Scholz: Laufzeitverlängerung bis Mitte April 2023 sinnvollste Lösung

Der 2. Untersuchungsausschuss befragte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). (© picture alliance/dpa | Michael Kappeler)
Zeit:
Donnerstag, 16. Januar 2025,
10.30 Uhr
Ort: Berlin, Paul-Löbe-Haus, Sitzungssaal E.700
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat die Verlängerung der gesetzlich begrenzten Laufzeit der letzten drei aktiven deutschen Kernkraftwerke von Ende 2022 auf Mitte April 2023 als „sinnvollste Lösung“ dargestellt. So sollte nach Aussagen des Kanzlers seinerzeit die Versorgung mit Energie sichergestellt und einer drohenden extremen Verteuerung begegnet werden. Scholz wurde im 2. Untersuchungsausschuss, der die Umstände des deutschen Atomausstiegs untersucht, am Donnerstag, 16. Januar 2025, als letzter Zeuge befragt.
In den Sitzungen unter der Leitung von Dr. Stefan Heck (CDU/CSU) ging es insbesondere um die Frage des politischen Umgangs mit der Kernenergie, seit nach dem russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 vor allem die Gaslieferungen reduziert wurden und dann ganz ausblieben.
„Habeck und Lindner konnten sich nicht einigen“
Der Kanzler hatte die Verschiebung des Abschaltdatums am 19. Oktober mit dem seltenen Instrument der Richtlinienkompetenz vorgegeben, weil sich bei einem Dreiertreffen Wirtschaftsminister Dr. Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen) und der damalige Finanzminister Christian Lindner (FDP) über das Vorgehen nicht einigen konnten. Die Grünen wollten allenfalls die zwei süddeutschen Atomkraftwerke Isar 2 und Neckarwestheim II über den Jahreswechsel hinaus weiterbetreiben, die Liberalen drängten auch auf Einbeziehung der Anlage Emsland und einen Weiterbetrieb bis über den Winter 2023/2024 hinaus.
Endgültig entschied sich Scholz für den von ihm dann propagierten Weg, wie er bekundete, nach einer mehr als einstündigen Telefonschalte, an der auch Habeck und Lindner, insbesondere aber auch die Betreiber der drei fraglichen Kernkraftwerke teilnahmen. Präzise seien alle Dinge, die damals ständig in der Diskussion gewesen seien, durchgesprochen worden, so Scholz.
Weiterbetrieb nur über den Winter
Ein Ergebnis: Alte Kraftwerke wieder in Betrieb zu nehmen, mache gar keinen Sinn. Das komme viel zu teuer und setze langwierige neue Genehmigungsverfahren voraus. Rechtliche und technische Fragen kämen hinzu. Atommeiler als kalte Reserve vorzuhalten, sei auch nicht möglich. Sie könnten nicht einfach an- und ausgeknipst werden.
Für Scholz kam, wie er sagte, nur noch in Frage, die Kraftwerke über den bevorstehenden Winter weiterzubetreiben. Dafür reiche noch der Brennstoff, hätten die Betreiber versichert. Die Brennelemente könnten ausgelutscht werden.
„Neue Brennstäbe nicht vereinbar mit Atomausstieg“
Eine Variante war zudem, neue Brennstäbe zu beschaffen. Die müssten, wie er erfahren habe, die volle Nutzungsdauer in Betrieb sein, so Scholz – fünf bis sieben Jahre. Nur für den zweiten Winter zusätzlich die Laufzeit zu verlängern, sei also nicht möglich.
Mit dem letzten Punkt war dann auch die Brisanz des Ausschusses angesprochen. Neue Brennstäbe zu kaufen, wäre eine Entscheidung mindestens für dieses Jahrzehnt gewesen, meinte Scholz. Das sei nicht vereinbar mit dem schon 2011 vereinbarten Atomausstieg, beschied er. Und daran wolle er auf jeden Fall festhalten nach den Katastrophen von Tschernobyl und Fukushima und angesichts der ungelösten Endlagerfrage. Neue Kernkraftwerke seien überdies so teuer, dass sie nicht wirtschaftlich betrieben werden könnten.
Prüfvermerk der Ministerien Umwelt und Wirtschaft
Die Abgeordneten von CDU/CSU, FDP und AfD machten dagegen in den Sitzungen deutlich, dass sie in der Kernkraft eine Zukunft sehen. Deswegen sprachen sie immer wieder einen „Prüfvermerk“ an, auf den sich die grün-geführten Ministerien Umwelt und Wirtschaft bereits am 7. März 2022, also kurz nach dem russischen Überfall und ersten Überlegungen, wie dem drohenden Gasmangel begegnet werden könne, geeinigt hatten.
