Angelegenheiten gegeben. Diese Vereinbarung ist im Zusammenhang der Überprüfung der Verfassungskonformität des Lissabon-Vertrages vom Bundesverfassungsgericht mit dem Hinweis moniert worden, sie sei ja schön und gut, aber rechtlich unerheblich, denn man könne sich an sie halten oder auch nicht. Erst dann, wenn sie Rechtscharakter habe, schaffe sie die neue Qualität, die Souveränitätsübertragungen durch parlamentarische Ent-scheidung verfassungskonform mache. Inzwischen haben wir ein Parlamentsbetei-ligungsgesetz. Dieses Parlamentsbeteiligungsgesetz, das die Grundsatzregelung des Artikels 23 aufnimmt und konkretisiert, enthält im wesentlichen drei Festlegungen:

1. Die Regierung ist verpflichtet, den Bundestag und auch den Bundesrat über alle europäischen Initiativen, also Regelungsabsichten, so schnell wie möglich und so vollständig wie möglich zu unterrichten.

2. Der Bundestag hat die Möglichkeit, zu jeder dieser Initiativen eine Stellungnahme abzugeben. Das heißt, er muss nicht, aber er kann.

Und der spannende dritte Punkt ist:

3. Wenn der Bundestag von dieser Möglichkeit Gebrauch macht, muss die Bundes-regierung diese Stellungnahme als ihre Verhandlungsposition in Brüssel beziehen.

Dieses Parlamentsbeteiligungsgesetz haben wir im Zusammenhang mit den vertrag-lichen Regelungen mit dem Dauer-Euro-Krisenmanagement in der Weise weite-rentwickelt und präzisiert, dass die Bundesregierung für jede mögliche Maßnahme im Rahmen von Stützungsaktivitäten auf Märkten, schon gar mit Blick auf schwie-rige Haushaltssituationen in dritten Mitgliedsstaaten, wiederum verpflichtet ist, den Bundestag und den Bundesrat zu unterrichten, wo immer Anforderungen oder mögliche Zusagen diskutiert werden. Und nun hat der Bundestag nicht nur die Möglichkeit einer Stellungnahme, sondern er muss darüber befinden, ob überhaupt, unter welchen Bedingungen und in welcher Höhe die Bundesrepublik Deutschland gegenüber Drittstaaten finanzielle Verpflichtungen eingeht – ob in Form von Krediten, von Bürgschaften, von Garantien oder was auch immer, für die im Übrigen nach den Europäischen Verträgen kein Rechtsanspruch besteht. Und erst nach einer solchen konstitutiven Mitwirkung des Bundestages hat die Regierung überhaupt die Möglichkeit, rechtsverbindliche Zusagen zu machen.

Die tatsächliche oder eingebildete, kurzfristige oder langfristige Wirkung dieser Regelungen wird sicher nach mehrjährigen Erfahrungen einer vertieften Analyse unterzogen. Im Ergebnis dieser beiden Regelungen haben wir jedenfalls in EU-Angelegenheiten eine neue Architektur im Verhältnis von Exekutive und Legislati-ve. Der gesamte europäische Integrationsprozess bis Lissabon war exekutiv ge-steuert: Die Parlamente wurden nachrichtlich beteiligt und konnten den großen notariellen Stempel durch Ratifizierung auf die Dokumente setzen, auf das Ver-handeln dieser Verträge aber keinen Einfluss nehmen. Seit dem Inkrafttreten des Lissabon-Vertrags und mit dem Parlamentsbeteiligungsgesetz haben wir die Situa-tion, dass diese Grenze zwischen Exekutive und Legislative verschwimmt und der Bundestag am Ende, wenn überhaupt, Verträge ratifiziert, an deren Zustandekom-men er selbst beteiligt war. Das bedeutet im Ergebnis wiederum, dass die Europa-politik mit all dem, was es an Richtlinien und Verordnungen gibt, aus dem Feld der Exekutive zunehmend in den Bereich der Legislative gewandert ist. Andersherum formuliert: Die Europapolitik ist längst kein Bereich der Außenpolitik mehr mit der Prärogative der Exekutive, sondern sie ist zu einem Bestandteil der Innenpolitik geworden, wo für das Zustandekommen von rechtsverbindlichen Normen die gleichen Anforderungen gelten wie für nationale Gesetzgebung auch.

