Minister berichten über Rolle der Regierung beim Afghanistaneinsatz
Zeit:
Montag, 3. Juli 2023,
13
bis 16 Uhr
Ort: Berlin, Paul-Löbe-Haus, Sitzungssaal 4.900
Ehemalige Regierungsmitglieder aus den Jahren 1998 bis 2018 haben der Enquete Kommission Afghanistan („Lehren aus Afghanistan für das künftige vernetzte Engagement Deutschlands“) in der letzten öffentlichen Anhörung vor der parlamentarischen Sommerpause am Montag, 3. Juli 2023, Rede und Antwort gestanden. Dabei gaben die Bundesminister a.D. Joschka Fischer, Heidemarie Wieczorek-Zeul und Dr. Thomas de Maizière sowie der ehemalige Präsident des Bundesnachrichtendienstes, Gerhard Schindler, Einblick in die damaligen politischen Verantwortungsstrukturen.
„Volle Solidarität mit dem Bündnis“
Von der Dramatik rund um die Ereignisse des 11. September 2001 und der Logik der Bündnissolidarität aus seiner Perspektive als Außenminister (1998-2005) berichtete Joschka Fischer. Ein derartiger Anschlag auf die USA als der Schutzmacht Deutschlands, dessen Hintermänner zuvor auch noch in Deutschland gelebt hatten: „Es war uns klar, dass wir in voller Solidarität mit dem Bündnis zu stehen haben“, erinnerte sich Fischer. Am 12. September habe die Erklärung nach Nato-Beistands-Artikel 5 auf dem Tisch gelegen. Bundeskanzler Gerhard Schröder habe Deutschlands uneingeschränkte Solidarität mit Washington ausgesprochen. „Ein Zögern hätten wir uns nicht erlauben können.“
Später habe sich diese Solidarität dann auf die Beteiligung am Afghanistan-Einsatz übertragen, als klar geworden sei, dass die dortige Taliban-Führung nicht zu den Terroristen um Osama Bin Laden auf Distanz gehen wollte. „Wir waren uns in der Bundesregierung einig, dass wir in der Bündnissolidarität stehen und bleiben müssen“, so der frühere Außenminister und Vizekanzler, und fügte hinzu: Wer an der westlichen Bündnisverpflichtung und der dadurch ermöglichten europäischen Integration rüttele, setze die Existenz Deutschlands aufs Spiel. „Wenn wir nein gesagt hätten, hätten wir die Sicherheitsarchitektur der Bundesrepublik Deutschland zerdeppert.“
Man habe sich die damalige Entscheidung alles andere als leicht gemacht. Sie sei letztlich aus übergeordnetem Bündnisinteresse gefallen und zwar nicht alternativlos, aber doch „unbedingt nötig“ und auch rückblickend richtig gewesen. „Heute wissen wir umso mehr, wie sehr wir von den Sicherheitsgarantien der USA abhängen.“ Und das werde auch so bleiben.
„Afghanistan war das erste Opfer des Irakkrieges“
Während sich Deutschland dann auf einen langfristig verstandenen Stabilisierungseinsatz eingelassen habe, der aber nur zusammen mit dem militärischen Engagement der USA funktionieren konnte, habe sich die Führung in Washington schon bald dem Irak als einem neuen Interventionsschauplatz zugewandt und den Einsatz am Hindukusch heruntergestuft und heruntergefahren. Der Irak habe dann im Vordergrund der internationalen Politik gestanden. „Afghanistan war das erste Opfer des Irakkrieges“, sagte Fischer. Aber „wir haben daran festgehalten“. Deutschland habe aufgebaut und ausgebildet.
