2. Untersuchungsausschuss

Bundesnetzagentur-Präsident Klaus Müller als Zeuge gehört

Blick aus dem Paul-Löbe-Haus auf das Marie-Elisabeth-Lüders Haus in der Abenddämmerung.

Der 2. Untersuchungsausschuss tagt im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus des Bundestages. (© DBT / Axel Hartmann Fotografie)

Der 2. Untersuchungsausschuss, der die staatlichen Entscheidungsprozesse zur nationalen Energieversorgung vor dem Hintergrund des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine untersuchen soll, hat am Mittwoch, 18. Dezember 2024, den Präsidenten der Bundesnetzagentur, Klaus Müller, als Zeugen gehört. 

Gasmangellage und AKW-Laufzeitverlängerung

„Dass die Wohnzimmer warm bleiben und die Fabriken weiter laufen“ habe 2022 im Hauptfokus der Arbeit seiner Behörde gestanden, erklärte Müller. Es sei darum gegangen, wie man in der Zeit, als der Boykott russischer Lieferungen von Gas und Kohle sich abzeichnete und die Mengen sich reduzierten, in Deutschland und Europa eine „Gasmangellage“ vermeiden konnte und, falls es doch dazu kommen sollte, „wie man sie managen“ könnte. 

Angesichts der damaligen Szenarien einer sich abzeichnenden allgemeinen Energieknappheit interessierte die Mitglieder des Untersuchungsausschusses zudem, wie die Bundesnetzagentur im Untersuchungszeitraum 2022 bis 2024 einen möglichen Weiterbetrieb deutscher Atomkraftwerke bewertete und wie die Behörde über die damals viel diskutierte „Laufzeitverlängerung“ mit dem Bundesministerium für Wirtschaft kommunizierte. 

„Von der Realität überholt“

Konnte also die Versorgungssicherheit in Deutschland und Europa gewährleistet werden, auch wenn, wie im Gesetz über den Atomausstieg vorgesehen, nach und nach sämtliche deutschen Atomkraftwerke abgeschaltet würden? 

Bundesminister Dr. Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen) habe zu dem Thema von der Bundesnetzagentur, zusätzlich zu der Expertise aus dem Ministerium, möglichst viele Informationen haben wollen. Man habe verschiedene Szenarien durchgespielt, die im Lauf des Jahres 2022 immer wieder „von der Realität überholt“ worden seien. „Das ganze Jahr war eine Phase der extremen Unsicherheit.“ Durch den russischen Angriffskrieg habe sich die „Lage grundlegend geändert“.

„Ein Weiterbetrieb spart kein Gas“

Müller zeichnete in seiner Vernehmung das Bild einer Behörde im Krisenmodus, die sich unter dem Eindruck der sicherheits- und energiepolitischen „Zeitenwende“ in Europa voll darauf konzentriert habe, die Gasversorgung trotz Lieferausfällen im Winter 2022/23 sicherzustellen. Vom Wirtschaftsminister habe sein Haus zudem den Auftrag erhalten, die Netzstabilität unter Berücksichtigung des Atomausstiegs vor dem Hintergrund der neuen Umstände zu prüfen. Seine Behörde habe zwei sogenannte „Stresstests“, den zweiten „mit verschärften Annahmen“, durchgeführt. 

Weder für die Aufrechterhaltung der Netzstabilität noch, um eine Gasmangellage zu kompensieren, sei eine Abkehr vom Weg des Atomausstiegs angezeigt gewesen, erläuterte Müller. „Ein Weiterbetrieb spart kein Gas.“ Man habe die Annahmen für die Stresstest-Szenarien auf der Grundlage der geltenden Gesetzeslage über den Atomausstieg getroffen. Parlament und Regierung hätten dann einen „klugen Kompromiss“ gefunden, um die Versorgungssicherheit in Deutschland zu gewährleisten. 

Netzstabilität und Versorgungssicherheit

Müller unterstrich mehrfach, der „primäre Auftrag“ der Bundesnetzagentur sei gewesen, „die Gasversorgung sicherzustellen“. Fragen der Preisbildung, der langfristigen Ausrichtung des Energiemixes oder der CO2-Bilanz seien demgegenüber für einige Monate in den Hintergrund gerückt, aber nicht völlig ausgeblendet worden. Sein Haus sei zunächst vor allem mit operativen Fragen beschäftigt gewesen. „Wir versuchten alle Möglichkeiten zu nutzen, Gas zu bekommen.“ 

Mit der Krise der französischen Atomkraft in den Sommermonaten, der Frage der Solidarität gegenüber dem Nachbarland und den Befürchtungen, dass im Winter plötzlich eine Vielzahl von Elektroheizkörpern angeschlossen werden könnten, sei dann die Frage der Netzstabilität in den Vordergrund gerückt. Müller versicherte, dass er und sein Haus alle Möglichkeiten genutzt hätten, um, ob beim Gas oder beim Strom, die Versorgungssicherheit zu gewährleisten. „Wir wollen, dass es fließt“, brachte er die Aufgabenstellung und das Motto seiner Behörde auf den Punkt. Zu Unterbrechungen in deutschen Netzen sei es dann ja auch nicht gekommen.

