Steinmeier: Der Wille zur Freiheit ist stärker als jede Diktatur
„Der 17. Juni ist ein Tag des Stolzes auf die Menschen in der damaligen DDR, die gegen die Diktatur aufbegehrten. Ein Tag der Freude über unsere in Freiheit und Vielfalt geeinte Republik, die 1989 Wirklichkeit wurde“, hat Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier am Freitag, 16. Juni 2023, in der Gedenkstunde zum Volksaufstand in der DDR vor 70 Jahren am 17. Juni 1953 vor dem Deutschen Bundestag gesagt. Der 17. Juni sei ein Tag des Zusammenhalts, „an dem wir uns bewusst machen, was uns in diesem Land verbindet und was wir jetzt stärken müssen“. Dieser Tag erinnere uns daran, „dass der Wille zur Freiheit stärker ist als jede Diktatur“.
Hunderttausende brachten im Juni 1953 den Mut auf, der SED-Diktatur die Stirn zu bieten. Der Aufstand stehe für den großen Willen der Menschen zur Freiheit und die tiefe Angst der Diktatur vor der Freiheit. Männer und Frauen aus allen Teilen der Gesellschaft hatten ihren Unmut über die Diktatur zum Ausdruck gebracht. „Was damals geschah, war eine Massenerhebung gegen die Diktatur. Ein Volksbegehren für die Demokratie.“ Mehr als fünfzig Menschen bezahlten für diesen Mut mit ihrem Leben – wurden erschossen, hingerichtet, erlagen ihren Verletzungen oder starben in Haft.
Anerkennung für die Männer und Frauen des 17. Juni
„Wir gedenken heute der Männer und Frauen des 17. Juni, die ihren Kampf für die Freiheit mit dem Leben bezahlten. All diese Menschen kämpften vor siebzig Jahren für ein Leben in Würde in einem geeinten Deutschland. Sie waren Vorkämpfer unserer heutigen Demokratie! Und bis heute sind sie Vorbilder für den Kampf gegen Unrecht und Unterdrückung“, sagte Steinmeier und betonte in seiner Rede die Bedeutung des Deutschen Bundestages als „die wichtigste Institution unserer in Freiheit geeinten Republik“. Dieses Parlament verkörpere jene politische Selbstbestimmung, für die die Menschen in der DDR im Juni 1953 auf die Straße gegangen waren. „Die politische Selbstbestimmung, die sie sich 1989 in der Friedlichen Revolution erkämpften und für alle Deutschen Wirklichkeit werden ließen.“
Der Bundespräsident bedauerte, dass den Männern und Frauen des 17. Juni die Aufmerksamkeit und die Anerkennung viel zu lange verwehrt geblieben sei, die ihnen gebühre. Der Volksaufstand sei ein herausragendes Ereignis der deutschen Freiheitsgeschichte und gehöre in eine Reihe mit der März-Revolution von 1848 und der Novemberrevolution von 1918. „Und er ist ein Vorläufer der Friedlichen Revolution“, so Steinmeier. Denn im Jahr 1989 hätten sich die Frauen und Männer in vielen Städten der DDR die Demokratie selbst erkämpft. „Sie haben das wahr werden lassen, wovon die Menschen 1953 nur träumen konnten. Und sie haben es möglich gemacht, dass wir heute in einem in Freiheit und Vielfalt geeinten Land leben“, sagte das Staatsoberhaupt. „Das ist und das bleibt ihr historisches Verdienst. Und darauf können, darauf sollten wir in ganz Deutschland stolz sein!“
Steinmeier: Stehen fest an der Seite der Ukraine
Bundespräsident Steinmeier spannte den Bogen von den Freiheitsbewegungen in Deutschland über die Freiheitsbewegungen in ganz Mittel- und Osteuropa zu den Bedrohungen in der heutigen Zeit. Frank-Walter Steinmeier verurteilte das „Großmachtstreben der Kreml-Diktatur“ unter Präsident Wladimir Putin. „Dieses Europa der Freiheit, für das so viele Menschen gekämpft, gelitten und ihr Leben gelassen haben, dieses Europa wird heute wieder bedroht“, sagte er. „Der Angriffskrieg, den Russland gegen die Ukraine führt, ist ein Angriff auf einen souveränen demokratischen Staat mitten in Europa. Dieser Krieg ist ein brutales Verbrechen an den Ukrainerinnen und Ukrainern.“ Dieser Krieg speise sich aus dem Großmachtstreben der Kreml-Diktatur und ihrer tiefen Angst vor der Freiheit.
