Experten warnen vor Politisierung der humanitären Hilfe
Während der Krieg in der Ukraine oder der Konflikt in Gaza seit Monaten Schlagzeilen und Medienberichterstattung dominieren, wird über andere schwere humanitäre Krisen kaum berichtet. Mit solchen „vergessenen humanitären Krisen“ und den Folgen der mangelnden öffentlichen Aufmerksamkeit hat sich am Mittwoch, 18. Dezember 2024, der Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe im Rahmen einer öffentlichen Anhörung beschäftigt.
Dabei warnten mehrere Sachverständige vor einer Politisierung der humanitären Hilfe. Angesichts sinkender Mittel für die humanitäre Hilfe müssten Gelder strikt nach dem Bedarf vergeben werden – und nicht aufgrund politischer Interessen.
Geringe Sichtbarkeit, weniger finanzielle Hilfe
Als Beispiele für vergessene humanitäre Krisen führte zunächst Ariane Bauer, Internationales Komitee des Roten Kreuzes, die Krisen in den Staaten wie der Zentralafrikanischen Republik, Sahelzone, in Somalia, Libyen, Myanmar oder Jemen an. Die mangelnde Berichterstattung über die humanitäre Lage dort führe zu einer geringeren Sichtbarkeit und damit schwindenden finanziellen Unterstützung. Doch wenn sich Finanzierung der humanitären Hilfe nur auf die „tagesaktuellen Krisen“ konzentriere, werde es für das humanitäre System schwer, Bedürfnisse in weniger beachteten Krisen zu erfüllen.
Es brauche weiterhin flexibel einsetzbare Mittel, wie sie Deutschland schon gewähre. Diese ermöglichten es, auch in wenig beachteten Konflikten überlebensnotwendige Hilfe zu gewähren, lobte Bauer. Bei der Mittelvergabe müssten aber fundamentale Prinzipien des humanitären Völkerrechts, wie Menschlichkeit, Neutralität, Unparteilichkeit und Unabhängigkeit weiterhin geachtet werden, mahnte sie.
Geopolitische Interessen statt größter Bedarf
Lara Dovifat von der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen sprach von einem besorgniserregenden Trend in der humanitären Hilfe: Trotz zunehmenden Konflikten, Naturkatastrophen und Epidemien nähme die Finanzierung der humanitären Hilfe ab, gleichzeitig werde die Hilfe immer öfter nicht nach dem größten Bedarf vergeben, sondern nach geopolitischen Interessen. Dovifat kritisierte, dass viele Krisen nicht einfach vergessen, sondern vielmehr bewusst vernachlässigt würden. Nicht selten fehlten diplomatische Kontakte, oft aber auch politisches Interesse und der nötige „Elan“, politische Lösungen zu erarbeiten, sagte Dovifat.
Sie verwies als Beispiel auf Lage im Demokratischen Kongo, wo das Ausmaß der Vernachlässigung enorm sei und die Schwächsten besonders treffe: Frauen und Kinder. Ärzte ohne Grenzen habe dort 2023 mehr als 25.000 Opfer sexualisierter Gewalt behandelt. „Das sind mehr als zwei Patienten pro Stunde.“
Lage von Mädchen in vergessenen Krisen
Hieran knüpfte Katharina Küsters von der Kinderrechtsorganisation Plan International Deutschland an: Sie lenkte den Blick auf die Lage von Kindern und insbesondere Mädchen in vergessenen und vernachlässigten Krisen und machte deutlich, welche Folgen die mangende Hilfe nicht nur für die Betroffenen, sondern für die ganze Gesellschaft habe. „Krisen wirken als Katalysator auf bestehende Diskriminierungen.“
Krisen dauerten aber auch heute immer länger – im Durchschnitt mehr als zehn Jahre. Umso wichtiger sei daher die Prävention: Die vorausschauende humanitäre Hilfe nannte Küsters eine relevante Lösung für vernachlässigte Krisen.