„Laufzeitverlängerung“ und „Streckbetrieb“

Im weiteren Verlauf hat der 2. Untersuchungsausschuss den Abteilungsleiter S „Nukleare Sicherheit, Strahlenschutz“ im Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz, Gerrit Niehaus, und den Abteilungsleiter III „Strom“ im Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz, Dr. Volker Oschmann, befragt. 

Technische, rechtliche und Sicherheitsaspekte rund um die Fragen von „Laufzeitverlängerung“ und „Streckbetrieb“ der drei im Jahr 2022 noch betriebenen deutschen Atomkraftwerke standen im Mittelpunkt der Befragung des zweiten Zeugen. Schon bald nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine im Februar 2022 hätten sich die Energiewirtschaft und zuständige Fachabteilungen in Ministerien und Behörden mit einer politisch-gesellschaftlichen Debatte über die Frage konfrontiert gesehen, ob ein Weiterbetrieb deutscher AKW dazu beitragen könne, eine mögliche Energieversorgungskrise abzuwenden, so Niehaus.

Ablehnung bei Betreibergesellschaften

Die Betreibergesellschaften hätten dem in einer Telefonkonferenz im März 2022 ablehnend gegenübergestanden und Nachrüstungen und die Verantwortung für den Weiterbetrieb nicht übernehmen wollen. Die Atomwirtschaft habe sich bereits auf den Ausstieg eingestellt, Fachpersonal und Technik seien immer weniger verfügbar gewesen. Wirtschaftlich, technologisch und auch rechtlich sei die Frage der Atomenergie in Deutschland eigentlich erledigt gewesen, so der Ministerialbeamte. 

Niehaus unterstrich, dass Sicherheitserwägungen und rechtsfeste Entscheidungen für seine Abteilung und sein Handeln stets die höchste Priorität gehabt hätten. Er grenzte ab, dass seine Abteilung sich lediglich mit der nuklearen Sicherheit, nicht jedoch mit Fragen der Energieversorgungssicherheit, des Klimaschutzes oder der Preisgestaltung befasse.

Niehaus unterstrich, dass Sicherheitserwägungen und rechtsfeste Entscheidungen für seine Abteilung und sein Handeln stets die höchste Priorität gehabt hätten. Er unterstrich, dass seine Abteilung sich lediglich mit der nuklearen Sicherheit, nicht jedoch mit Fragen der Energieversorgungssicherheit, des Klimaschutzes oder der Preisgestaltung befasse.

Restrisiko der Atomenergie

Der Zeuge rief zudem den strengen rechtlichen Rahmen in Erinnerung, der aufgrund des Restrisikos der Atomenergie Regierung, Verwaltung, Parlament und Betreibern auf allen Ebenen klare Leitplanken für den Betrieb von Nuklearanlagen vorgebe: von der Gesetzeslage über den verfassungsrechtlich gewährten Schutz der Bürger und die Rechtsprechung bis hin zum Spielraum des Gesetzgebers, vom Beginn der zivilen Nutzung der Kernenergie in Deutschland bis zum Atomausstieg. Demnach sei „das Risiko der Nutzung der Atomkraft so groß, dass es nur für eine begrenzte Zeit hinzunehmen ist“.

„Der Abteilung S stand nie zu, diese grundlegende Risikobewertung der Atomkraft in Frage zu stellen“, so der Verwaltungsjurist. Innerhalb dieses Rahmens sei er der ihm von seinem und dem Bundeswirtschaftsministerium zugedachten Aufgabe nachgekommen, einem Gesetzesvorschlag zuzuarbeiten, der einen um dreieinhalb Monate gestreckten Leistungsbetrieb der drei verbliebenen AKW über den Bestandsschutz hinaus möglich machen sollte.

Schließlich habe man eine Abwägung der Rechtsgüter zu treffen gehabt, um die auslaufende Nutzung der Kernenergie noch um den Weiterbetrieb einiger Meiler um dreieinhalb Monate zu strecken: Wie schwer wiegt die Möglichkeit, dass vor dem Hintergrund von Gasknappheit und Strommangel flächendeckende Blackouts Menschenleben gefährden einerseits - und wie hoch ist das groß Restrisiko im Falle eines längeren Betriebs einzuschätzen andererseits?

Die drei AKW hätten „nicht dem laufenden wissenschaftlich-technischen Stand zur Schadensvorsorge entsprochen“, ein Nachrüsten so alter Anlagen sei ebenso wie die vorgeschriebene „periodische Sicherheitsüberprüfung“ in der kurzen Zeit nicht möglich gewesen. Seine Aufgabe sei gewesen, darauf hinzuweisen.