Die Zusammenarbeit mit den USA sei weiterhin sehr gut gewesen. „Aber der übereilte Abzug war ein Debakel.“ Man sei dabei auf die Amerikaner angewiesen gewesen. Afghanistan werde noch lange ein Ort der Unsicherheit bleiben. Obwohl die Taliban viele Aufbauerfolge nun wieder zunichtemachen würden, halte er das Afghanistan-Engagement zwischen 2001 und 2021 nicht für einen Fehler. „Wären wir nicht mitgegangen, hätten wir dafür einen hohen Preis bezahlen müssen im Bündnis.“
Zusammengang von zivilem und militärischem Engagement
Als Lehre halte er fest: Man hätte der entscheidenden Bedeutung des Nachbarlandes Pakistan viel stärker gerecht werden müssen, das den Taliban weiterhin ein Hinterland gewesen sei. Aber im Pentagon „gab es eine Unentschiedenheit“ in Bezug auf dieses Land, „man machte die Augen zu, wo man eigentlich hätte hingucken müssen“.
Außerdem müsse Deutschland stärkere militärische Fähigkeiten für derartige Einsätze bereithalten. „Durch unsere mangelnde militärische Stärke hatten wir geringeren politischen Einfluss.“ Auch gegenüber dem Verbündeten USA. „In einer solchen Situation können Sie die besten Dinge vorschlagen. Wenn Sie das militärische Gewicht nicht haben, können sie das nicht umsetzen.“ Diese Problematik zeige den engen Zusammenhang von zivilem und militärischem Engagement. „Wenn wir mehr leisten wollen, müssen wir die entsprechenden Fähigkeiten aufstellen, sonst werden das politische Absichten bleiben.“
Entwicklungspolitisches Engagement in Afghanistan
Von den Erfolgen der deutschen Entwicklungszusammenarbeit und den Erwartungen an das deutsche entwicklungspolitische Engagement in Afghanistan berichtete Heidemarie Wieczorek-Zeul, 1998 bis 2009 Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. „Wir haben so auf euch gewartet“, habe man ihr bei ihrem ersten Besuch in Kabul gesagt, so die frühere Ministerin. In der breiten Palette entwicklungspolitischer Projekte sei es darum gegangen, dass in einem patriarchalisch geprägten Umfeld vor allem Frauen ihren Beruf ausüben und Mädchen wieder in die Schule gehen durften.
Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit sei vom Beginn der UN-mandatierten Mission an dabei gewesen. Man habe mit der Zivilgesellschaft sowie mit den entstehenden staatlichen Strukturen zusammengearbeitet. Neben der Bildung und ökonomischen Stärkung von Frauen und Mädchen sei es zunächst um Grundbedürfnisse gegangen.
„Die Menschen hatten ein anderes Leben“
„Deutschland hat 786 Trinkwasseranlagen gebaut. Viele davon funktionieren noch heute.“ Frauen habe man Rechtsberatung angeboten beispielsweise zu den Themen häusliche Gewalt oder Zwangsheirat und ihnen Zugang zu Gesundheitsstationen ermöglicht. Im Zeitraum des internationalen Afghanistaneinsatzes habe man die Sterblichkeitsrate in dem Land bei Neugeborenen halbieren können. 6 Millionen Kinder hätten 2008 die Schule besucht.
Während der zwanzigjährigen Präsenz habe man einer Generation junger Afghanen Lebenschancen eröffnet und Hoffnung gegeben. Da sei etwas Bleibendes geschaffen worden, das niemand beiseiteschieben könne. „Zwanzig Jahre lang hatten die Menschen ein anderes Leben.“ Sie hoffe, dass man damit fortfahre afghanischen Frauen den Rücken zu stärken.
Dass die US-Regierung schließlich ohne Beteiligung ihrer Verbündeten und der gewählten afghanischen Regierung mit den Taliban ein Rückzugsabkommen geschlossen habe, werte sie als Verbrechen gegenüber den Frauen in Afghanistan.
Gemeinsame Verantwortung, getrennte Verantwortlichkeiten
Im Rahmen des Konzepts „Gemeinsame Verantwortung, getrennte Verantwortlichkeiten“ hätten die Bundesministerien damals gut zusammengearbeitet, betonte Wieczorek-Zeul, obwohl man damals noch nicht von einer Strategie der Vernetzung gesprochen habe. In den „Provicial Reconstruction Teams“ vor Ort unter deutscher Leitung habe man darauf Wert gelegt, dass diese nicht allein militärisch geführt wurden.
