Rede von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2005 in Potsdam
Es gilt das gesprochene Wort
Am 3. Oktober 1990 erfüllte sich für die Deutschen ihr jahrzehntelanger Wunsch, die Spaltung des Landes friedlich zu überwinden und endlich geeint in einem demokratischen und sozialen Rechtsstaat zu leben!
15 Jahre sind nun vergangen, seit die DDR in freier Ausübung der Selbstbestimmung ihrer Bürger ihre Staatlichkeit beendete und der Bundesrepublik beitrat, als die Einheit Deutschlands in Freiheit hergestellt werden konnte. So hatte es wörtlich das Grundgesetz vorgesehen, über 40 Jahre war in ihm dieses Ziel „Einheit in Freiheit“ vorgegeben, war bewahrt worden und hatte bewirkt, dass es mit sehr unterschiedlichen politischen Methoden angestrebt worden ist. Es hat Phasen der Resignation gegeben und das große Pathos war von einer Politik der kleinen Schritte, der Verhandlungen und der Zusammenarbeit abgelöst worden, die sich letztendlich als wirksam erweisen sollte.
Fünfzehn Jahre sind seitdem vergangen, der Zeitraum fast einer Generation! Die Gefühle der Freude und großen Dankbarkeit, die ich damals - wie Millionen andere auch - empfunden habe, sind bis heute keineswegs verblasst. Schließlich war der 3. Oktober 1990 keine himmlische Fügung, kein bloßes Geschenk, sondern ein hart errungenes Ergebnis der friedlichen Revolution von 1989, also Ergebnis jener rasanten Umgestaltungsprozesse, die am 18. März 1990 erstmals eine freie Volkskammerwahl ermöglichten. Freie, gleiche und geheime Wahlen - für DDR-Verhältnisse war das ein unglaublicher Vorgang!
Über die persönliche und politische Freiheit, über die Möglichkeit, die eigene Meinung in öffentlicher Rede und freier Versammlung oder Demonstration zu vertreten, empfinde ich noch immer ein Gefühl des Glücks. Erinnern wir uns noch an das Leben in der DDR, wie wir uns übten in einer ganz besonderen Technik, wo und zu wem man was sagen konnte und wo und zu wem besser nicht, wie man tagsüber die öden DDR-Zeitungen las und abends ins Westfernsehen flüchtete. Erinnern wir uns noch, welch' Erniedrigungen und Ängstlichkeiten man ausgesetzt war, wenn man einen Reisepass beantragte für einen Besuch der Schwester oder des Onkels aus dem Westen bei den „Abteilungen Pass- und Meldewesen der Volkspolizei-Kreisämter“ - wie es damals hieß. Erinnern wir uns noch an die schleichende Militarisierung unserer Schulen durch Wehrunterricht und GST, an das politische Strafrecht, das viele Menschen in Gefängnisse brachte, weil sie ihr Menschenrecht auf freie Meinungsäußerung nicht aufgeben wollten, an die Mauer, an das Gefühl des Eingesperrtseins, an Mangelwirtschaft und Schlangestehen und an die Erfahrung, Urlaub immer nur im Lande oder in eine Himmelsrichtung hin machen zu können. Erinnern wir uns, wir Ostdeutschen, wenigstens gelegentlich, allzu oft muss es ja nicht mehr sein.
Denn: Das alles haben wir hinter uns gelassen, davon haben wir Ostdeutsche uns selbst befreit. Welch' große Leistung - für unser ganzes wiedervereinigtes Land. Es ist ein bleibendes, ein fröhliches Kapitel unserer deutschen Geschichte, auf das wir alle gemeinsam stolz sein können. Doch dürfen wir auch nicht vergessen, dass einer Phase der Euphorie, des großen Glücks, die Zeit der Ernüchterung folgte, wohl folgen musste, die Zeit mühseliger kleiner Schritte, der Enttäuschungen, des schweren Abschieds von gewohnten Sicherheiten und Erfahrungen der Gemeinschaftlichkeit, einem Leben im schönen und doch trügerischen Schein der Übersichtlichkeit, des Abschieds von der „grimmigen Idylle“, die die DDR auch war.
