Parlament

Wie das Grundgesetz eine kanzlerlose Zeit verhindert

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mit Bundeskanzler Olaf Scholz und den Ministerinnen und Ministern der Bundesregierung, die im Schloss Bellevue ihre Entlassungsurkunden erhielten.

Bundeskanzler Olaf Scholz (zweiter von rechts) und die Ministerinnen und Minister der Bundesregierung haben im Schloss Bellevue ihre Entlassungsurkunden von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (rechts) erhalten. Sie bleiben aber vorerst kommissarisch im Amt. (© picture alliance/dpa/Michael Kappeler)

Der am 23. Februar 2025 gewählte neue Bundestag ist am 25. März zu seiner ersten, konstituierenden Sitzung zusammengetreten. Damit endete die alte, 20. Wahlperiode, und es begann die neue, 21. Wahlperiode. Die neu gewählten Abgeordneten traten ihr Mandat an, nicht wiedergewählte Abgeordnete der vorigen Wahlperiode verloren ihr Mandat. Doch ist die alte Bundesregierung noch im Amt? Das Grundgesetz gibt die Antwort vor: In Artikel 69 Absatz 2 heißt es, dass mit dem Zusammentritt des neuen Bundestages in jedem Fall das Amt des Bundeskanzlers und der Bundesminister „endigt“.

Aus diesem Grund hat Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier dem Bundeskanzler und den Mitgliedern der Bundesregierung direkt im Anschluss an die konstituierende Sitzung des Bundestages im Amtssitz Schloss Bellevue die Entlassungsurkunden ausgehändigt. 

Kanzler muss im Amt bleiben

Da die Kanzlerwahl nicht auf der Tagesordnung der konstituierenden Sitzung des Bundestages stand, wäre die Bundesrepublik seit dem 25. März ohne eine Regierung.

Um dies zu verhindern, regelt das Grundgesetz im dritten Absatz des Artikels 69: „Auf Ersuchen des Bundespräsidenten ist der Bundeskanzler, auf Ersuchen des Bundeskanzlers oder des Bundespräsidenten ist ein Bundesminister verpflichtet, die Geschäfte bis zur Ernennung seines Nachfolgers weiterzuführen.“

Geschäftsführende Bundesregierung

Tritt dieser Fall ein, spricht man von der „geschäftsführenden Bundesregierung“. Wann der neue Bundeskanzler gewählt werden muss, regelt das Grundgesetz nämlich nicht. In den Wahljahren von 1953 bis 1987 und von 1994 bis 2002 sowie 2009 wählte der Bundestag den Kanzler oder die Kanzlerin jeweils in seiner zweiten Sitzung der neuen Wahlperiode. Dreimal fand die Kanzlerwahl in der dritten Sitzung statt: Dr. h. c. Konrad Adenauer am 15. September 1949, acht Tage nach der konstituierenden Sitzung; Dr. Helmut Kohl nach der ersten gesamtdeutschen Wahl am 17. Januar 1991, vier Wochen nach der konstituierenden Sitzung; und Dr. Angela Merkel am 22. November 2005, fünf Wochen nach der konstituierenden Sitzung.

Die Wiederwahl von Angela Merkel am 17. Dezember 2013 ging erst in der vierten Sitzung über die Bühne, acht Wochen, nachdem sich der 18. Deutsche Bundestag konstituiert hatte. Olaf Scholz wurde am 8. Dezember 2021 in der fünften Sitzung der 20. Wahlperiode gewählt, 43 Tage nach der konstituierenden Sitzung. Die mit Abstand längste Phase zwischen Konstituierung und Kanzlerwahl gab es nach der Bundestagswahl 2017. Erst am 14. März 2018, 141 Tage nach der konstituierenden Sitzung am 24. Oktober 2017, kam es zur Wiederwahl Merkels in der 19. Sitzung der 19. Wahlperiode.

Personeller Status quo

Ersucht also der Bundespräsident den Kanzler, im Amt zu bleiben, dann ist der Kanzler dazu auch verpflichtet. Einige Verfassungsrechtler sagen, der Bundeskanzler könnte sich aus zwingenden Gründen auch weigern, andere sehen es allein als Sache des Bundespräsidenten an, ob er Gründe für eine solche Unzumutbarkeit der weiteren Amtsführung berücksichtigen will. Ein objektiver Grund für eine „Unzumutbarkeit“ könnte etwa eine schwere Krankheit sein.

Weigert sich ein Kanzler in einer solchen Situation zu Recht, im Amt zu bleiben, dann darf der Bundespräsident für eine „geschäftsführende Vertretung“ sorgen: der Vizekanzler würde also die Regierung führen. Grundsätzlich gilt bei der personellen Zusammensetzung der geschäftsführenden Bundesregierung der Status quo.