Seit 2005 hätten sich die Taliban reorganisiert. Begünstigt worden sei dies dadurch, dass diese weiterhin Pakistan als Rückzugsort hatten, das amerikanische Engagement schwand und wegen vermehrter ziviler Verluste in der afghanischen Bevölkerung sowie wegen des Bekanntwerdens der amerikanischen Geheimgefängnisse viele Afghanen die internationale Präsenz zunehmend als eine Besatzung wahrnahmen und sich den Taliban zuwandten. Es habe einige Zeitfenster gegeben, an denen mit den Taliban hätte verhandelt werden können.
Fünf Schlussfolgerungen aus zwanzig Jahren Afghanistan
Fünf Schlussfolgerungen aus zwanzig Jahren Afghanistan zog rückblickend Thomas de Maizière, 2005 bis 2009 Bundesminister für besondere Aufgaben und Chef des Bundeskanzleramtes, 2009 bis 2011 und 2013 bis 2018 Bundesminister des Innern sowie 2011 bis 2013 Bundesminister der Verteidigung. Die Alliierten hätten die militärische Stärke der Taliban und deren Fähigkeit sich zu reorganisieren unterschätzt. In Deutschland seien die Härten des Kampfeinsatzes in der Öffentlichkeit verdrängt worden. Der Bundeswehr seien Dinge zugemutet worden, die sie nicht habe erfüllen können. Man habe dem spezifischen Charakter des afghanischen Staatswesens mit seinen ethnischen, kulturellen und historischen Besonderheiten zu wenig Beachtung geschenkt. Und Deutschland habe sich über die Zeit des Einsatzes als Sicherheitsmacht international Respekt verschaffet.
Deutschland habe innerhalb der Nato dem sogenannten Comprehensive Approach zur Geltung verholfen und die Amerikaner wohl schon von einem Abzug zu einem früheren Datum abgehalten. Die Bundesrepublik sei überdies bei der Ausbildung der afghanischen Polizei federführend gewesen. Ein Problem, das sich hier stellte sei neben den zu geringen Personalzahlen, dass die Länder-Polizeien, deren Fähigkeiten eher gebraucht wurden als die der Bundespolizei, nicht so richtig hätten mitmachen wollen.
Die Zusammenarbeit der einzelnen Ressorts bei Auslandseinsätzen lasse sich vielleicht über die wöchentliche Staatssekretärsrunde hinaus in Zukunft mit einem nationalen Sicherheitsrat verbessern, in den sämtliche Fachministerien, über die Häuser für Auswärtiges, Verteidigung und Entwicklung hinaus, eingebunden wären, schlug de Maizière vor. „Heute wirken mehr Faktoren auf die Sicherheit ein als früher.“ Da brauche man die Expertise vieler anderer, die nicht zu den klassisch Sicherheitsressorts gehören. Die Abstimmung der internationalen Organisationen vor Ort sei unzureichend gewesen.
„Gemeinsam rein, gemeinsam raus“
Zum Ende der Afghanistan-Mission sagte der frühere Minister, „der bedingungslose Abzug war für uns besonders schwer.“ Man habe das schließlich mit den USA gemeinsam machen müssen, getreu dem Motto, „gemeinsam rein, gemeinsam raus“. „Die Bundeswehr war ohne amerikanische Hilfe außerstande abzuziehen.“
Eine häufig geforderte Exit-Strategie habe es nicht gegeben. Wenn man immer von vornherein eine Exit-Strategie verlange, gebe es fast keine internationalen Einsätze. „Das wissen Sie oft nicht.“ Ziel sei gewesen dafür zu sorgen, dass Afghanistan kein sicherer Hafen mehr für Terroristen ist. Die Verantwortung für die Sicherheit habe eines Tages in die Hände der Afghanen selbst gelegt werden sollen. Einen bedingungslosen Abzug wollte niemand. Die Lage habe sich dynamisch entwickelt.