Die Erinnerung an 15 Jahre Deutsche Einheit bliebe lückenhaft, würde nicht auch an die bedeutende Rolle der 10. Volkskammer erinnert: Sie hat den 3. Oktober 1990 politisch mit vorbereitet. Die Wahl zu dieser Volkskammer markierte einen bedeutenden Wendepunkt in der Geschichte des Auf- und Umbruchs in der DDR: Sie beendete die revolutionäre Phase und eröffnete die parlamentarische. Am Tag der ersten Parlamentswahl in der DDR, die diesen Namen auch verdiente, erhielten die Forderungen der Demonstranten vom Herbst 1989 ihre demokratische Legitimation.
Der Souverän erteilte dem Parlament einen klaren Auftrag: die Herstellung der deutschen Einheit. Die Frage war nur, auf welchem Weg dieser Wählerauftrag zu erfüllen war - nach Artikel 23 oder nach Artikel 146 Grundgesetz. Die ausgehandelte Formel lautete dann: zügiger Beitritt, aber zuvor Verhandlungen. Dies war in der Tat der einzig realistische Weg einer schnellen Überwindung der deutschen Teilung im Angesicht des immer weiter voran schreitenden ökonomischen und politischen Zusammenbruchs der DDR und des damit einhergehenden Verlustes an politischer Gestaltungsmöglichkeit.
Gerade einmal sechs Monate hatte die 10. Volkskammer Zeit, die staatliche Einheit in Selbstbestimmung und in Anerkennung unserer historischen Verantwortung zu vollenden. Der Regelungsbedarf war gewaltig. Auf der Agenda standen die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion, die Prozesse der Rechtsangleichung, das Stasi-Unterlagengesetz und eine Reihe internationaler Abstimmungen.
Der Beitrittsbeschluss erging ausdrücklich erst nach Abschluss des Einigungsvertrages und der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen. Wir wollten einvernehmlich mit den Siegermächten und unseren Nachbarn in die Einheit gehen. Und ich bin auch heute noch stolz darauf, dass uns dies gemeinsam gelungen ist.
Natürlich hat es in diesen Monaten auch Fehler, Versäumnisse, Überforderungen gegeben, wie sollte es auch anders sein? Es gab ja kein Lehrbuch, in dem beschrieben würde, wie ein demokratisches Parlament sich selbst überflüssig macht, sich selbst und zugleich seinen Staat abschafft - und das auch noch zu akzeptablen Bedingungen.
Was in diesem Parlament, der 10. Volkskammer, geleistet und erreicht wurde, war ohne Vorbild. Und es konnte nur gelingen, weil seine Mitglieder von vielen Seiten unterstützt wurden: von Abgeordneten aus den alten Ländern, von der Bundesregierung, von den Schwesterparteien und -fraktionen des 11. Deutschen Bundestages, von vielen ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern. Auch an diese Solidarität sei heute, 15 Jahre danach, dankbar erinnert.
Die letzte Volkskammer war - trotz der Kürze ihres Mandats - mehr als nur ein Übergangsparlament, mehr als ein Lückenfüller zwischen Diktatur und Demokratie. Sie hat es geschafft, in das vereinte Deutschland eine auf die friedliche Revolution der ostdeutschen Bürgerinnen und Bürger begründete Demokratie mit einzubringen. Das ist eine großartige, eine wahrhaft historische Leistung und wir täten gut daran, diese Leistung im öffentlichen Bewusstsein stärker zu verankern.
Der deutsche Vereinigungsprozess im Jahre 1990 wurde in einer für das In- und Ausland atemberaubenden Geschwindigkeit vorangetrieben. Die vier Siegermächte des Zweiten Weltkriegs haben sich dem Sog des Vereinigungsstrebens in Deutschland nicht widersetzt. Mit ihrem Votum signalisierten sie Vertrauen in die Zukunft Deutschlands.
In Bonn und Ost-Berlin wurde der Einigungsprozess als Gestaltungsaufgabe begriffen, die sehr viel weiter reicht als nur bis vor die eigene Haustür, die sehr viel mehr umfasst, als nur die eigenen, innerstaatlichen Probleme: Das Einigungswerk verlangte nach einer europäischen Perspektive, nach einer Einbindung in den Prozess der europäischen Integration. Der Einigungsvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR, der am 20. September 1990 in den Parlamenten ratifiziert wurde, griff diese Perspektive verbindlich auf.