Gelder flexibel und präventiv einsetzen
Dr. Martin Frick, Direktor des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen in Deutschland, betonte, dass aktuell Menschen in 74 Ländern der Welt von Hunger und Unterernährung betroffen seien. In 60 Prozent der Fälle seien dafür Konflikte und Kriege verantwortlich, immer öfter jedoch auch die wirtschaftlichen Auswirkungen von Überschuldung und hohen Kosten infolge von Corona und Ukrainekrieg. Auch die Auswirkungen des Klimawandels spielten zunehmend eine Rolle.
Frick drang wie seine Vorrednerinnen darauf, Gelder weiterhin flexibel und auch präventiv einsetzen zu können. Gleichzeitig dürften Parlament und die kommende Bundesregierung nicht vergessen, wie wichtig „außenpolitischer Instrumente“ seien, um Menschen in Not zu helfen.
Defizit der Aufmerksamkeitsökonomie
Dr. Thorsten Klose-Zuber, Generalsekretär der humanitären Hilfsorganisation Help - Hilfe zur Selbsthilfe, monierte, dass das internationale humanitäre Hilfssystem immer weniger in der Lage sei, das Defizit der Aufmerksamkeitsökonomie auszugleichen. Dieses bewirke, dass Spenden nur in die Regionen flössen, die am meisten mediale Aufmerksamkeit erhielten.
Seit mehreren Jahren sei zu beobachten, dass sich die Budgetierung bei mehreren Gebern nicht mehr vor allem an humanitären Dringlichkeiten und Bedarfen ausrichte, sondern entlang außen- oder sicherheitspolitischer Interessen. Das sei besorgniserregend, sagte Klose-Zuber und warnte vor den Folgen: Bestimmte Regionen würden bei der Geberfinanzierung bevorzugt, andere drohten vernachlässigt und vergessen zu werden. Um dem vorzubeugen, empfahl der Experte, stärker lokale Hilfsorganisationen einzubinden. Diese sei auch dann noch tätig, wenn sich internationale Geber und Organisationen zurückzögen.
„Zeitenwende in der humanitären Hilfe“
Ähnlich besorgt über die „drohende Zeitenwende in der humanitären Hilfe“ äußerte sich Ralf Südhoff, Direktor des Centre for Humanitarian Action: Vergessene Krisen zu vermeiden, sei eigentlich Prinzip der humanitären Hilfe, die verpflichtet sei, Menschen in größter Not zu unterstützen – „ohne Ansehen der Person oder Region des Krisengebiets“. Doch der Ansatz erscheine gefährdeter denn je –etwa durch rechtspopulistische Narrative, so Südhoff.
Deutschland habe sich in den letzten zehn Jahren von einem „humanitären Zwerg zu einem relevanten Geber“ entwickelt und viel Glaubwürdigkeit dadurch gewonnen. Dieses „Standing“ sein nun insbesondere durch gekürzte Budgets in Gefahr. Doch auch die neue humanitäre Strategie des Auswärtigen Amtes, die einer zunehmenden Politisierung der humanitären Hilfe Vorschub leisten würde, unterminiere die Glaubwürdigkeit Deutschland und gehe zulasten vergessener Krisen. Dies gelte es aus moralischen, aber auch aus außen- und sicherheitspolitischen Gründen zu verhindern.
Islamisierung auf dem Westbalkan
Islamismusexperte Irfan Peci warnte hingegen vor der zunehmenden Islamisierung auf dem Westbalkan. Diese sei für die sich verschlechternde Menschenrechtslage in der Region hauptsächlich verantwortlich, meinte der Sachverständige.
Auch aus deutscher Sicht mit Blick auf die Sicherheit sei das „besorgniserregend“, so Irfan in seiner schriftlichen Stellungnahme. In Deutschland finde dies aber kaum Aufmerksamkeit. (sas/18.12.2024)