Unter Einbeziehung aller technischen Überlegungen und rechtlichen Vorgaben sei man zu dem Schluss gekommen, dass ein Weiterbetrieb von vor über drei Jahrzehnten gebauten AKW ein sicherheitstechnisch nicht hinnehmbares, hohes Risiko darstelle ein angesichts der als „verschärft empfundenen Lage bei der Energieversorgung“ für dreieinhalb Monate verlängerter „Streckbetrieb“ aber möglich sei. So habe seine Abteilung eine „Gesetzesvorlage für einen befristeten Streckbetrieb vorgelegt“, mit dem die Bundesregierung am Atomausstieg habe festhalten, aber diese dreieinhalb Monate noch zugestehen können. „Wir haben uns schließlich entschieden, die Risikoerhöhung im Hinblick auf die Gefährdung anderer Rechtsgüter hinzunehmen, sagte der Zeuge.

Stresstest zur Stromversorgungslage

Als dritter Zeuge erläuterte Dr. Volker Oschmann, Abteilungsleiter III “Strom„ im Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz, Aufgaben und Arbeitsteilung im Ministerium. Fragen der unmittelbaren Versorgungssicherheit mit Gas und Strom vor dem Hintergrund von Krieg und Knappheit hätten dabei im Zentrum gestanden. Im Auftrag seines Hauses habe die Bundesnetzagentur dazu im Juli einen ersten, und unter dem Eindruck neuer krisenhafter Entwicklungen, im September einen zweiten Stresstest zur Stromversorgungslage unter Zugrundelegung verschärfter Annahmen vorgelegt

Man sei dabei von der Gesetzeslage ausgegangen, dass auch die verbleibenden drei Atomkraftwerke in Deutschland Ende des Jahres 2022 außer Betrieb gehen würden. Als eine besondere, aber nicht neue, Herausforderung habe sich dabei die zu geringe Kapazität der Netze herausgestellt, um etwa mit Windkraft erzeugten Strom vom Norden des Landes nach Süddeutschland zu transportieren. “Die Stromnetze in Deutschland sind nicht ausreichend ausgebaut. Darüber reden wir mindestens seit 2010„, sagte Oschmann. Bei einem Engpass hätten etwa in Bayern Gaskraftwerke zur Stromerzeugung angefahren werden müssen. 

Sicherheit der Stromversorgung 

“Strom ist das neue Öl„, sagte Oschmann. “Wir mussten sicherstellen, dass alle in Deutschland genug Strom haben„, beschrieb der Zeuge den Auftrag seiner Abteilung im Wirtschaftsministerium. Der zweite Stresstest habe durchgeführt werden müssen, da im Laufe des Jahres 2022 weitere nicht vorhersehbare Risikofaktoren hinzugekommen seien, Annahmen, die der erste Stresstest außer Acht gelassen habe. So habe sich die Krise der französischen Nuklearenergie verschärft und mehr als die Hälfte der dortigen AKW haben im Sommer nicht zur Verfügung gestanden. Geringe Niederschläge hätten zudem der Energiegewinnung mittels Wasserkraft zugesetzt und durch niedrige Pegelstände etwa auf dem Rhein die Schifffahrt und den Transport von Kohle erschwert. 

Die Mitglieder des Untersuchungsausschusses interessierten zudem die Abläufe und Zuständigkeiten im Wirtschaftsministerium, zwischen den Fachabteilungen, Referaten und der Hausleitung sowie insbesondere die Rolle des Staatssekretärs und Vertrauten von Bundesminister Robert Habeck, Patrick Graichen. Selbstverständlich habe man, wie nach außen kommuniziert, ergebnisoffen geprüft, ob unter der geltenden Rechtslage des Atomausstiegs die Versorgungssicherheit darstellbar sei und was es sonst für Optionen gebe, unterstrich Oschmann. Alle Argumente seien ausgetauscht worden mit dem Ziel, die Versorgungssicherheit zu gewährleisten.

Auftrag des Untersuchungsausschusses

Der 2. Untersuchungsausschuss wurde am 4. Juli 2024 vom Bundestag eingesetzt. Er hat den Auftrag, sich ein Gesamtbild von den Entscheidungsprozessen sowie deren Kommunikation an den Bundestag und an die Öffentlichkeit zu verschaffen. Dies gilt vor allem für die Entscheidungen über einen möglichen Weiterbetrieb der Kernkraftwerke. 

Es soll untersucht werden, welche Informationen den Entscheidungen zugrunde gelegt wurden, welche nationalen und internationalen Stellen in die Entscheidungsprozesse einbezogen wurden und ob die Einbeziehung weiterer Informationen oder Stellen sachgerecht gewesen wäre. (ll/19.12.2024)