Die Deutsche Einheit, so hieß es in der Präambel des Vertrags, werde vollendet im Bestreben, „einen Beitrag zur Einigung Europas und zum Ausbau einer europäischen Friedensordnung zu leisten, in der Grenzen nicht mehr trennen und die allen europäischen Völkern ein vertrauensvolles Zusammenleben gewährleistet“. Mit anderen Worten: Deutsche Einheit und europäischer Integrationsprozess - das waren und sind zwei Seiten einer Medaille.
Gleichwohl waren im Vorfeld des Vereinigungsprozesses manche unserer Nachbarn auch skeptisch. Mit Blick auf die europäische Geschichte fragten sie sich, ob das vereinte Deutschland den Kontinent dauerhaft stärken oder schwächen würde. Die einen, die Franzosen, sorgten sich um die politische Balance, um das Gleichgewicht der Kräfte zwischen den zwei großen Staaten Westeuropas. Und die anderen, unsere polnischen Nachbarn, wollten endlich Gewissheit haben über den Bestand ihrer Grenze im Westen.
All diese Sorgen wurden ernst genommen und ausgeräumt. 15 Jahre nach der deutschen Vereinigung ist unser Kontinent stabiler und stärker als zuvor. Es gibt keine deutsche Frage mehr, die uns oder unseren Nachbarn unter den Nägeln brennt. Wir pflegen gute, belastbare Beziehungen zu allen europäischen Staaten, insbesondere zu Frankreich und Polen. Und wir haben unsere neuen Partner in Mittel- und Osteuropa sehr verlässlich auf ihrem Weg in die NATO und in die Europäische Union begleitet. Wir Deutsche werden nicht vergessen, dass ihr Einsatz für Freiheit und Menschenrechte ganz entscheidend dazu beigetragen hat, die deutsche Teilung, die Spaltung Europas und der Welt zu überwinden. Ich freue mich deshalb darüber, dass das Land Brandenburg und der Präsident des Bundesrates zum 15. Jahrestag der Deutschen Einheit so viele Gäste aus den europäischen Nachbarländern eingeladen haben. Sie sollen zu Recht an unserer Freude teilhaben!
Mit der Osterweiterung der Europäischen Union im Mai letzten Jahres verknüpften sich für die ostdeutschen Länder Hoffnungen auf neue Märkte, auf neue Formen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Keine Frage: Die geografische Nähe zu diesen EU-Partnern eröffnet Chancen und zwingt dazu, die eigenen Ressourcen und Potentiale stärker gerade in diese Richtung zu entwickeln.
Zwei Erfahrungsvorsprünge gegenüber dem Westen können die Ostdeutschen einbringen: Zum einen ihre Erfahrungen aus dem fünfzehnjährigen Umbruch- und Reformprozess in Ostdeutschland, der ja nicht zuletzt auch mentalitätsprägend war, Aufgeschlossenheit und Flexibilität förderte. Und zum anderen natürlich ihre wirtschaftlichen und kulturellen Erfahrungen mit osteuropäischen Partnern, etwa in Polen, Tschechien, der Slowakei, Ungarn, den baltischen Staaten.
Es gibt offenbar viele Berührungspunkte auf beiden Seiten. Doch ich frage mich: Wie gut sind die ostdeutschen Länder auf diese Kooperation, auf diesen Wettbewerb mit den neuen EU-Partnern vorbereitet? Welche wirtschaftlichen Potentiale haben wir heute in Ostdeutschland? Letztlich: Wo stehen wir beim Aufbau Ost, was sind die Perspektiven?
Entgegen früheren Vorstellungen oder Hoffnungen wissen wir, dass wir nach 15 Jahren Aufbauarbeit erst (schon?) die Mitte des Weges erreicht haben. Wir haben eingesehen, dass die von der Verfassung vorgeschriebene Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West sehr viel mehr Kraft, Ausdauer und Zeit erfordert, als wir es uns 1990 erhofft oder manchmal auch eingeredet haben.
Gegen alle Schwarzmalerei: Es ist sehr viel erreicht worden. Der Osten ist kein Jammertal und auch kein Milliardengrab. Die Lage zu beschreiben, bedarf es gehöriger Differenzierung. Denn es gibt beides: Es gibt beachtliche Erfolge, etwa bei der Sanierung der in der DDR vom Zerfall bedrohten Städte, bei der Modernisierung des Kommunikationsnetzes oder der Straßen. Und es gibt eine Reihe wettbewerbsfähiger Unternehmen - darunter einige traditionsreiche und viele neue.
