Plenarprotokoll zu den Zeitzeugenberichten in der Gedenkstunde zum 70. Jahrestag des Volksaufstandes in der DDR am 17. Juni 1953
Evelyn Zupke, Bundesbeauftragte für die Opfer der SED-Diktatur:
Siegfried Keil. - Siegfried Keil erlebte den Volksaufstand am 17. Juni 1953 als 17-jähriger Schlosserlehrling in den Leuna-Werken.
Severin Koerner von Gustorf in der Rolle des Zeitzeugen Siegfried Keil:
1950 begann ich als 14-Jähriger meine Ausbildung als Schlosserlehrling im ehemaligen Chemiewerk Leuna. Eine Lehrwerkstatt stand damals nicht zur Verfügung, und wir wurden verschiedenen Schlossereibereichen des Werkes zugeordnet. Im Kraftwerk- und Kompressorenbereich wurden große Maschinen demontiert, und laut den Festlegungen der russischen Besatzungsmacht wurden alle Teile auf bereitgestellte Eisenbahnwagen verladen und als Reparation nach Russland transportiert. Die Festlegungen der russischen Werksleitung waren für alle Bereiche bindend. Im dritten Lehrjahr wurden wir in verschiedenen Schlosserwerkstätten im Reparatursektor eingesetzt. So konnten wir die Forderungen der Arbeiter auf bessere Lebensbedingungen miterleben, und die Unzufriedenheit über die hohen Arbeitsnormen nahm rapide zu.
Am Morgen des 17. Juni musste sich unser Klassenteam vor der Feuerwache treffen, und wir wurden von unserem Lehrmeister informiert, wir gehen nun geschlossen unter seiner Leitung zur Hauptverwaltung des Chemiewerks und stürzen den dortigen russischen Generaldirektor.
Vor dem Hauptgebäude wurde auf dem Balkon die russische Werksleitung mit dem Generaldirektor vorgeführt, und die Menschenmenge der Leuna-Arbeiter war aufgebracht. Sie verlangten Reformen und Veränderungen in den Führungspositionen. Unser Klassenteam war mittendrin im Gedränge, und plötzlich merkten wir: Unser Lehrmeister ist verschwunden.
Wir Lehrlinge schlossen uns den Demonstranten an, und die Menschenmasse setzte sich circa 8 Kilometer in Richtung Merseburg in Bewegung. Die Demonstranten waren im Wesentlichen friedlich und brachten mit Transparenten und Buhrufen ihre Forderungen zum Ausdruck.
Wir jungen Mitläufer wurden schon beobachtet und als Störenfriede registriert.
Abends traten wir die Heimreise ins Elternhaus an. Es war schwierig, alles erst einmal aufzuarbeiten. Meine Eltern konnten mir damals auch nicht wirklich weiterhelfen.
Der nächste Tag stand vor der Tür, und auf der Fahrt nach Leuna konnte niemand vorher einschätzen, was uns so erwartete. Das Leuna-Werk war zu dieser Zeit das größte Werk in der DDR mit circa 29 000 Beschäftigten.
Die gesamte Straßenseite von 10 Kilometern Länge war mit russischen Panzern und bewaffneten Polizeikräften abgesperrt, wir bekamen Angstgefühle. Der Werkseingang war möglich, aber die Tore waren bis zum Feierabend verriegelt. So etwas hatten wir und auch die Arbeiter noch nie erlebt. Erst gegen Abend wurde vereinzelt der Panzerabzug organisiert. Im Werk selbst waren noch bewaffnete Polizeikräfte im Einsatz, und viele Verhaftungen folgten nach diesem Volksaufstand.
Von unserem inhaftierten Lehrmeister haben wir nie wieder etwas gehört.
(Beifall)
Evelyn Zupke, Bundesbeauftragte für die Opfer der SED-Diktatur:
Siegfried Keil wurde 1954 wegen kritischer Äußerungen zur Volkskammerwahl verhaftet und wegen sogenannter „Boykotthetze“ zu eineinhalb Jahren Haft und Zwangsarbeit verurteilt. Eine Wiedereinstellung in Leuna war für ihn als ehemaliger politischer Häftling nicht möglich.
Er lebt heute in Bendorf, Rheinland-Pfalz, und ist heute - wie die anderen Zeitzeugen - unser Gast.
(Beifall)
Helfried Dietrich. - Helfried Dietrich war zwölf Jahre alt und lebte in Eisleben, als der Volksaufstand ausbrach.
Jonas Pietschmann in der Rolle des Zeitzeugen Helfried Dietrich:
Das Mansfelder Land am Südrand des Harzes und seine Kreisstadt Eisleben, die Stadt, in der Martin Luther zwar nicht sehr lange gelebt hat, aber geboren und auch gestorben ist, war seit rund acht Jahrhunderten vom Kupferbergbau und von der dazugehörigen Hüttenindustrie geprägt. Die harte Arbeit hat über die Jahrhunderte auch den Menschenschlag geformt. Der Umgangston in dieser Arbeiterregion ist direkt, manchmal rau. Es war deshalb nicht überraschend, dass sich gerade dort in den frühen Jahren der DDR Unmut über steigende Arbeitsnormvorgaben, geringe Kaufkraft und schlechte Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs lautstark artikulierte.