Rücktritt oder Entlassungen sind aber nicht völlig ausgeschlossen, etwa bei Amtsunfähigkeit oder aus gesundheitlichen Gründen. Verwaiste Ministerien können nur von Regierungsmitgliedern übernommen werden. Neue Minister, die der Regierung bisher nicht angehört hatten, dürfen nicht berufen werden.

Kukies, Wissing, Özdemir für Lindner, Buschmann, Stark-Watzinger

Diese für die Zeit nach der konstituierenden Sitzung des Bundestages vorgesehene Praxis haben Bundespräsident Steinmeier und Bundeskanzler Olaf Scholz bereits angewandt. Nach dem Bruch der Ampelkoalition hatten Bundesfinanzminister Christian Lindner, Bundesjustizminister Dr. Marco Buschmann und Bundesbildungs- und -forschungsministerin Bettina Stark-Watzinger (alle FDP) am 7. November 2024 vom Bundespräsidenten im Schloss Bellevue ihre Entlassungsurkunden erhalten. 

Zugleich ernannte Steinmeier den Staatssekretär im Bundesfinanzministerium Jörg Kukies (SPD) zum neuen Bundesfinanzminister und betraute den aus der FDP ausgetretenen Bundesdigital- und -verkehrsminister Volker Wissing zusätzlich mit der Leitung des Bundesjustizministeriums. Am 25. November folgte die Ernennung des Bundesernährungs- und -landwirtschaftsministers Cem Özdemir (Bündnis 90/Die Grünen) zum gleichzeitigen Bundesminister für Bildung und Forschung.

Größtmögliche politische Zurückhaltung

Die geschäftsführende Regierung besitzt nach herrschender Meinung grundsätzlich dieselben Befugnisse wie eine „regulär“ im Amt befindliche Regierung. Ihr Handlungsspielraum ist von Rechts wegen nicht auf die „laufenden Geschäfte“ beschränkt. Verfassungsrechtler weisen aber zum Teil darauf hin, dass ihr Übergangscharakter größtmögliche politische Zurückhaltung gebiete.

Eine geschäftsführende Regierung hat das Recht, Gesetze zu initiieren und den Haushalt einzubringen. Die Minister können ihren Geschäftsbereich weiterhin selbstständig und unter eigener Verantwortung leiten (Artikel 65 des Grundgesetzes). Sie können Rechtsverordnungen und Verwaltungsvorschriften erlassen.

Weder Vertrauensfrage noch Misstrauensvotum möglich

Der Bundeskanzler selbst kann jedoch nicht im Parlament die Vertrauensfrage nach Artikel 68 des Grundgesetzes stellen. Er amtiert in dieser Phase eben nicht auf der Grundlage des parlamentarischen Vertrauens des neuen Bundestages. Als nur geschäftsführender Kanzler kann er nicht die Voraussetzungen schaffen, um den Bundestag aufzulösen.

Auch ein Misstrauensvotum des neu gewählten Bundestages nach Artikel 67 des Grundgesetzes ist ausgeschlossen. Das Parlament besitzt gegenüber der geschäftsführenden Regierung aber die übrigen parlamentarischen Kontrollrechte, etwa das Recht, einen Untersuchungsausschuss einzusetzen.

Kein Selbstauflösungsrecht des Parlaments

Aufgabe des Bundestages ist es, einen neuen Bundeskanzler zu wählen (Artikel 63 des Grundgesetzes). Der Bundespräsident muss dem Parlament dazu innerhalb einer angemessenen Frist einen Wahlvorschlag präsentieren. Er kann damit auch bei übermäßig langen oder gescheiterten Koalitionsverhandlungen das Wahlverfahren durch einen Vorschlag in Gang setzen. Wird der vom Bundespräsidenten Vorgeschlagene nicht zum Kanzler gewählt, so hat der Bundestag 14 Tage Zeit, mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen neuen Kanzler zu wählen (Artikel 63 Absatz 3 des Grundgesetzes).

Für den Fall, dass ein neuer Kanzler nicht gewählt wird, kennt das Grundgesetz weder eine automatische Auflösung des Parlaments noch ein Selbstauflösungsrecht des Parlaments. Die Möglichkeit der Parlamentsauflösung mit anschließenden Neuwahlen ergibt sich als Folge der Kanzlerwahl im Bundestag nur, wenn in einer dritten Wahlphase der für das Kanzleramt Vorgeschlagene zwar die meisten Stimmen erhält (Minderheitenkanzler), nicht aber von der Mehrheit des Bundestages gewählt wird.

Neuwahl innerhalb von 60 Tagen

Dann muss der Bundespräsident nach Artikel 63 entscheiden, ob er den mit einfacher Mehrheit Gewählten zum Bundeskanzler ernennt oder den Bundestag auflöst.

In letzterem Fall muss der Bundestag innerhalb von 60 Tagen neu gewählt werden (Artikel 39 Absatz 1 des Grundgesetzes). (vom/26.03.2025)