Doch ein selbst tragender Aufschwung - der ist weiterhin nicht in Sicht. Vor allem die Situation auf dem Arbeitsmarkt ist dramatisch. Die Arbeitslosenquote ist nach 15 Jahren Einheit im Schnitt mit 18,4 Prozent noch immer fast doppelt so hoch wie im Westen. Im Baugewerbe, das zu Hochzeiten in den neuen Ländern über 800.000 Menschen beschäftigte, gingen seit 1996 rund 400.000 Arbeitsplätze verloren. Ein schmerzhafter Einbruch, den auch das starke Wachstum im verarbeitenden Gewerbe nicht ausgleichen konnte, obwohl dieses Wachstum im Jahr 2004 mit 8,8 Prozent sogar doppelt so hoch war wie im Westen.
Aber aus Fehlentwicklungen, Rückschlägen, sich ändernden Bedingungen kann man bekanntlich lernen. Es ist eine gute politische Richtungsentscheidung, bei der Vergabe öffentlicher Gelder die Gießkanne künftig im Schuppen zu lassen und vielmehr das zu fördern, was mittel- und langfristig trägt und was Beschäftigungszuwachs verspricht. Diese Neujustierung der Förderpolitik belegt einmal mehr, dass Veränderung im Kopf beginnt: Der Aufbau Ost ist ein nach vorne offener und sehr dynamischer Lernprozess - in allen Bereichen und für alle Beteiligte.
Der Osten übrigens, das sollten wir anerkennen, ist nicht mehr über einen Kamm zu scheren. Wir haben immer mehr Leuchttürme, Wachstumskerne und Regionen, die sehr deutlich auf einem erfolgreichen Weg sind und den Lebensverhältnissen in den alten Ländern nahe kommen. Diese leistungsfähigen Zentren mit zukunftsträchtigen Industrien um Leipzig, Dresden, Eisenach, Jena und Potsdam, um das Chemie-Dreieck und die Werften im Norden sind zugleich Ausgangspunkte für das wirtschaftliche Erstarken ganzer Regionen. Ostdeutschland hat allein als Industriestandort traditioneller Art keine Zukunft, sondern nur als Forschungs-, Bildungs- und Innovationsstandort. Es ist eine Frage der Prioritätensetzung, ob wir die Gelder in die immer bessere Asphaltierung neuer Straßen stecken, oder ob wir massiv Wissen, Bildung, Forschung fördern. Letzteres ist langfristig allemal sinnvoller.
Wenn ich höre, dass vor vier Wochen in Prenzlau, also im Norden Brandenburgs, Deutschlands größte Produktionsstätte für Solarmodule in Betrieb gegangen ist, dann verstehe ich das als ein hoffnungsvolles Signal für die gesamte Region. Zumal es sich hier nicht nur um eine zukunftsorientierte Technologie handelt, sondern auch um eine sehr erfolgreiche Firma: Sie hat innerhalb von nur drei Jahren ihre Kapazität verdreifacht und arbeitet inzwischen im Dreischichtbetrieb.
Natürlich hat die veränderte Förderpolitik auch eine Kehrseite: Wenn die Mittel jetzt in die Erfolg versprechenden Zentren fließen, heißt das doch auch, dass künftig anderen Regionen weniger Geld zur Verfügung steht. Das ist nicht schön, sicher, aber es ist notwendig. Gleichwohl dürfen wir die Randregionen nicht vergessen. Wir müssen den Menschen, die dort leben, erklären, was ihre Chancen sind und warum auch sie vom Erstarken der Zentren profitieren werden - nicht sofort, aber doch absehbar. Und wir müssen sie ermuntern, selbst aktiv zu werden, ihre Stärken und Kompetenzen vor Ort zu bündeln, Partner zu suchen, Kooperationen aufzubauen - auch über die eigenen Stadt- und Landesgrenzen hinweg. Zu viel Kreativität ist verkümmert in Zeiten der Alimentierung oder bei dem Versuch, jeweils nur zu kopieren, was im Westen funktioniert.