Am 16. Juni 1953, einem Dienstag, sagte der Tankwart zu einem Kunden an einer Tankstelle: „Mache deinen Tank noch einmal richtig voll. Wer weiß, wann du wieder Benzin bekommst, ab morgen ist der Generalstreik ausgerufen. In der Stalinallee in Berlin streiken die Bauarbeiter heute schon.“
Ich weiß nicht mehr, ob wir am 17. Juni überhaupt Schule hatten, ich glaube, die Lehrer streikten auch, jedenfalls sind wir gleich wieder heimgeschickt worden. Schon am Vormittag hatte ich gemeinsam mit einem Freund die Vorgänge in der Stadt, zunächst am Marktplatz, selbst beobachtet. Für einen zwölfjährigen Jungen waren das natürlich sehr aufregende und auch prägende Ereignisse. Sehr gut in Erinnerung ist mir noch, dass am späten Vormittag auf dem Marktplatz eine heftige, ereignisreiche Demonstration stattfand. Die „Normuhr“, ein großes Holzgerüst im Rücken des Lutherdenkmals unmittelbar vor dem Eingang des Rathauses, lag in Trümmern. Auf ihr waren großformatig besondere Arbeitsleistungen und Normerfüllungen gepriesen worden.
Es gab Losungen auf handgemalten Transparenten wie „Runter mit den Normen“ und „Runter mit den Preisen“. Von freien Wahlen war auch die Rede. Besonders haften geblieben ist mir die Losung „Der Spitzbart muss weg“. Ich musste mich erst einmal erkundigen, wer damit gemeint war. Es ging um Walter Ulbricht, den Generalsekretär des Zentralkomitees der SED.
Das Gebäude der SED-Parteileitung im Mansfeld-Kombinat war gestürmt worden. Die Straße war voll mit Akten, Schreibmaschinen und Mobiliar, das aus den oberen Etagen geworfen worden war. Ein ähnliches Bild bot auch die Kreisparteileitung der SED.
Am nächsten Tag waren russische Soldaten mit Panzern da, die mit ein paar Schüssen aus der Maschinenpistole in die Luft schnell für eine Beendigung der Demonstrationen sorgten. Es gab zahlreiche Verhaftungen, manchmal aus nichtigem Anlass.
(Beifall)
Evelyn Zupke, Bundesbeauftragte für die Opfer der SED-Diktatur:
Helfried Dietrich arbeitete viele Jahre in einem Volkseigenen Betrieb des Chemieanlagenbaus. 1986 stellte er mit seiner Familie einen Ausreiseantrag, der erst nach dreieinhalb Jahren und ständigen Schikanen genehmigt wurde.
Seit über 20 Jahren ist er selbstständig und betreibt eine Firma für Maschinen- und Anlagenbau in Norderstedt, Schleswig-Holstein.
(Beifall)
Karin Sorger. - Karin Sorger war 1953 14 Jahre alt und Schülerin in Magdeburg.
Zelal Tekin in der Rolle der Zeitzeugin Karin Sorger:
Im Juni 1953 übte ich für die Abschlussprüfungen der Grundschule, die in der DDR nach acht Jahren erfolgten. Ich lernte für die Geschichtsprüfung den Kapp-Putsch. Gerade war ich bei dem Satz „Die Arbeiter streikten“ angekommen, als mein Stiefbruder die Tür aufriss und mit den Worten „Karin, sie streiken!“ hereingestürzt kam.
Ich schnappte mein Fahrrad und fuhr in die Richtung der Hauptstraße, um zu sehen, was los war.
Wir wohnten in einem kleinen Reihenhaus an der Peripherie von Magdeburg, etwa 7 Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Auf der Hauptstraße kamen mir russische Panzerspähwagen entgegen. Die Russen waren in den umliegenden Wäldern stationiert, und normalerweise bekamen wir sie nicht zu Gesicht. Dieses Aufgebot an Kriegsmaterial flößte mir solche Angst ein, dass ich schleunigst umdrehte und nach Hause zurückkehrte, zumal mein Vater nicht wusste, dass ich unterwegs war.
Erst vor wenigen Jahren erfuhr ich, dass zur selben Zeit wie ich der 15-jährige Schlosserlehrling Paul Ochsenbauer in Leipzig in die Innenstadt gefahren war und am Abend nach Ausrufung des Ausnahmezustands festgenommen worden war, weil er ein Plakat abgerissen haben sollte.
Er ist an unbekanntem Ort erschossen worden, und den Eltern wurde erst Tage später mitgeteilt, dass ihr Sohn angeblich verunglückt sei. Sie konnten nur noch die Urne in Empfang nehmen.