Wenn das so ist, und im Kern ist es so, dann kann das auch für die verfassungs-rechtliche Beantwortung der Frage, ob und welche Grenzen einem weiteren politi-schen Integrationsprozess durch unsere Verfassung gesetzt wären, nicht völlig unerheblich sein. Damit ist die Frage noch nicht abschließend beantwortet, am Ende wird sie nicht vom Bundestag beantwortet, sondern vom Bundesverfassungsgericht. Aber ich finde die gelegentlich insinuierte Schlussfolgerung, es gäbe erkennbar einen Punkt, jenseits dessen die Verfassung sicher nicht mehr reicht, ein bisschen voreilig. Ich sehe den Punkt noch nicht, schon gar nicht konkret und noch weniger mit Blick auf eine identifizierbare Zeitachse. Gleichzeitig will ich allerdings ausdrücklich nicht ausschließen, dass er irgendwann erreicht sein könnte, wenngleich die in diesem Zusammenhang reklamierte eigenstaatliche Souveränität eher in die Verfassungsinterpretation als in den Verfassungstext gehört. Von staat-licher Souveränität ist im Grundgesetz nirgendwo die Rede, von europäischer In-tegration dagegen wohl. Dass folglich ein Prinzip, das man in die Verfassung hi-neininterpretiert, ganz sicher den Vorrang vor einer Selbstverpflichtung haben müsse, die in der Verfassung steht, erschließt sich nicht ohne weiteres und lässt für manchen verfassungsrechtlichen und verfassungspolitischen Disput Spielräume.

Inzwischen gibt es eine Reihe von konkreten Vorschlägen, wie man das Problem gegebenenfalls regeln könne. Rainer Wieland, Vizepräsident des Europäischen Par-laments und Präsident der Europa-Union Deutschland, hat im vergangenen Sommer den Vorschlag gemacht, man solle eine Volksabstimmung über eine Grundge-setzänderung durchführen, die den Souveränitätsverzicht zugunsten der europä-ischen Integration explizit erlaubt (Rainer Wieland: „Wir brauchen keine neue Ver-fassung“, veröffentlicht auf der Internetseite der Europa-Union 08/2012). Ich weiß nicht, ob das erstens nötig und zweitens klug ist. Es ist aber einer der zahlreichen Vorschläge, die zu dieser Frage inzwischen längst auf dem Markt sind. Horst Dreier hat darauf hingewiesen, dass sich keineswegs zwingend aus dem Artikel 146 des Grundgesetzes die Notwendigkeit ergebe, eine völlig neue Verfassung beschließen zu müssen und schon gar nicht die Zwangsläufigkeit, darüber in einem Plebiszit zu befinden (Horst Dreier: „Ein neues Deutschland“, in: „Die Zeit“, 20.10.2011, S. 15). Auch an dieser Stelle sei das Grundgesetz viel offener, flexibler und anpassungsfä-higer als eine Reihe von Kommentatoren meinen. Zunächst sei es wichtig, sich klar zu machen, dass das Grundgesetz eben keinen Anspruch auf ewige Geltung erhebt, weil selbst die Ewigkeitsklausel nur solange gelte wie das Grundgesetz. Und das Grundgesetz eröffne wiederum im Artikel 146 ausdrücklich die Möglichkeit seiner Ersetzung durch eine andere Verfassung. Dass diese Öffnung obsolet geworden sei mit der Wiederherstellung der Deutschen Einheit, könne er nicht erkennen – ich übrigens auch nicht. Denn obwohl oder gerade weil über genau diese Implikation damals ausdrücklich gesprochen worden ist, blieb die einzige Änderung, die der Artikel 146 im Zuge der Wiedervereinigung erfahren hat, die Einfügung eines Rela-tivsatzes. Der ursprüngliche Satz: „Dieses Grundgesetzes verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die vom Deutschen Volke in freier Entscheidung geschlossen worden ist“ lautet nun: „Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tag, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die vom Deutschen Volke in freier Entscheidung geschlossen worden ist.“ Mir erschließt sich nicht, dass das in der Substanz eine Veränderung gegenüber der prinzipiellen Möglichkeit der Ersetzung dieser Verfassung durch eine andere dar-stellen soll. Wie Horst Dreier sagt, gibt es mindestens zwei denkbare Wege: Zum einen das Modell eines Konventes, der über eine neue Verfassung berät, über des-sen Ergebnis dann ganz gewiss durch Volksabstimmung befunden werden müsse. Das andere denkbare Modell, das in der deutschen Verfassungsgeschichte viel aus-geprägtere Traditionen habe, sei das Modell einer Nationalversammlung, die am Ende ihrer Beratung eine neue Verfassung beschließe oder auch nicht.

