Zupke: Die Hälfte der Betroffenen des SED-Unrechts ist von Armut gefährdet
Die Erinnerung an den 17. Juni 1953 kann dabei helfen, die SED-Diktatur besser zu verstehen. Davon zeigte sich Evelyn Zupke, die Bundesbeauftragte für die Opfer der SED-Diktatur, im Interview mit dem Parlamentsfernsehen überzeugt. Als „größter Volksaufstand für Jahrzehnte“, habe die Massenerhebung vor 70 Jahren „für die gesamte Entwicklung in der DDR bis zur friedlichen Revolution eine große Bedeutung“ gehabt – nicht zuletzt, weil es bei den politisch Verantwortlichen die Angst ausgelöst habe, dass sich Ähnliches wiederholen könnte.
Der 17. Juni, der als Datum in der DDR offiziell keine Rolle gespielt habe und höchstens am Küchentisch thematisiert worden sei, sei heute ein Tag, um innezuhalten und an die Opfer der politischen Gewalt zu erinnern. Und das bedeute auch, Unterstützung zuzusichern. Denn „circa die Hälfte der Betroffenen des SED-Unrechts lebt an der Grenze zur Armutsgefährdung“, sagte Zupke. Ihre Vorschläge an die Politik hat sie konkret ausformuliert in ihrem jährlich erscheinenden Jahresbericht (20/7150), den sie bereits am Dienstag, 13. Juni 2023, an Bundestagspräsidentin Bärbel Bas übergeben hatte – drei Tage, bevor das Parlament im Rahmen einer Gedenkstunde an die Massenerhebung vom 17. Juni erinnert, an der sich rund eine Millionen Menschen beteiligt hatten und im Zuge derer gut 15.000 Menschen verhaftet wurden.
Jahresbericht der SED-Opferbeauftragten
Mit ihrem Bericht zeichnet Zupke ein Bild über die Lage der Opfer des SED-Unrechts heute. Unter dem Titel „70 Jahre DDR-Volksaufstand. An die Opfer der SED-Diktatur erinnern - die Betroffenen heute unterstützen“ informiert Zupke unter anderem über die Situation und unterbreitet diverse Vorschläge zur Verbesserung der sozialen Lage der Opfer der SED-Diktatur. Dazu gehört die Erhöhung und Dynamisierung der Opferrente, die Neuregelung des Verfahrens zur Anerkennung verfolgungsbedingter Gesundheitsschäden sowie die Schließung von Gerechtigkeitslücken in den SED-Unrechtsbeseitigungsgesetzen. Zudem wirbt Zupke für einen bundesweiten Härtefallfonds.
In ihrem Vorwort geht Zupke auf die Bedeutung des 17. Juni 1953 unter anderem für die Herrschenden und die Menschen in der DDR sowie für das gesamtdeutsche Erinnern ein. „Aus meiner Sicht hat der 17. Juni eine zentrale Botschaft, die bis in unsere Gegenwart reicht: Freiheit und Demokratie sind keine Selbstverständlichkeit! Die zerstörerische Kraft von Ideologien wirkte in unserer Geschichte. Und die zerstörerische Kraft von Ideologien wirkt in unserer Gegenwart“, schreibt die SED-Opferbeauftragte. Positiv bewertet sie, dass die Förderung für die Forschung zum SED-Unrecht verlängert worden sei. Auch dass es nun einen konkreten Standortvorschlag für das Mahnmal für die Opfer des Kommunismus gibt, hebt die Zupke hervor. Diese Punkte dürften aber nicht darüber hinwegtäuschen, „wie ernst die Lage vieler Opfer politischer Gewalt in der Sowjetischen Besatzungszone und der SED-Diktatur heute ist“. Um diese Lage zu verbessern, genüge in manchen Fällen eine Veränderung „kleinerer Stellschrauben“, in anderen Fällen sei eine Neuorientierung geboten.
Anerkennung verfolgungsbedingter Gesundheitsschäden
Letztes fordert Zupke bei der Anerkennung verfolgungsbedingter Gesundheitsschäden. Nur einem kleinen Teil der Betroffenen gelänge es, ihre verfolgungsbedingten Gesundheitsschäden anerkennen zu lassen, kritisiert die SED-Opferbeauftragte. Durch kleine Änderungen an den entsprechenden Gesetzen und Verordnungen in der Vergangenheiten seien für die Betroffenen „keine nennenswerten Verbesserungen“ eingetreten. Sie komme zu dem Schluss, dass das bisherige Verfahren „nicht nur einer Überarbeitung bedarf, sondern ein Wechsel zu einem grundsätzlich anderen Verfahren geboten ist“, schreibt sie.