Chancenlos sind die neuen Länder jedenfalls nicht. Mit dem Solidarpakt II haben sie bis 2019 eine solide Finanzierungs- und Planungssicherheit. Diese Leistungen bilden einen verlässlichen Rahmen für die weitere Entwicklung, ein stabiles Fundament.
Aber Zukunftsgestaltung darf eben nicht nur im Rahmen von Förderprogrammen diskutiert werden. Die eigene Phantasie bleibt gefragt. Interessante Perspektiven bietet vor allem die EU-Osterweiterung. Durch diese sind die ostdeutschen Länder aus der europäischen Randlage in eine Mittellage gekommen, die wir zu einer „europäischen Verbindungsregion“ ausgestalten müssen. Das bedarf großer Anstrengungen, etwa in der regionalen und überregionalen Verkehrs- und Raumplanung und in der Förderung von Waren und Dienstleistungen, die ihre Kunden und Märkte in der grenzüberschreitenden Arbeitsteilung suchen. Notwendig ist, Entwicklungspotentiale auszuloten und auszubauen, das in den neuen Ländern brach liegende Osteuropa-Knowhow zu reaktivieren und Fachkräfte gezielt für künftige Kooperationen auszubilden. Denn überall entlang unserer Ostgrenze entstehen neue Märkte, die auch für ostdeutsche Produzenten wichtig sind. Werden diese Chancen nicht genutzt, werden die neuen Länder bestenfalls Transitland bleiben - und nicht eine Verbindungsregion im Zentrum der Europäischen Union.
Natürlich weiß ich, dass viele der Europäischen Union gegenüber skeptisch gestimmt sind, weil sie diese als sehr nüchtern und schwer durchschaubar erleben. Glaubt man einer Infratest-Umfrage aus Anlass des ersten Jahrestages der EU-Osterweiterung (vom Mai 2005), dann befürchten knapp 37 Prozent der Deutschen einen beschleunigten Abbau von Arbeitsplätzen zugunsten der neuen EU-Länder. Diese Furcht ist alarmierend und lässt wenig Raum, auch die vielen positiven Entwicklungen gebührend wahrzunehmen: Schon nach einem Jahr Ost-Erweiterung zeigt sich, dass die neuen Märkte wachsen. Der Export deutscher Produkte in die neuen Mitgliedsländer erreicht inzwischen das Volumen der Ausfuhr in die USA, was sich wiederum günstig auf die Schaffung neuer Arbeitsplätze in Deutschland auswirkt. Der wirtschaftliche Austausch, die Handelsbeziehungen aber auch die kulturellen Kontakte waren noch nie in der Geschichte so intensiv wie heute.
Dennoch: Die verbreiteten Sorgen vor der Europäischen Union, einer zu geringen öffentlichen Wahrnehmung, müssen wir ernst nehmen. Wir müssen den Bürgerinnen und Bürgern sagen, dass die Zukunft Deutschlands untrennbar mit Europa verbunden ist. Die Europäische Union ist von ihren Anfängen her und bis heute vor allem ein unerhörtes Friedenswerk gewesen und bleibt es! Wir müssen für die Vernunft, für die Rationalität dieser Union werben: dass wir angesichts des immer härter werdenden internationalen Wettbewerbs nur gemeinsam Freiheit sichern, nur gemeinsam Wohlstand bewahren und nur gemeinsam die Umwelt schützen können.
Deshalb auch muss es uns gelingen, aus der Europäischen Union eine wirkliche soziale Gemeinschaft zu machen. Sonst werden die Menschen dauerhaft Angst vor ihr haben. Denn es war doch die Angst vor einem unsozialen Europa, die eine Mehrheit der Franzosen und Niederländer veranlasst hat, gegen den Verfassungsvertrag zu stimmen. Sie haben Europa als einen Raum der immer brutaler werdenden Konkurrenz wahrgenommen, in dem sie durch ungebremstes Lohn- und Sozialdumping bedroht werden. Diese Angst gibt es auch in Deutschland und deshalb ist es richtig, wenn wir mit der Erweiterung des Entsendegesetzes dafür sorgen, dass derjenige, der aus anderen Ländern Dienstleistungen in Deutschland anbietet, das zu den Bedingungen tun muss, die hier herrschen. Diese Entscheidung ist zukunftsweisend, denn das vereinte Europa muss für mehr stehen als für Gewerbefreiheit und Wettbewerb. Es macht keinen Sinn, wenn die Europäische Union für die fortwährende Verschärfung des Wettbewerbs zuständig ist und die nationalen Regierungen die soziale Abfederung organisieren müssen.
