Das Parlamentsjahr 2024: Turbulent und unerwartet
Ein Blick auf den Kalender verrät: Es ist wieder so weit, das Jahr neigt sich dem Ende zu. Während das politische Berlin in die Winterpause geht, wollen wir die letzten Monate Revue passieren lassen. Welche großen und kleinen Herausforderungen gab es zu meistern? Welche Gesetze wurden verabschiedet? Worüber wurde viel gestritten? Und welche freudigen Anlässe gab es zu feiern? Rückblick auf ein turbulentes Jahr 2024 mit einem unerwarteten Ende.
Eine Frage des Geldes
Was du heute kannst besorgen, das verschiebe auf nächstes Jahr – ein Motto, das für den Jahresstart nicht passender hätte sein können. Eigentlich war der Etat für 2024 im November vergangenen Jahres – nach langem Streit – so gut wie fertig. Doch dann kam das Bundesverfassungsgericht und durchkreuzte die Pläne der Ampel-Regierung. Das Urteil lautete: Der Umgang mit milliardenschweren Krediten aus der Corona-Zeit ist verfassungswidrig. Damit fehlten plötzlich 60 Milliarden Euro, die im Haushalt bereits fest eingeplant waren. Was nun? Bevor man eine Lösung fand, ging es erst einmal in die Weihnachtspause. Das Problem wurde auf nächstes Jahr vertagt.
Auf der Agenda der ersten Sitzungswoche 2024 stand also die Frage: Wie lassen sich Einsparungen erzielen und Einnahmen erhöhen? Während die FDP weiterhin darauf bestand, die Schuldenbremse einzuhalten und Kürzungen bei den Sozialausgaben vorzunehmen, lehnten SPD und Bündnis 90/Die Grünen Sozialeinsparungen ab und stellten stattdessen den vereinbarten Verzicht auf Steuererhöhungen zur Disposition. Letztere lehnte die FDP hingegen strikt ab. Eine Pattsituation, für die erst Wochen später eine Lösung gefunden werden konnte: eine höhere Luftverkehrssteuer, Sanktionsmöglichkeiten beim Bürgergeld und den schrittweisen Abbau des begünstigten Agrardiesels.
Letztendlich wurde das Zweite Haushaltsfinanzierungsgesetz 2024 (20/9999) am 2. Februar zwar mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen (gegen die Stimmen von CDU/CSU und AfD) angenommen, doch CDU/CSU kritisierte das Verfahren deutlich. Der Haushaltsausschuss sei nicht dazu da, „den Streit in der Koalition auszugleichen“, betonte der Ausschussvorsitzende Prof. Dr. Helge Braun (CDU/CSU) und ergänzte an Bundesfinanzminister Christian Lindner gewandt: „Deshalb kann ich nur nachdrücklich sagen, Herr Bundesminister: So etwas sollte sich nicht wiederholen.“
Der Bundestag nimmt Abschied
Am 22. Januar nahm der Bundestag Abschied vom früheren Bundestagspräsidenten Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU). Im Rahmen eines Staatsaktes am 22. Januar wurde an den wenige Wochen zuvor verstorbenen Politiker gedacht und dessen Verdienste gewürdigt. Unter den Trauergästen befanden sich neben zahleichen Abgeordneten und Familienmitgliedern des Verstorbenen auch Ehrengäste wie Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron.
Deutschland habe einen Staatsmann, Europa eine Säule und Frankreich einen Freund verloren, sagte Macron in seiner teils auf Deutsch gehaltenen Gedenkrede über Wolfgang Schäuble. Ähnliche Worte tiefer Anerkennung fand auch Bundestagspräsidentin Bärbel Bas: „Deutschland verliert einen großen Demokraten und Staatsmann, Europa einen Vordenker und Frankreich einen besonderen Freund.“
„Sei ein Mensch“
Nur wenige Tage nachdem der Bundestag Abschied genommen hat, fand eine beeindruckende Gedenkstunde zum 27. Januar statt. In Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus sprachen am 31. Januar die Holocaust-Überlebende Eva Szepesi und der Sportjournalist Marcel Reif. Beide riefen in ihren Reden zu mehr Menschlichkeit und Widerspruch gegen Rassismus auf.
„Wer schweigt, macht sich mitschuldig“, sagte Szepesi mit Verweis auf erstarkenden Judenhass und Rechtsextremismus. „Die Schoah begann nicht mit Auschwitz, sie begann mit Worten – und sie begann mit dem Schweigen und dem Wegschauen der Gesellschaft.“ Marcel Reif, der Sohn eines Holocaust-Überlebenden ist, appellierte an die Abgeordneten: „Sei a Mensch – sei ein Mensch.“ Diesen Satz habe sein Vater ihm oft geschenkt, „mal als Mahnung, mal als Warnung, als Ratschlag oder auch als Tadel. Drei Worte nur in einem warmen Jiddisch, das ich so vermisse.“ Mit seiner Rede rührte er einige Zuschauer zu Tränen und erhielt anschließend minutenlangen, stehenden Applaus.
Selenskyj im Bundestag
Viel Beifall gab es auch für den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, der den Deutschen Bundestag im Rahmen seiner Reise zur Wiederaufbaukonferenz für die Ukraine im Juni besuchte. Selenskyj nutzte die Gelegenheit, Deutschland erneut für die Unterstützung seines Landes und die Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge zu danken. Gleichzeitig rief er dazu auf, den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine gemeinsam erfolgreich zu beenden: „Es ist unser gemeinsames Interesse, dass Putin diesen Krieg persönlich verliert.“
Während der Großteil der Parlamentarier den Präsidenten mit langanhaltendem Beifall begrüßte, blieben Abgeordnete des BSW und der größte Teil der AfD-Fraktion der Sitzung fern. „Wir lehnen es ab, einen Redner im Tarnanzug anzuhören. Selenskyjs Amtszeit ist abgelaufen. Er ist nur noch als Kriegs- und Bettelpräsident im Amt“, hieß es aus der AfD-Fraktion.