Darin wird einem Weiterbetrieb der drei Kernkraftwerke wegen Sicherheitsmängeln und fehlendem Nutzen eine Absage erteilt. Mithin: Nach Ansicht von Union und Liberalen konnte von einer ergebnisoffenen Prüfung durch die Ministerien keine Rede sein. Frage im Ausschuss an Scholz: Lag eine ergebnisoffene Prüfung vor? Antwort: „Darauf muss man ja setzen.“
Regelung mit der Richtlinienkompetenz
Er zeigte nach seiner Darstellung bei der Sache mit dem Vermerk ohnehin Zurückhaltung. Dass eine Verlängerung gar nicht geht, stehe nicht drin. „Meine Einschätzung war: Da schauen wir noch mal.“ Die Blicke schärften sich in den nächsten Monaten. Nach einem Stresstest der Energielage unter eher moderaten Bedingungen und einem zweiten harten Stresstest war die Verlängerung der Laufzeit für Habeck kein Thema mehr. Er hatte es nur schwer, seine Partei davon zu überzeugen. Die Beschränkung auf zwei Anlagen war der Kompromiss, den die Bundesdelegiertenkonferenz der Grünen vom 14. bis 16. Oktober 2022 beschloss.
Scholz hatte die Hoffnung, dass sich bei einem Gespräch mit Habeck und Lindner am 16. Oktober eine Einigung erzielen lasse. Doch der grüne und der liberale Minister wollten nicht. Da kündigte er ihnen an, die Angelegenheit mit seiner Richtlinienkompetenz zu regeln, so der Kanzler: „Das muss ich auf meine Kappe nehmen.“
Habeck: Es gab keine Denkverbote

Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck als Zeuge vor dem 2. Untersuchungsausschuss. (© picture alliance/dpa | Kay Nietfeld)
Vor dem Kanzler hatte der Ausschuss am 16. Januar Bundeswirtschaftsminister Dr. Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen) als Zeugen befragt. Habeck bekräftigte seine Auffassung, dass die Prüfung eines Weiterbetriebs der drei letzten deutschen Kernkraftwerke über das eigentlich vorgesehene Abschaltdatum Ende 2022 hinaus ergebnisoffen und ohne ideologische Vorgaben erfolgt sei.
Vor dem 2. Untersuchungsausschuss erklärte der Minister: „Es gab keine Denkverbote.“ Seine Devise sei gewesen: „Machen, was hilft und was geht.“ Das habe auch für die letzten drei Atomkraftwerke gegolten.
„Die Hütte brannte lichterloh“
Zugleich machte er deutlich, wie „bedrohlich“ er die nach seinem Amtsantritt als Wirtschaftsminister Ende 2021 vorgefundene starke Abhängigkeit von russischen Energielieferungen empfunden habe und für die die Vorgängerregierung die Verantwortung trage. Als der Krieg gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 begonnen habe, sei ihm sofort klar gewesen, „dass die Versorgungslage an der Kante“ stehe.
„Als der Krieg kam, war klar, dass wir in einer erpressbaren Situation sind – bei einem Gasspeicherstand von 27 Prozent“, sagte Habeck. Deutschland sei abhängig und verwundbar gewesen. „Die Hütte brannte lichterloh“, stellte der Minister fest.
„Energiesicherheit in den Mittelpunkt gestellt“
Habeck schilderte vor dem Untersuchungsausschuss, dass er unmittelbar nach seinem Amtsantritt eine andere Politik eingeleitet habe. „Ich habe sofort Energiesicherheit in den Mittelpunkt meines Handels gestellt“, erklärte er. So seien dank eines von ihm auf den Weg gebrachten Gesetzes die Gasspeicher wieder voll gewesen, als Putin die Gasversorgung abgedreht hatte. Die Versorgungssicherheit sei gewährleistet gewesen.
Ein Embargo von russischem Gas, wie das der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz gefordert habe, habe er abgelehnt, schilderte Habeck. Eine für diesen Fall drohende Rezession mit Schrumpfung der Wirtschaftsleistung um sechs Prozent und eine Gasmangellage „hätte unser Land nicht ausgehalten“. Doch durch „entschlossenes Handeln“ habe man die Voraussetzungen für eine sichere Versorgung mit Erdgas geschaffen, denn schließlich habe Putin die Lieferungen gestoppt. Zu den in diesem Zusammenhang errichteten LNG-Terminals sagte Habeck, er sei kein Fan von LNG-Gas, aber es dürfe keine Denkverbote geben.
„Streckbetrieb hätte nichts gebracht“
Habeck schilderte, wie sich die Situation im Jahr 2022 mehrfach verändert habe. Zur Debatte über eine Verlängerung der Laufzeit der deutschen Atomkraftwerke sagte er, diese sei vor dem Hintergrund der Gasversorgung und der leeren Speicher zu sehen. Eine Überlegung sei gewesen, die Atomkraftwerke im Sommer nicht so stark zu nutzen, um sie dafür noch im Winter 2023 zur Verfügung zu haben.