Zusammenfassend: Können wir uns eine neue Verfassung geben? Ja. Müssen wir uns eine neue Verfassung geben? Im Augenblick sicher nicht. Sollten wir uns eine neue Verfassung geben? Nein, jedenfalls nicht eher, als wir müssen.

Parlament

Rede zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus

Es gilt das gesprochene Wort

Sehr geehrter Herr Bundespräsident!
Frau Bundeskanzlerin!
Herr Bundesratspräsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen im Deutschen Bundestag!
Verehrte, liebe Frau Deutschkron!
Verehrte Gäste! Meine Damen und Herren!

Der 30. Januar ist nicht irgendein Datum. Heute vor 80 Jahren, am 30. Januar 1933, wurde Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt. Damit begann das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte. Die Nationalsozialisten übernahmen an diesem Tag die Macht in Deutschland und liquidierten innerhalb weniger Wochen die erste Demokratie auf deutschem Boden. Fast exakt zwölf Jahre später – am 27. Januar 1945 – befreite die Rote Armee das Vernichtungslager Auschwitz, das zum Symbol des Zivilisationsbruchs, menschenverachtender Brutalität und staatlich organisierten Völkermords geworden ist. Beide Daten trennen nur zwölf Jahre – und eine Ewigkeit des Grauens.

Am Ende des von Deutschland entfesselten Vernichtungskrieges und des nationalsozialistischen Rassenwahns lag fast ganz Europa in Trümmern – nicht nur materiell; tiefer als die mit bloßem Auge sichtbaren Ruinen europäischer Städte reichten die unermesslichen seelischen und geistigen Verwundungen.

Wir gedenken heute aller Opfer der verbrecherischen Ideologie des Nationalsozialismus, aller Menschen, die um ihre materielle, seelische und physische Existenz gebracht und ihrer Würde beraubt wurden, der Verfolgten, Gemarterten, Gedemütigten, Ermordeten: Wir gedenken der europäischen Juden, Sinti und Roma, der zu „Untermenschen“ degradierten slawischen Völker, Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, dem Hungertod preisgegebenen Kriegsgefangenen, der Opfer staatlicher Euthanasie, der Homosexuellen, aller, die sich aus religiösen, politischen oder schlicht menschlichen Beweggründen dem Terror widersetzten und deswegen der totalitären Staatsgewalt zum Opfer fielen. Wir gedenken Millionen und Abermillionen Toten.

Wir gedenken auch der Überlebenden, derjenigen, die an dem Grauen der Unmenschlichkeit seelisch zerbrochen sind, die – wie der Schriftsteller Jean Améry einmal sagte – nach der Shoah in dieser Welt nicht mehr heimisch werden konnten.

Wir denken heute auch an alle, deren Familien damals ausgelöscht wurden – ein Schicksal, das auch die Familie von Inge Deutschkron erlitt. Verehrte Frau Deutschkron, ich begrüße Sie herzlich im Deutschen Bundestag!