Die BSW-Gruppe begründete ihr Fernbleiben mit einer „hochgefährlichen Eskalationsspirale“, die der ukrainische Präsident befördern würde. Damit nehme er „das Risiko eines atomaren Konfliktes mit verheerenden Konsequenzen für ganz Europa in Kauf“. Ein Verhalten, das bei den übrigen Fraktionen zu scharfer Kritik und Kommentaren wie „Ich habe selten eine solche Respektlosigkeit erlebt“ (Dirk Wiese, SPD) führte.
Im Namen des Volkes
Trotz anstehender Sommerpause kam es im Juli zu gleich zwei wichtigen Entwicklungen. Zum einen wurde am 4. Juli ein 2. Untersuchungsausschuss konstituiert. Diesen hatte die Union zur Prüfung der aktuellen Energiepolitik beantragt. Konkret soll es dabei um die Abschaltung der letzten drei Kernkraftwerke sowie die Energiepolitik nach Beginn des Krieges in der Ukraine gehen.
Zum anderen verkündete das Bundesverfassungsgericht sein Urteil zur Wahlrechtsreform. Das Ergebnis: Die Reform ist in Teilen verfassungswidrig. Zwar stimmte das oberste Gericht dem Vorhaben der Ampel zu, den Bundestag durch die Streichung von Überhang- und Ausgleichsmandaten zu verkleinern. Doch dürfe dies nicht, wie in der Reform ursprünglich vorgesehen, zu einer Fünf-Prozent-Hürde ohne Grundmandatsklausel führen. Das Wahlrecht muss also noch einmal angefasst und dahingehend angepasst werden. Bis es jedoch zu einer Neuregelung kommt, gilt die Fünf-Prozent-Hürde kombiniert mit der Grundmandatsklausel vorerst fort.
75 Jahre Deutscher Bundestag
Nach der Sommerpause ist vor den Feierlichkeiten. Am 7. September 1949 konstituierte sich der erste Deutsche Bundestag in Bonn – Anlass genug, um das Parlament, „die Herzkammer unserer Demokratie“, zu feiern. Mit einem Bürgerfest, einem Tag der Ein- und Ausblicke und einer Gedenkveranstaltungen zur Konstituierung des Parlaments vor 75 Jahren wurde auf das Jubiläumsjahr angestoßen.
Neben Torte, Musik und Aktionen, gab es aber auch mahnende Worte – wie etwa vom früheren FDP-Bundestagsabgeordneten und Bundesinnenminister Dr. h.c. Gerhart Rudolf Braun. Als Festredner der Feierstunde am 10. September rief er dazu auf, den Parlamentarismus zu bewahren. Er kenne „keinen Einsatz für die repräsentative Demokratie“. Es sei daher erforderlich, die Gefahren frühzeitig zu erkennen und zu bekämpfen. Braun schloss seine Rede mit den Worten: „Ich wünsche mir, meine Damen und Herren, dass wir, die freien Bürger dieser Demokratie, aktiv entscheiden, in welche Richtung der Strom der Geschichte seinen Weg nimmt.“
Stiller und lauter Beifall
Im Oktober feierte der Bundestag eine Premiere: die erste Rede in Gebärdensprache. Die gehörlose Abgeordnete Heike Heubach (SPD) war im März dieses Jahres als Nachrückerin ins Parlament eingezogen und wurde von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas mit den Worten „Heute schreiben wir tatsächlich Geschichte“ im Bundestag begrüßt.
Ihre erste Rede hielt Heubach während der Aussprache zur geplanten Novellierung des Baugesetzbuches am 10. Oktober. Eine Simultandolmetscherin übersetzte die Rede für die im Plenarsaal anwesenden Abgeordneten in gesprochene Sprache. Im Anschluss gab es fraktionsübergreifenden Beifall – in Form von lautem Klatschen und stillem Winken.
Ampel-Aus, Kanzler raus
Zum Ende des Jahres wurde der Sitzungskalender dann noch einmal ordentlich durcheinandergebracht, als Bundeskanzler Olaf Scholz am 6. November das Ampel-Aus verkündete. Der Grund war, wenig überraschend, das Geld. FDP, SPD und Bündnis 90/Die Grünen konnten sich – mal wieder – nicht auf einen Bundeshaushalt einigen. Der Streit spitzte sich zu und führte schlussendlich zum Rauswurf des Finanzministers Christian Lindner (FDP). In der Folge unterbrach der Bundestag seine Sitzung am 7. November und zog sich zu Beratungen zurück, um den weiteren Ablauf der Sitzungswochen zu klären. Das Ergebnis: Vorerst werden fast alle geplanten Punkte von der Tagesordnung abgesetzt.
Knapp eine Woche nach dem Aus der Ampel-Koalition haben sich SPD, Grüne und Union auf einen Termin zur vorgezogenen Neuwahl geeinigt – diese soll am 23. Februar 2025 stattfinden. In Konsequenz hatte Scholz am 16. Dezember im Bundestag die Vertrauensfrage gestellt, die er wie beabsichtigt verlor.
Das Jahr 2024 endet daher, wie es begonnen hat: Mit einem Streit ums Geld und der Frage: Was nun? (mtt/23.12.2024)