Doch auf der anderen Seite ist nötig, besser aufeinander zu hören, was die Interessen des Anderen sind, was die Länder Osteuropas für Ziele und Hoffnungen mit ihrer Art von Wirtschafts-, Steuer- und Sozialpolitik erreichen wollen. Das müssen wir zur Kenntnis nehmen, wie auch umgekehrt die Interessen und Ziele, die Politiken Deutschlands, Frankreichs, Spaniens oder anderer westeuropäischer Länder auf wirkliches Verständnis in Osteuropa hoffen. Deshalb war es ja auch so ermutigend und beeindruckend, dass bei den EU-Finanzverhandlungen die osteuropäischen Länder bereit waren zu einem ganz ungewöhnlichen und gemeinsamen Schritt: Für den Preis einer Einigung mit allen Partnern schlugen sie für sich selbst - trotz großen Nachholbedarfs - vor, auf zugesagte erhebliche finanzielle Mittel zu verzichten. Wann hat es das schon gegeben in der EU!
Das zeigte einmal mehr, wie ernst es den mittel- und osteuropäischen Ländern mit Europa ist, wie sehr sie seinen, unseren gemeinsamen europäischen Erfolg wollen. Und zugleich lehrt es uns, wie wichtig es ist, Verständnis für den jeweils anderen Partner in Europa zu entwickeln, über gemeinsame und verschiedene Interessen und Ziele, über unsere Probleme und Ängste offen miteinander zu diskutieren. Nur so lässt sich der Gemeinschaftssinn der EU dauerhaft vertiefen, sind wir in der Lage weitere Schritte der Integration zu gehen, um den Sorgen der Bürger vor der Globalisierung begegnen zu können und gemeinsam für die Bewahrung und Erneuerung der größten Kulturleistung unseres Kontinents, das europäische Sozialstaatsmodell, zu arbeiten.
Wir haben allen Grund diesen Sozialstaat als unsere größte europäische Kulturleistung zu verteidigen. Er unterscheidet unseren Kontinent mehr als alles andere von den anderen Kontinenten, er trägt die Werte, die die „europäische Lebensform“ ausmachen. Die soziale Einhegung der freien Marktwirtschaft hat wesentlich zum Erfolg der europäischen Demokratien und zur Sicherung des sozialen Friedens beigetragen.
Die deutsche Einheit sollte die europäische Einigung befördern. Das war der einmütige Wunsch vor 15 Jahren, sowohl der frei gewählten Volkskammer wie des Bundestages, so stand es im Einigungsvertrag. Das gilt auch heute. Wir haben nicht zuletzt aus den Erfahrungen des glücklichen, aber auch schwierigen Prozesses der Deutschen Einheit allerdings gelernt: Es ist eine Sache, Verträge über Gemeinschaften abzuschließen, eine gemeinsame Währung zu schaffen und Wirtschaftsunternehmen zusammenzuschließen. Es ist aber eine andere, wahrlich nicht weniger wichtige Sache für das zu sorgen, was wir uns angewöhnt haben, die „innere Einheit“, die gesellschaftliche Einheit zu nennen. In Deutschland sind wir auf dem Weg zu diesem Ziel ein beträchtliches Stück vorangekommen, trotz aller ökonomischen und sozialen Differenzen im Lande, davon bin ich überzeugt. Wir werden auch in Europa weiter vorankommen, wenn wir begreifen, dass Europa mehr ist und mehr sein muss als ein gemeinsamer Wirtschafts-Raum. Seit Herodot nämlich ist Europa immer auch und vor allem ein Kulturbegriff gewesen, die Bezeichnung für einen gemeinsamen Geist, für eine Wertegemeinschaft, für einen Raum der Verständigung und des Verstehens. Dem bleiben wir Deutschen, in der Mitte des Kontinent lebend, verpflichtet - um unserer nationalen Einheit willen, die wir vor 15 Jahren auf so friedlich-glückliche Weise wiedererlangt haben!