Seit 1996 begehen wir den Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz als nationalen Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus. Wir gedenken ihrer im Parlament, im wichtigsten Forum der deutschen Demokratie. Der Reichstag ist ein stummer Zeuge der Demontage unserer ersten Demokratie vor 80 Jahren. Deshalb ist er der richtige Ort, um öffentlich als Staat und Gesellschaft den Toten Ehre zu erweisen und gleichzeitig den Willen zu bekunden, alles zu tun, damit eine ähnliche menschengemachte, staatlich organisierte Katastrophe sich nie mehr ereignen kann.

Deshalb ist es gut, dass diese Veranstaltung von PHOENIX übertragen  wird, noch besser wäre es, wenn ARD oder ZDF es wie wir wichtig genug fänden, dieses Gedenken und diesen gemeinsamen Willen aller Demokraten einer breiten Öffentlichkeit im Hauptprogramm öffentlich-rechtlicher Sendeanstalten zu vermitteln.

Der Weg nach Auschwitz begann mit der Zerstörung der Demokratie und der anschließenden verbrecherischen Pervertierung legitimer Macht in Willkür und Despotie. Und wir wissen auch: Die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten war kein Betriebsunfall in der Geschichte; sie war weder zufällig noch zwangsläufig. Die Selbstaufgabe der Weimarer Demokratie ist eine bleibende Warnung an die Nachgeborenen.

Dieses Bewusstsein wachzuhalten und zu vermitteln, hat Inge Deutschkron zu ihrer ganz persönlichen Mission gemacht. Sie hat die nationalsozialistische Diktatur, als Unrecht zum geltenden Recht wurde, erlebt und erlitten. In Ihrem Buch „Ich trug den gelben Stern“ beschreiben Sie, verehrte Frau Deutschkron, die Situation in Berlin in den 30er-Jahren und während des Krieges – wie die Diskriminierung und die Schikanen gegen die Juden immer perfidere, zynischere Formen angenommen haben, wie die Existenzängste und schließlich die blanke Todesangst zu täglichen Begleitern der Entrechteten wurden. Ihre Erinnerungen, die als Theaterstück „Ab heute heißt du Sara“ viele vor allem junge Menschen beeindruckt haben, sind ein wertvolles aufklärerisches Zeugnis.

Wir leben in Deutschland heute in einer gefestigten, selbstbewussten Demokratie. Sie ist uns aber nicht ein für allemal geschenkt, sondern muss täglich gestaltet, mit Leben erfüllt und – ja – auch verteidigt werden. Wie bitter nötig das auch heute ist, haben uns in jüngster Zeit die unglaubliche, entsetzliche NSU-Mordserie und antisemitisch motivierte Gewalttaten gezeigt.

„Alles, was das Böse benötigt, um zu triumphieren, ist das Schweigen der Mehrheit“, hat der frühere UN-Generalsekretär Kofi Annan einmal im Hinblick auf die nationalsozialistische Gewaltherrschaft gesagt. Das Wissen um die Vergangenheit ist daher auch eine verbindliche Verpflichtung für alle Demokraten, ihre Stimme gegen jegliche Ansätze und Formen von Ausgrenzung, Rassismus oder Fremdenfeindlichkeit zu erheben – und – vor allem – danach zu handeln!

Meine Damen und Herren,

Erinnerung lebt vor allem von der Unmittelbarkeit des Erlebten. Mit den Zeitzeugen der damaligen Ereignisse schwindet der unmittelbare Zugang zur Vergangenheit. Umso wichtiger sind neue Formen der Erinnerung. Elie Wiesel, Friedensnobelpreisträger und selbst Überlebender des Holocaust, Redner im Deutschen Bundestag am 27. Januar 2000, hat diese Aufgabe einmal so beschrieben: „Eine Generation der Zeugen von Zeugen von Zeugen zu bilden.“

Genau dies geschieht bei der jährlichen Jugendbegegnung auf Einladung des Deutschen Bundestages. Ich freue mich, dass auch in diesem Jahr 80 Jugendliche aus verschiedenen Ländern dieser Einladung gefolgt sind, und begrüße die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die sich in den vergangenen Tagen intensiv mit der Shoah in der Ukraine auseinandergesetzt haben. Sie trafen in Kiew Zeitzeugen von Massenerschießungen, sprachen mit ehemaligen Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen.