Deshalb stehe Deutschland fest an der Seite der Ukraine. „Deshalb unterstützen wir die Menschen in der Ukraine, gemeinsam mit unseren Partnern“, sagte Steinmeier, „denn an diesem Jahrestag des 17. Juni denken wir auch an die Ukrainerinnen und Ukrainer, die heute gegen Unfreiheit und Unterdrückung kämpfen“. Gedacht werde allen, die an der Front ihr Leben einsetzen; die sich um Verletzte, Trauernde, Alte und Kinder kümmern; die das öffentliche Leben aufrechterhalten oder zerstörte Städte wiederaufbauen. „All diese Menschen brauchen unsere Unterstützung, sie alle setzen auf uns – lassen wir sie nicht im Stich“, sagte der Bundespräsident.
Bärbel Bas: Diktaturen vertragen keine freien Menschen
„Diktaturen vertragen keine freien Menschen“, hatte zuvor Bundestagspräsidentin Bärbel Bas vor dem Bundestagsplenum gesagt, „sie brauchen Untertanen, die gehorchen“. Die Botschaft des 17. Juni sei aber, dass sich gegen den Freiheitswillen der Menschen auf Dauer kein Staat aufbauen lasse. Für den Kampf um Selbstbestimmung und gegen staatliche Willkür gebühre den Frauen und Männern von damals „unser Respekt und unsere Dankbarkeit“, so die Parlamentspräsidentin.
Bas, die in ihrer Rede immer wieder auf die „brachiale Gewalt“ zu sprechen kam, mit der die SED auf die Massenerhebung reagiert hatte, nutze die Gelegenheit jedoch auch, um ein großes Panorama der jüngeren gesamtdeutschen Demokratiegeschichte nachzuzeichnen – angefangen beim Marsch von mehreren Hundert Bauarbeiterinnen und Bauarbeiter von der Stalinallee in Richtung Brandenburger Tor am 16. Juni 1953 über die friedliche Revolution von 1989, den Mauerfall bis hin zur Wiedervereinigung des geteilten Landes.
Gedenkort für die Opfer der SED-Diktatur
„1953 und 1989 gehören zum großen demokratischen Erbe, das die Menschen im Osten unseres Landes errungen haben“, sagte Bas in Richtung der Abgeordneten und geladenen Ehrengäste. Und betont fügte sie hinzu: „Es war ein Kampf, den die Deutschen im Westen nicht führen mussten.“ Zwar sei der 17. Juni fraglos ein Schlüsselereignis in der deutschen Geschichte, gleichwohl aber habe er „nicht den Platz in unserem historischen Gedächtnis, den er verdient“, so die Bundestagspräsidentin. Bis heute fehle etwa ein zentraler Gedenkort für die Opfer der SED-Diktatur und den Widerstand gegen die kommunistische Gewaltherrschaft, sagte sie.
Nun, so Bas, müsse dieser schnell verwirklicht werden. Das sei man den Verfolgten schuldig. Auf die Errichtung eines solchen Mahnmals hatte sich der Bundestag bereits in der letzten Wahlperiode verständigt, bis zuletzt blieb jedoch die Standortfrage unbeantwortet. Eindringlich appellierte Bas daran, ein gesamtdeutsches, gemeinsames Verständnis der Freiheitskämpfe von 1953 zu entwickeln. Seit der Wiedervereinigung habe man die Chance dazu – „wir sollten diese Chance stärker nutzen“, sagte sie.
Vortrag von Zeitzeugenberichten
Im Anschluss an die Ansprache der Bundestagspräsidentin führte Evelyn Zupke, SED-Opferbeauftragten beim Deutschen Bundestag, durch vier Augenzeugenberichte von Siegfried Keil, Helfried Dietrich, Karin Sorger und Frank Nemetz, die einen unmittelbaren Eindruck über die Geschehnisse gaben. Siegfried Keil erlebte den Volksaufstand am 17. Juni 1953 als 17-jähriger Schlosserlehrling in den Leuna-Werken. Severin Koerner von Gustorf sprach stellvertretend für den Zeitzeugen, der 1950 als Vierzehnjähriger seine Ausbildung im Chemiewerk Leuna begonnen hatte und im Jahr 1954 wegen kritischer Äußerungen zur Volkskammerwahl verhaftet und wegen sogenannter „Boykotthetze“ zu eineinhalb Jahren Haft und Zwangsarbeit verurteilt worden war.