Zupke problematisiert insbesondere, dass die Anerkennung der verfolgungsbedingten Gesundheitsschäden davon abhängt, „dass der ursächliche Zusammenhang zwischen dem heutigen Gesundheitsschaden und der Jahrzehnte zurückliegenden Repression belegt werden kann“. Sie plädiert stattdessen für eine Neuregelung, die sich an den Regelungen für die in den Auslandseinsätzen geschädigten Soldatinnen und Soldaten orientieren soll. Demnach soll beim Vorliegen definierter Krankheitsbilder, wie beispielsweise Posttraumatische Belastungsstörungen, und einer nachgewiesenen Repressionserfahrung, wie beispielsweise politische Haft oder Zersetzung, ein ursächlicher Zusammenhang als gegeben vorausgesetzt werden. Aus Sicht der SED-Opferbeauftragten würden so die Zugangshürden deutlich gesenkt und zugleich staatliche Stellen entlastet.
Schließung von Gerechtigkeitslücken
Die SED-Opferbeauftragte macht in dem Bericht auf die prekäre Situation vieler Opfer der SED-Diktatur aufmerksam. „Aufgrund ihrer eingeschränkten finanziellen Möglichkeiten geraten sie zunehmend an den Rand der Gesellschaft und sind an ihrer sozialen Teilhabe gehindert“, heißt es in dem Bericht. Zupke sieht dringenden Handlungsbedarf auch wegen der Preissteigerungen der vergangenen Jahre. Die von der Ampel-Koalition angekündigte Dynamisierung der Opferrente solle „zügig auf den Weg gebracht werden“. Zudem schlägt sie vor, die Zuwendung von monatlich 330 Euro vorher noch zu erhöhen. Zudem fordert Zupke, die bestehende Bedürftigkeitsregelung zu streichen und Opferrenten für Ehe- beziehungsweise Lebenspartnerinnen und -partner vererbbar zu machen. Ferner fordert die SED-Opferbeauftragte unter anderem, die Regelungen zur Absenkung der Ausgleichszahlungen für beruflich Verfolgte bei Renteneintritt abzuschaffen.
Zur Schließung von Gerechtigkeitslücken schlägt Zupke unter anderem vor, auch Opfer von Zersetzung außerhalb der ehemaligen DDR einzubeziehen. Zudem sollten auch Betroffene, die im ehemals kommunistischen Ausland in Haft waren, unter die Regelungen für Opfer fallen, die in der DDR in Haft waren. Eine Schlechterstellung dürfe es aus ihrer Sicht nicht geben. Zudem setzt sich Zupke dafür ein, dass eine Rehabilitierungsmöglichkeit für die Opfer des Zwangsdopings im Leistungs- und Freizeitsport geschaffen wird. Die SED-Opferbeauftragte begrüßt in dem Bericht, dass der Koalitionsvertrag von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP vorsieht, einen bundesweiten Härtefallfonds einzurichten. Mit diesem Härtefallfonds könne eine „Leerstelle“ gefüllt werden. So könnten viele Opfer der SED-Diktatur, die heute in Westdeutschland leben, nicht auf die bestehenden Härtefallfonds in den ostdeutschen Ländern zugreifen, die dort zur Unterstützung von SED-Opfern in besonderer wirtschaftlicher Notlage eingerichtet worden seien.
Weitere Themen des Berichts sind unter anderem die Aufarbeitung der Haftzwangsarbeit und die Stärkung von Aus- und Weiterbildungsprogrammen zu SED-Unrecht.
Kampf für die Rechte der Opfer
Die Bundesbeauftragte für die Opfer der SED-Diktatur unterstützt die Arbeit der Opferverbände und Organisationen, die die SED-Herrschaft aufarbeiten. Sie übt ihr Amt unabhängig aus, kämpft für die Rechte der Opfer und berät den Deutschen Bundestag bei Gesetzgebungsprozessen.
Neben der Forcierung der Aufarbeitung der Haftzwangsarbeit setzt sich Zupke außerdem für eine zügige Einrichtung eines bundesweiten Härtefallfonds ein, aus dem Opfer der SED-Diktatur, die sich wirtschaftlich in einer prekären Lage befinden, unabhängig von ihrem Wohnort schnelle und unbürokratische Unterstützung abrufen können. (ste/scr/16.06.2023)