Der Holocaust im Osten – vor allem in der Ukraine und in Weißrussland – gehörte lange zu den wenig erforschten Kapiteln des Zweiten Weltkrieges. Durch generalstabsmäßig organisierte Massenerschießungen wurden allein in der Ukraine rund 1,5 Millionen Juden ermordet und in Gruben verscharrt. Fast jedes Dorf wurde Zeuge dieser Tragödie. Erschütternd sind die übereinstimmenden Berichte der Kinder und Jugendlichen von damals, dass sich die Erde über den Massengräbern noch tagelang nach den Erschießungen bewegt habe, weil manche Opfer noch lebten. Erst in den vergangenen zehn Jahren wurden hunderte Massengräber der Anonymität entrissen – durch einen Franzosen, den Priester Patrick Debois, den ich herzlich begrüße.

Wie Auschwitz als Chiffre für den fabrikmäßigen Mord in vielen nationalsozialistischen Vernichtungslagern steht, so ist die größte einzelne Mordaktion des Zweiten Weltkrieges in Babij Jar bei Kiew – zum Symbol des Völkermordes durch Gewehrkugeln geworden. Am 29. und 30. September 1941 wurden in dieser Schlucht 33.771 ukrainische Juden erschossen – wie es mehrere deutsche Berichte aus dieser Zeit akribisch festhalten. Bis November 1943 wurden in dieser Schlucht weit mehr als hunderttausend Menschen ermordet, darunter Ukrainer, Russen, Weißrussen.

Deutschland ist sich seiner Verantwortung für diese Verbrechen bewusst. Sie drückt sich nicht zuletzt in dem neuen Entschädigungsabkommen aus, das die Bundesrepublik und die Jewish Claims Conference im vergangenen November unterzeichnet haben, nachdem die Holocaust-Überlebenden aus Osteuropa so lange auf eine materielle Anerkennung ihrer Verfolgung und Leiden warten mussten.

Meine Damen und Herren,

die Jugendbegegnungen belegen jedes Jahr aufs Neue – so auch diesmal wieder: Es gibt bei jungen Menschen ein großes Interesse, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen. Und es gibt ein großes Bedürfnis zu fragen: Was ist damals geschehen und warum? Wie konnte es dazu kommen? Inge Deutschkron gehört zu denen, die darüber reden, aus eigenem Erleben. Inge Deutschkron ist eine von den etwa 1.700 geretteten Berliner Juden, die sich der Deportation in den sicheren Tod entziehen konnten, weil sie von nichtjüdischen Bürgern dieser Stadt Hilfe erfahren haben.

Die Erfahrung als Verstoßene, Todgeweihte und Gejagte hat Inge Deutschkron geprägt – auch in ihrer journalistischen und schriftstellerischen Arbeit wie auch in ihrem unermüdlichen Engagement gegen das Vergessen. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Erinnerung an den Holocaust in Deutschland lebendig zu halten und dabei auch jene Helferinnen und Helfer bekannt zu machen, die Zivilcourage gezeigt und Verfolgte gerettet haben.

Verehrte Frau Deutschkron, es ist Ihr großes Verdienst, dass Sie im Sinne Elie Wiesels Ihre Erlebnisse an junge Menschen weitergeben und ihnen am Beispiel der sogenannten stillen Helden zeigen, dass es auch in den Zeiten des Terrors möglich war, Menschlichkeit zu beweisen. Sie tragen dazu bei, eine Generation der Zeugen von Zeugen zu bilden.

Ich danke Ihnen, dass Sie die Einladung zu dieser Gedenkstunde angenommen haben und zu uns sprechen werden.

Meine Damen und Herren,

in diese Gedenkstunde haben uns Klänge der Synagogalmusik von Louis Lewandowski eingestimmt, der im 19. Jahrhundert meisterhaft die alte jüdische Tradition mit der abendländischen Harmonik zu einem neuen Ganzen verband. Auf seinem Grabstein in der Ehrenreihe des Berliner Friedhofs in Weißensee steht geschrieben: „Liebe macht das Lied unsterblich!“ Seine Sakralmusik sollte ausgetilgt werden. Doch sie lebt wieder. Ich danke herzlich dem Synagogal Ensemble Berlin, das die Tradition jüdischer Musik bis heute in Gottesdiensten und Konzerten lebendig hält. Wir werden nun das Gebet „El Male Rachamim“ hören, das durch Nennung der Namen einiger Konzentrationslager zum Gedenken an die Opfer des Holocaust gesungen wird.