Am Abend hörten wir dann im RIAS, dass die Arbeiter in Berlin und anderen großen Städten wie Leipzig, Halle, Bitterfeld, Magdeburg, Dresden und Görlitz streikten und neben einer Verbesserung der Lebensbedingungen die Rücknahme der staatlich verordneten Normerhöhungen im Baugewerbe, den Rücktritt der SED-Führung unter Walter Ulbricht, die Freilassung der politischen Gefangenen, freie Wahlen und die Einheit Deutschlands in Freiheit forderten.
Ein Arbeiteraufstand passte so gar nicht in das Bild des ersten „Arbeiter- und Bauernstaates“ auf deutschem Boden, das von der SED entworfen worden war.
Unsere Prüfungen wurden um einige Tage verschoben, doch im September begann der Unterricht in der Oberschule „Geschwister Scholl“, die ich nun besuchte, als sei nichts gewesen.
(Beifall)
Evelyn Zupke, Bundesbeauftragte für die Opfer der SED-Diktatur:
Karin Sorger wurde Ärztin und lehnte einen Anwerbeversuch als inoffizielle Mitarbeiterin der Staatssicherheit ab. Die Vorstellung, von einem allmächtigen Parteiapparat überwacht und reglementiert zu werden, war für sie unerträglich. 1977 scheiterte ihr Versuch, mit ihrer achtjährigen Tochter über die Transitstrecke zu fliehen. Sie wurde verurteilt, saß im Frauenzuchthaus Hoheneck und gelangte erst im Rahmen des Häftlingsfreikaufs in die Bundesrepublik. Vier Monate später durfte sie ihre Tochter nachholen.
Frau Dr. Sorger habilitierte sich an der Universität Mainz und wurde 1987 zur Universitätsprofessorin ernannt. Sie lebt heute in Baden-Baden.
(Beifall)
Bevor nun ein zeitgenössisches Tondokument folgt - der Mitschnitt einer Betriebsversammlung des Elektromotorenwerks in Wernigerode am 18. Juni 1953 -, hören wir den Zeitzeugen Frank Nemetz.
Zeitzeuge Frank Nemetz:
Mein Name ist Frank Nemetz. 1953 war ich neun Jahre alt. An die zwei einschneidenden Ereignisse dieses Jahres kann ich mich noch sehr gut erinnern: Es waren der Tod Stalins im März 1953 und der Aufstand am 17. Juni 1953.
Der 17. Juni war ein schöner Sommertag, und am Vormittag war es in Leipzig noch sehr ruhig. Doch irgendetwas lag in der Luft. Die letzten Tage vor dem 17. Juni waren doch schon etwas seltsam gewesen.
Am 17. Juni ging mein Vater früh aus dem Haus. Ich hatte ein mulmiges Gefühl, weil durchgedrungen war, dass die Straßen gesperrt waren. Wir Kinder gingen trotzdem hinaus, um herauszufinden, was draußen los war. Ich sah, wie die sowjetischen Panzer mit lautem Gedröhne durch die Waldstraße in Richtung Zentrum fuhren. Sie kamen aus Gohlis, wo sie in einer ehemaligen Wehrmachtskaserne stationiert waren. Ich hatte natürlich Angst um meinen Vater, der sich in der Stadt aufhielt. Mein Vater arbeitete im VEB Metallgußwerk Leipzig.
Als mein Vater am 17. Juni 1953 nachts nach Hause kam, war ich sehr erleichtert. Er erzählte mir alles, was sich in der Innenstadt ereignet hatte: Zehntausende Demonstranten waren in der Stadt. Viele hatten versucht, die Staatsanwaltschaft und die Stasihaftanstalt in der Beethovenstraße zu erstürmen. Sie wollten die politischen Häftlinge befreien.
Vor dem Gericht befanden sich sowjetische Soldaten und feuerten Warnschüsse ab, damit die Arbeiter nicht in das Untersuchungsgefängnis gelangten. Bei dem erneuten Ansturm auf das Gefängnis feuerten dann Volkspolizisten und Stasioffiziere auf die Menschen. Dabei wurde der 19-jährige Gießer Dieter Teich erschossen. Der Tote wurde in einem Schweigemarsch von den Demonstranten durch die Stadt getragen. Auf dem Markt wurde der Pavillon der Nationalen Front in Brand gesetzt.
Am nächsten Tag ging ich auf den Markt und sah mir den abgebrannten Pavillon an. Die Panzer waren aus dem Stadtbild verschwunden.
Im Januar 1968 wurde ich wegen Beihilfe zur Planung einer Republikflucht zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt.
Im Herbst 1989 habe ich mich an den Montagsdemonstrationen in Leipzig beteiligt. Seither engagiere ich mich für ehemalige politische Gefangene. Heute bin ich der Vorsitzende des Landesverbandes Sachsen der Vereinigung der Opfer des Stalinismus.
(Beifall - Die Anwesenden erheben sich)
Evelyn Zupke, Bundesbeauftragte für die Opfer der SED-Diktatur:
Es folgt nun das bereits angekündigte zeitgenössische Tondokument. Es ist der Mitschnitt einer Betriebsversammlung des Elektromotorenwerks in Wernigerode am 18. Juni 1953.
(Akustische Einspielung des zeitgenössischen Tondokuments)