„Diese geringe Wahrnehmung hat mich überrascht“
Die Terroranschläge von 2001 und der Afghanistan-Einsatz seien mindestens ebenso eine geopolitische Zeitenwende gewesen wie die von Bundeskanzler Scholz 2022 ausgerufene Zeitenwende, sagte Gerhard Schindler, 2012 bis 2016 Präsident des Bundesnachrichtendienstes. Aber der Afghanistan-Einsatz sei in Politik und Öffentlichkeit damals recht schnell Alltag geworden. „Diese geringe Wahrnehmung hat mich überrascht.“ Der BND habe kontinuierlich und umfassend aus dem Land heraus berichtet, an die Bundesregierung, das Kanzleramt, die Bundeswehr, in der Staatssekretärsrunde und in zahlreichen Einzelbriefings. Aber das Interesse seitens der politischen Führung an Nachrichten aus dem Krisengebiet sei auch nach der Zunahme von Anschlägen „niedrigschwellig gleich geblieben“.
Die sich ständig verschlechternde Sicherheitslage habe jedem klar vor Augen gestanden. Auf den präsentierten Landkarten wurde die von den Taliban kontrollierte Fläche immer größer, erinnerte sich Schindler. „Man konnte nicht auf die Idee kommen, dass sich irgendetwas positiv entwickelt.“ Seit 2015 habe sich die afghanische Armee nicht mehr durch genug Nachwuchs regenerieren können. Es sei bei den Kampfhandlungen deutlich geworden, dass sie ohne internationale Unterstützung nicht in der Lage gewesen sei, sich den Taliban zu stellen.
Auch die wirtschaftliche Lage habe ein wenig hoffnungsvolles Bild ergeben, so der frühere Geheimdienstchef. Es habe keine einzige positive Nachricht zu vermelden gegeben. „Dagegen florierte der Anbau von Schlafmohn“, Afghanistan sei damals für 98 Prozent der Weltproduktion verantwortlich gewesen. Die afghanische Volkswirtschaft habe am Tropf der internationalen Geldgeber gehangen und sei von Korruption zerfressen gewesen. Zu den Taliban und den Warlords sei das Land durch die organisierte Kriminalität „noch brandgefährlicher“ geworden.
Ein Land im Sinkflug
Insgesamt habe sich während seiner Zeit als Leiter der Behörde die Lage in Afghanistan als die eines Landes im Sinkflug dargestellt und die afghanische Gesellschaft den Eindruck einer verbreiteten Perspektivlosigkeit abgegeben. Der Aufwand für die Sicherheit vor Ort sei immer größer und sichtbarer geworden: Patrouillen, Stacheldraht, Sandsäcke überall, eine völlige Militarisierung des Straßenbildes.
Welchen Sinn das Engagement eigentlich machen sollte, „war nicht überzeugend zu beantworten“. Der Abwärtstrend sei mit den vorhandenen Mitteln nicht zu stoppen gewesen so seine Einschätzung. Schindler bemängelte die fehlende Exit-Strategie. Außerdem habe man nicht ausreichend verstanden, was in Pakistan vor sich gehe, wer dort gerade die Macht innehatte. „Das war immer ein weißer Fleck. Man wusste nicht, wie man in diesen Apparat hineinwirken sollte.“
Der BND habe sich darauf konzentriert die deutschen Kräfte vor Ort zu schützen. 19 konkrete Anschläge habe man verhindert. Für den Dienst sei der Afghanistan-Einsatz eine lehrreiche Zeit gewesen. Die Zusammenarbeit mit der Bundeswehr und dem Auswärtigen Amt sei problemlos gewesen. Das heutige selbstverständliche arbeitsteilige Zusammenwirken mit den anderen westlichen Diensten habe seinen Ursprung in Afghanistan. Zu Amerikanern und Briten habe es stets engste Kontakte gegeben. (ll/04.07.2023)