Parlament

Ansprache des Bundestagspräsidenten während der gemeinsamen Plenarsitzung zu „50 Jahre Élysée-Vertrag“

Es gilt das gesprochene Wort!

Sehr geehrter Herr Präsident der Republik,
sehr geehrter Herr Bundespräsident,
Frau Bundeskanzlerin,
Herr Premierminister,
Herr Präsident des Senats,
Herr Bundesratspräsident,
Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichts,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
verehrte Gäste!

Auch im Namen des Präsidenten der Assembleé Nationale, Claudé Bartolone, begrüße ich Sie alle herzlich zu der gemeinsamen Sitzung des Deutschen Bundestages und der französischen Nationalversammlung im Reichstagsgebäude in Berlin aus Anlass des 50. Jahrestages des Élysée-Vertrages vom 22. Januar 1963.

50 Jahre Élysée-Vertrag, 50 Jahre Deutsch-Französische Freundschaft: Wer ein Gespür für die Bedeutung von fünfzig Jahren in der jüngeren europäischen Geschichte hat, kann das nicht nur für eine runde Zahl, ein beliebiges Ereignis halten. Das vergangene halbe Jahrhundert markiert vielmehr eine grundlegende historische Wende in den Beziehungen unserer Länder, in der Geschichte Europas. Deshalb begrüße ich besonders gerne auf der Ehrentribüne den Präsidenten des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, und zahlreiche weitere Mitglieder als Repräsentanten aller in der Union vereinten Europäer.

Wir freuen uns über die Teilnahme vieler Ehrengäste; stellvertretend für alle nenne ich Richard von Weizsäcker, Hans-Dietrich Genscher und Rita Süssmuth.

Vor zehn Jahren sind unsere beiden Parlamente auf Einladung unserer französischen Freunde in Versailles zusammengetroffen - eine große Geste der Überwindung der wechselseitigen historischen Kränkungen von 1871 und 1919, die jeweils mit dem Namen Versailles verbunden sind.

Heute tagen wir in Berlin, der Hauptstadt des wiedervereinigten Deutschland, dessen staatliche Einheit es ohne die Aussöhnung zwischen unseren beiden Ländern nicht geben würde, und haben uns längst an einen Zustand des dauerhaften Friedens, der Freundschaft und Zusammenarbeit in einer Europäischen Union demokratischer Staaten gewöhnt, die die meisten Menschen in unseren Ländern längst für eine schiere Selbstverständlichkeit halten, weil sie in ihrer persönlichen Biographie nie andere Verhältnisse als diese kennengelernt haben.

1963 war die erste Nachkriegsgeneration noch nicht einmal volljährig. Konrad Adenauer und Charles de Gaulle schlossen den Vertrag – ich zitiere aus ihrer „Gemeinsamen Erklärung“ – „in der Überzeugung, daß die Versöhnung zwischen dem deutschen und dem französischen Volk, die eine Jahrhunderte alte Rivalität beendet, ein geschichtliches Ereignis darstellt, daß das Verhältnis der beiden Völker zueinander von Grund auf neu gestaltet“. Adenauer wurde wenige Jahre nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71 geboren. Wie er erlebten mehrere Generationen von Deutschen und Franzosen in der gleichen Zeitspanne von 50 Jahren zwei Weltkriege mit verheerenden Folgen für beide Länder. Heute ist das Verhältnis der beiden Völker zueinander von Grund auf neu gestaltet. So wie Europa sich in der Vergangenheit auf die alte, immer wieder aufbrechende Rivalität zwischen Deutschland und Frankreich einstellen musste, so kann und muss es sich für die Zukunft auf die Partnerschaft und Zusammenarbeit dieser beiden großen Nachbarländer verlassen.

