Völlers: Nato-Parlamentarier wollen schnellere und umfangreichere Ukraine-Hilfe
Schnellere und umfangreichere militärische Hilfe für die Ukraine, eine nachhaltige Finanzierung der Verteidigung sowie eine gerechte Lastenteilung unter den Nato-Alliierten: Das fordern die Parlamentarierinnen und Parlamentarier der Nato-Mitgliedstaaten, die vom 24. bis 27. Mai 2024 im bulgarischen Sofia zur Frühjahrstagung der Parlamentarischen Versammlung der Nato (Nato PV) zusammenkamen, von ihren Regierungen. Die stellvertretende Leiterin der deutschen Delegation zur Nato PV, Marja-Liisa Völlers (SPD), spricht im Interview darüber, wie die Koordinierung innerhalb der Nato funktioniert, mit welchen neuen Instrumenten die Alliierten der Ukraine zum Sieg verhelfen wollen und wie Landesverteidigung und Ukraine-Unterstützung gebündelt gelingen kann. Das Interview im Wortlaut:
Frau Völlers, der Abwehrkampf der Ukraine zieht sich hin. Die Nato ist nicht involviert, aber zahlreiche Nato-Mitglieder, allen voran die USA und Deutschland, unterstützen Kiew. Sollten die Mitglieder ihre Hilfe noch besser aufeinander abstimmen?
Eine der Kernaufgaben der Nato PV ist der Austausch über die internationale Zusammenarbeit und die damit einhergehenden Beratungen der Staats- und Regierungschefs. Seit Beginn des russischen Angriffskrieges wurden daher auch alle Plattformen der Nato PV genutzt, um über die Unterstützung für die Ukraine zu beraten. Vor diesem Hintergrund stand die koordinierte Unterstützung der Ukraine auch im Mittelpunkt der Sitzung des Ständigen Ausschusses in Sofia. Mit dem gemeinsamen Beschluss einer Deklaration zum „Beistand zur Ukraine bis zum Sieg“ zeigen wir Parlamentarierinnen und Parlamentarier der Nato-Mitgliedstaaten, dass wir auch in Zukunft entschlossen für die Ukraine einstehen. Dies umfasst auch militärische Hilfen.
Um Umfang und Art der Militärhilfen für die Ukraine wird seit zwei Jahren heftig gerungen. Würde es Bewegung in das Kriegsgeschehen mit Russland bringen, wenn man der Ukraine ein konkretes Aufnahmedatum für die in Aussicht gestellte Nato-Mitgliedschaft nennen würde, wie es von einigen Seiten vorgeschlagen wird?
Auch Deutschland bekräftigt nicht nur innerhalb der Nato das Recht auf Souveränität, territoriale Integrität und freie Wahl von Sicherheitsvereinbarungen der Ukraine. Der Weg in die Nato steht der Ukraine wie anderen Ländern selbstverständlich offen, wobei formale Beitrittsprozesse von Kandidaten im Kriegszustand durch Bestimmungen des Nato-Vertrags grundsätzlich eingeschränkt werden. Ein sofortiger Beitritt der Ukraine würde für unser Bündnis vermutlich einen Bündnisfall bedeuten. Es wäre nicht auszuschließen, dass dies die Dynamik negativ beeinflussen könnte. Stattdessen intensivieren wir unser Engagement für die Ukraine effektiver durch den kürzlich eingerichteten Nato-Ukraine-Rat und die enge Einbindung ukrainischer Delegationen in unsere Arbeit.
Inwieweit würde ein Ausbau der europäischen Flugabwehr und damit eine vergrößerte Abschreckung den Bündnismitgliedern neue Spielräume eröffnen, militärische Güter an die Ukraine abzugeben?
Eine gesamteuropäische Flugabwehr ist als langfristiges Konzept denkbar, entlastet aber nicht in gegenwärtigen sicherheitspolitischen Fragen. Gerade die Strukturen der Nato verdeutlichen, wie souveräne Nationalstaaten gemeinsam militärisch operieren können und etwa durch die Rotation von Flugabwehrsystemen entlang der Ostflanke im Rahmen von IAMD (Integrated Air and Missile Defence) militärische Stärke verwirklichen. Doch erweitert etwa die Ausstattung der Bundeswehr im Bereich der Luftverteidigung etwa mit der Lockheed Martin F-35 auch die Kapazitätsanforderungen, die zur effektiven Landesverteidigung notwendig sind. Hier liegt nämlich zunächst der eigentliche Fokus der Bundeswehr. Unterstützungsleistungen können in Koppelung daran aus dem Bestand sowie in enger Abstimmung mit der Industrie gelingen.
Die Versammlung hat eine Erklärung zum Thema „Beistand zur Ukraine bis zum Sieg“ angenommen. Was fordern die Parlamentarier darin noch von den Regierungen?
Wir fordern eine klare und dringliche Unterstützung der Ukraine, und das bis zu ihrem Sieg über Russland. Dabei verlangen wir eine schnellere und umfangreichere militärische Hilfe, eine nachhaltige und langfristige Finanzierung sowie eine gerechte Verteilung der Unterstützung unter den Nato-Alliierten. Dabei betonen wir ganz konkret die Notwendigkeit der Einrichtung einer Nato-Mission in der Ukraine und die verstärkte Produktion von Verteidigungsgütern. Zudem bekräftigen wir auch hier die Ukraine auf ihrem Weg in das Nato-Bündnis und unterstützen die Einrichtung eines speziellen Tribunals zur Ahndung russischer Kriegsverbrechen.
Mehrere der Versammlung vorgelegte Berichtsentwürfe befassen sich mit der Bedrohung durch Russland für angrenzende Regionen. Wird dabei China als potenterer und bedrohlicherer Rivale nicht aus dem Auge verloren?
Ganz im Gegenteil: Der Indo-Pazifik insgesamt, insbesondere aber die Rolle Chinas bei der Entwicklung von Mikrochips und der Versorgung mit Halbleitern, wird intensiv von der Nato PV beraten. Nicht nur angesichts chinesischer Aufrüstungsvorhaben ist es momentan geboten, insbesondere wirtschaftliche Verbindungen nach Peking kritisch zu hinterfragen, da Abhängigkeiten erst jüngst in der Covid-Pandemie deutlich wurden. Gleichzeitig müssen wir die Verbindungen mit unseren Partnern im Indo-Pazifik stärken und die Zusammenarbeit intensivieren. Es gilt, Eskalationen zu verhindern und gemeinsame Herausforderungen wie Energiesicherheit, Cyber-Bedrohungen und die Aufrechterhaltung der internationalen Ordnung anzugehen.
Für den bevorstehenden Washingtoner Nato-Gipfel im Juli haben die Parlamentarier den Staats- und Regierungschefs mit einer Erklärung schließlich eine lange „To-do-Liste“ zur Modernisierung der Allianz geschickt. Was sind darin die wichtigsten Punkte?
Zu den wichtigsten Punkten gehört mit Sicherheit die klare Bekundung der Bereitschaft zur Verteidigung jedes Zentimeters des Bündnisgebiets unter Artikel 5 des Nato-Vertrags. So fordern wir eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben auf mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes in jedem Mitgliedstaat und die Investition von 20 Prozent der Verteidigungsbudgets in große Ausrüstungen. Hindernisse für Handel in diesem Sektor sollen beseitigt werden. Wichtig ist auch die Umsetzung einer modernen Eindämmungsstrategie gegen Russland und die Stärkung der Zusammenarbeit mit der EU und strategischen Partnern weltweit, insbesondere im Indo-Pazifik.
(ll/31.05.2024)