Die Erinnerungen von Helfried Dietrich trug Jonas Pietschmann vor. Helfried Dietrich war zwölf Jahre alt und lebte in Eisleben, als der Volksaufstand ausbrach. Er arbeitete viele Jahre in einem Volkseigenen Betrieb des Chemieanlagenbaus. 1986 stellte er mit seiner Familie einen Ausreiseantrag, der nach dreieinhalb Jahren und ständigen Schikanen genehmigt wurde. Der Bericht der Zeitzeugin Karin Sorger wurde von Zelal Tekin vorgetragen. Karin Sorger war damals 14 Jahre alt und Schülerin in Magdeburg. Sie wurde später Ärztin und lehnte einen Anwerbeversuch als Inoffizielle Mitarbeiterin der Stasi ab. 1977 scheiterte ihr Versuch, zu fliehen. Sie wurde verurteilt, saß im Frauenzuchthaus Hoheneck und gelangte im Rahmen des Häftlingsfreikaufs in die Bundesrepublik.
Persönlich erzählte Frank Nemetz, der 1953 neun Jahre alt war, von seinen Erlebnissen während des Aufstands. Sein Vater kam am 17. Juni nachts nach Hause und berichtete ihm alles über die Ereignisse in Leipzig, nachdem „zehntausende Demonstranten“ in der Stadt gewesen waren. Viele hätten versucht, die Staatsanwaltschaft und die Stasihaftanstalt zu erstürmen. „Sie wollten die politischen Häftlinge befreien.“ Dabei wurde der 19-jährige Gießer Dieter Teich erschossen. Im Herbst 1989 beteiligte sich Nemetz an den Montagsdemonstrationen in Leipzig. Seither engagiere er sich für ehemalige politische Gefangene.
Tonmitschnitt einer Betriebsversammlung
Auf die Zeitzeugenberichte folgte ein zeitgenössischer Tonmitschnitt einer Betriebsversammlung des Elektromotorenwerks in Wernigerode am 18. Juni 1953. Die Aufzeichnung der Belegschaftsversammlung im Werk spiegelt die hitzigen Debatten und Emotionen als ein einzigartiges Zeitdokument wider. Die Diskussionen stehen exemplarisch für zahlreiche andere derartige Versammlungen in der DDR rund um den 17. Juni 1953. In der Kreisstadt Wernigerode im Harz entfaltete sich der Volksaufstand am 18. Juni. Im Elektromotorenwerk legte die Belegschaft die Arbeit nieder. Der zufällig am 17. Juni neu eingesetzte Werkleiter wollte die angespannte Situation entschärfen und berief für den Morgen des 18. Juni eine Belegschaftsversammlung ein. Die Veranstaltung verlief zum Teil tumultartig. Der Werkleiter wollte die Arbeiter beruhigen, scheiterte aber an der aufgeheizten Stimmung und der Dynamik der Ereignisse. Kurz nach Beginn der Versammlung marschierten etwa vierzig Arbeiter in den Saal ein. Sie führten ein Schild mit, auf dem sie sich mit den streikenden Arbeitern in Berlin solidarisch erklärten. Mitten in die Versammlung kam die Nachricht, dass das sowjetische Militär den Ausnahmezustand auch über Wernigerode verhängt hatte. Eine Demonstration, wie von Teilen der Belegschaft gefordert, war damit lebensgefährlich geworden.
Die Gedenkstunde endete mit der Nationalhymne intoniert durch das Blechbläserquintett der Universität der Künste Berlin mit Sayaka Matsukubo und Hagai Eitan Rozenberg an den Trompeten, Bar Zemach am Horn, Pedro Marques de Almeida Unkart an der Posaune und Jesús Grande Ruiz an der Bassposaune. (ste/eis/16.06.2023)