Wer die Bedeutung von 50 Jahren Freundschaft zwischen zwei Ländern ermessen will, die in Europa über Jahrhunderte hinweg als Dauerrivalen oder gar als Erbfeinde galten, der sollte sich an die geradezu beschwörenden Worte von Winston Churchill unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg erinnern: „Der erste Schritt zu einer Neuschöpfung der europäischen Völkerfamilie muss eine Partnerschaft zwischen Frankreich und Deutschland werden“, sagte Churchill in seiner berühmten Rede 1946 in Zürich an die akademische Jugend Europas. Frankreich und Deutschland sind dieser damals ebenso kühnen wie weitsichtigen Aufforderung eines großen britischen Premierministers gefolgt.

Als der Élysée-Vertrag 1963 geschlossen wurde, wussten wir, dass eine neue Etappe in der Geschichte der Deutsch-Französischen Beziehungen beginnen würde. Heute wissen wir noch besser als damals, welche Bedeutung die deutsch-französische Aussöhnung und Freundschaft nicht nur für das Verhältnis unserer beider Länder, sondern für Europa im ganzen bekommen sollte.

Für die Zukunft Europas bleibt die deutsch-französische Verständigung unverzichtbar, gerade weil diese beiden Länder eben nicht gleiche, sondern durchaus unterschiedliche Interessen, Traditionen und Vorstellungen haben.

In jeder langjährigen stabilen Beziehung gibt es Phasen der Leidenschaft und solche der Vernunft. Im Augenblick befinden sich unsere beiden Länder eher in einer Phase der leidenschaftlichen Vernunft als der romantischen Verliebtheit. Dass muss kein Nachteil sein. Unsere Nachbarn in Europa und unsere Partner in der Welt können mit der Normalisierung der Beziehungen zwischen uns und ihnen sehr gut leben – besser als jemals zuvor in der europäischen Geschichte.

Heute verbinden wir die Feier einer fünfzigjährigen Freundschaft und Zusammenarbeit mit einem Appell an die Jugend Europas. An ihnen, den jungen Franzosen und Deutschen, die heute zur Schule gehen oder zur Universität, die in Betrieben und Unternehmen eine möglichst gute Berufsausbildung erhalten, liegt es, was aus diesem großen Vermächtnis in der Zukunft wird. Dafür steht auch die beispiellose Erfolgsgeschichte des deutsch-französischen Jugendwerks, das erfreulicherweise immer häufiger und immer stärker auch junge Leute aus den mittel- und osteuropäischen Ländern sowie den Mittelmeerstaaten in die gemeinsamen Programme und Aktivitäten einbezieht. So auch bei dem dreitägigen Jugendforum, das mit 150 Teilnehmern seit Sonntag hier in Berlin stattfindet! Ich begrüße die Delegation dieses Jugendparlaments zu unserem Festakt im Plenarsaal des Deutschen Bundestages.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, verehrte Gäste,

für die heutige Generation sind die engen freundschaftlichen Bande und die Freizügigkeit in ganz Europa völlig normal, selbstverständlich sind sie nicht. Sie sind es nicht vor der wechselhaften Geschichte beider Völker – und sie sind es in den internationalen Beziehungen auch heute nicht. Albert Camus, der große französische Autor, an dessen 100. Geburtstag wir in diesem Jahr erinnern, hat einmal gesagt: „L'homme n'est rien en lui-même. Il n'est qu'une chance infinie. Mais il est le responsable infini de cette chance“ – „Der Mensch ist nichts an sich. Er ist nur eine grenzenlose Chance. Aber er ist der grenzenlos Verantwortliche für diese Chance.“

Das ist ein schönes Motto für die nächsten 50 Jahre. Angesichts der europäischen Geschichte hat der deutsch-französische Vertrag von 1963 natürlich einen Wert an sich. Und er bietet noch immer grenzenlose Chancen. Verantwortlich dafür aber sind wir alle, Deutsche wie Franzosen gemeinsam als verlässliche Partner in einem vereinten Europa.