Grundlage dieser Überlegung sei gewesen, dass man im Sommer genug Gas gehabt hätte. Das sei aber nicht der Fall gewesen. Die Füllmenge der Speicher habe nur noch 27 Prozent betragen. „Daher gelangten wir zu der Überzeugung, dass der Streckbetrieb nichts gebracht hätte“, erläuterte Habeck.
„Eindeutige Weisung zur ergebnisoffenen Prüfung“
Eine Verlängerung der Laufzeiten über den Winter hinaus sei zudem negativ beurteilt worden, weil die Betreiber dafür neue Brennstäbe gebraucht hätten, deren Lieferung zwölf bis 15 Monate in Anspruch genommen hätte. Außerdem hätten die Betreiber den Staat für den Weiterbetrieb in Haftung nehmen wollen, was den Staat faktisch zum Betreiber gemacht hätte.
Er habe damals zusammen mit Umweltministerin Steffi Lemke (Bündnis 90/Die Grünen) einen Streckbetrieb „als insgesamt nicht sinnvoll“ erachtet. Zu einem gemeinsamen Prüfvermerk von Wirtschafts- und Umweltministerium vom 7. März 2022, in dem ein Weiterbetrieb der Kernkraftwerke unter anderem aus Gründen der nuklearen Sicherheit abgelehnt worden war, erklärte Habeck, seine Weisung sei eindeutig gewesen, ergebnisoffen zu prüfen.
Zweiter Stresstest zur Energieversorgung
Später habe sich die Lage geändert: „Es erhöhten sich die Risiken für den Winter Schritt für Schritt“. Habeck erinnerte daran, dass Russland Ende August die Lieferungen komplett gestoppt habe, französische Atomkraftwerke seien ausgefallen. Durch den niedrigen Wasserstand des Rheins habe die Versorgung von Kohlekraftwerken mit Kohle nicht mehr sichergestellt werden können.
Dann hätten die Betreiber der Kernkraftwerke frühere Angaben geändert und erklärt, bei einem Streckbetrieb könne es zusätzliche Strommengen geben. Mitte Juli habe er entschieden, einen zweiten Stresstest zur Energieversorgung machen zu lassen mit „realitätsbezogenen Extremszenarien“ und ergebnisoffen. „Und das geschah auch so.“
„Streckbetrieb auf Abruf“ vorbereitet
Ende August habe er begonnen, über eine Einsatzreserve durch Kernkraftwerke nachzudenken. Politisch habe er dabei die Position von Union und FDP übernommen, die das 2011 schon vorgeschlagen hätten. Der zweite Stresstest habe jedoch ergeben, dass es kaum Gaseinsparungen durch einen Weiterbetrieb geben würde. Es sei ein Wert von einem Promille genannt worden. Da auch Frankreich seinerzeit auf Stromimporte aus anderen Ländern angewiesen war, sei auf die Nutzung von Reservekraftwerken zurückgegriffen worden. Das seien die entscheidenden Maßnahmen gewesen.
Dennoch sei ein „Streckbetrieb auf Abruf“ der Kernkraftwerke für den Winter vorbereitet worden. Eine finale Entscheidung sollte im Dezember getroffen werden. Das Gesetz habe vorgelegen, aber die FDP habe blockiert, weil sie ideologisch auf längere Laufzeiten festgelegt gewesen sei. Diese Blockade sei erst durch die Richtlinienentscheidung des Kanzlers, die Laufzeit der letzten drei Kernkraftwerke bis Mitte April 2023 zu verlängern, aufgelöst worden. „Ich konnte mit dieser Entscheidung sehr gut leben“, sagte Habeck.
Auftrag des Untersuchungsausschusses
Der Untersuchungsausschuss wurde am 4. Juli 2024 vom Bundestag eingesetzt und befasst sich mit den staatlichen Entscheidungsprozessen zur Anpassung der nationalen Energieversorgung an die durch den Angriffskrieg gegen die Ukraine veränderte Versorgungslage.
Der Ausschuss hat den Auftrag, sich ein Gesamtbild von den Entscheidungsprozessen sowie deren Kommunikation an den Bundestag und an die Öffentlichkeit zu verschaffen. Dies gilt vor allem für die Entscheidungen über einen möglichen Weiterbetrieb der Kernkraftwerke. Es soll untersucht werden, welche Informationen den Entscheidungen zugrunde gelegt wurden, welche nationalen und internationalen Stellen in die Entscheidungsprozesse einbezogen wurden und ob die Einbeziehung weiterer Informationen oder Stellen sachgerecht gewesen wäre. (fla/hle/17.01.2025)